H.-P. Ullmann: Der Deutsche Steuerstaat

Cover
Titel
Der Deutsche Steuerstaat. Eine Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute


Autor(en)
Ullmann, Hans-Peter
Reihe
Beck'sche Reihe 1616
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael A. Kanther, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Sozial- u. Wirtschaftsg, Ruhr-Universität Bochum

Hans-Peter Ullmann, der Autor der ersten Überblicksdarstellung der deutschen Steuergeschichte der Neuzeit, ist seit langem als Fachmann für die Finanzgeschichte ausgewiesen. Sein Versuch, die Entstehung und Entwicklung des Steuerstaates – d.h. des modernen Staates, der seine Tätigkeit größtenteils aus den Erträgen von Steuern und Zöllen finanziert – für Deutschland darzustellen, ist ihm gelungen. HistorikerInnen haben bisher nur einzelne Abschnitte der Geschichte des deutschen Steuerstaates untersucht, etwa die Anfänge im 18. Jahrhundert oder die Weimarer Zeit. Ullmann geht es um die Analyse langfristiger Wandlungsprozesse bei den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben und bei der Struktur der Haushalte, etwa das Wachstum der Staatsausgaben, die Entwicklung der Verschuldung von einem subsidiären zu einem regulären staatlichen und kommunalen Finanzierungsmittel und der Bedeutungszuwachs der Finanzpolitik als Mittel sozialpolitischer Gestaltung („Umverteilung“). In einer Langzeit-Studie wird nachvollziehbar, wie es dazu kommen konnte, dass in Deutschland um das Jahr 2000 der Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik, der Bildungsbereich und der Infrastrukturausbau zusammen zwei Drittel und die Verwaltung, die Justiz und das Militär ein Drittel der Staatsausgaben absorbierten, nachdem um 1800 noch zwei Drittel der Ausgaben dazu gedient hatten, die Staaten nach außen zu sichern und im Inneren zu verwalten, und das übrige Drittel in den Infrastruktur-Ausbau, das Bildungswesen und den Wohlfahrtssektor geflossen war (S. 223f.). Ein zentraler Untersuchungsgegenstand sind auch die finanzrechtlichen Beziehungen zwischen dem jeweiligen Gesamtstaat (altes und neues Reich, Bundesrepublik und DDR), den Einzelstaaten und den Gemeinden („föderales Finanzsystem“).

Von den Institutionen des Steuerstaates betrachtet der Autor die Regierungen und die Parlamente, wogegen er die Finanzverwaltung – deren Einbeziehung freilich wegen der Vielzahl der deutschen Einzelstaaten mit unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen bis 1919 eine drei Jahrhunderte abdeckende Darstellung gesprengt hätte – nur streift (S. 16f., 53ff., 177f., 227). Ein theoretisches Konzept für die Untersuchung findet Ullmann bei der Historischen Schule der Nationalökonomie um Gustav Schmoller und bei der in den 1920er-Jahren von Rudolf Goldscheid und Joseph A. Schumpeter begründeten Finanzsoziologie. Von besonderem Interesse sind für ihn Zeitabschnitte, in denen Gesetzesnorm und Steuerwirklichkeit erheblich auseinanderklafften, z.B. die frühe Weimarer Zeit, oder „Wendeepochen“ (Schumpeter) wie die Reichsgründung 1871, die Erzbergersche Finanzreform von 1919/20 und die Durchsetzung der fiscal policy in den 1960er-Jahren. Die LeserInnen vermisst Grafiken, wird dagegen mit Zahlen reichlich versorgt. Zwei von fünf Hauptkapiteln behandeln die Zeit von 1700 bis zum Kriegsende 1918, je eines die Weimarer Zeit, die NS-Zeit und die Nachkriegszeit.

Weil das Heilige Römische Reich kein Staat im neuzeitlichen Verständnis des Begriffes war, konnte sich ein modernes Finanzsystem nur in den fortschrittlicheren Einzelstaaten ausbilden, die tatsächlich Staatscharakter hatten, z.B. Österreich, Brandenburg-Preußen und Bayern. Bis ins 18. Jahrhundert hatten die Landesherren Steuern nur in bestimmten Notsituationen erhoben und die Kosten der Regierung normalerweise aus den Einkünften aus Domänen (Erwerbseinkünfte), Zöllen und Monopolen bestritten. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts bauten viele Staaten ihr Steuerwesen aus – insbesondere die Verbrauchs- und Verkehrssteuern (indirekte Steuern) – und konnten auch höhere Einnahmen erzielen. Um 1800 dürften in den meisten Flächenstaaten des Alten Reiches die Steuern etwas mehr als die Hälfte der Staatseinnahmen ausgemacht haben (S. 19ff.). Die Erwerbseinkünfte spielten weiterhin eine große Rolle, und nachdem in der zweiten Jahrhunderthälfte die Ausgaben für Militär, Verwaltung und Hofhaltung schneller als die Einnahmen wuchsen, wurde die Verschuldung an den Kapitalmärkten als dritte Finanzierungsquelle immer wichtiger.

Grundstürzende Reformen der Finanzwirtschaft erfolgten erst in der politischen Umbruchzeit zwischen 1795 und 1815. Nach Überwindung der fast überall chaotischen Verhältnisse um 1800 modernisierten die deutschen Staaten mit unterschiedlichem Erfolg ihre Finanzwirtschaften und schufen Fachbehörden zur Verwaltung ihrer Schulden, was die Kreditwürdigkeit erhöhte (S. 21f., 25ff., 37). Die Reformen brachten erhebliche Mehreinnahmen, weshalb die Tilgung von Schulden möglich wurde. Bis um 1850 war die finanzielle Lage der meisten deutschen Staaten relativ günstig, dann zwangen höhere Ausgaben für das Militär und den staatlichen Eisenbahnbau zu neuer Verschuldung, während der Fiskus nicht in vollem Umfang am Wachstum der Wirtschaft teilhatte. Als ertragreiche „Steuer der Zukunft“ wurde in den industrialisierten Staaten Europas mit ihrem immer wohlhabender werdenden Bürgertum allmählich die in Großbritannien entwickelte Einkommenssteuer erkennbar. Preußen führte 1851 eine Vorform dieser späteren „Königin der Steuern“ ein; eine Reinform, ergänzt um eine Vermögenssteuer, kam nach anhaltendem Widerstand Bismarcks erst vier Jahrzehnte später. In den wirtschaftlich weiter entwickelten deutschen Staaten schichteten die Finanzpolitiker die Abgabenlast allmählich von den Schultern der Landwirtschaft auf die der Industrie um.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 entstand ein dreistufiges Finanzsystem (Reich, Bundesstaaten und Gemeinden), dessen Geburtsfehler und Entwicklungsprobleme von Ullmann leicht verständlich behandelt werden. Bei der Verteilung der Einnahmequellen traten die Bundesstaaten dem Reich jedoch weniger ab, als es zur Erfüllung seiner Aufgaben (Auswärtige Politik, Militärwesen, Postwesen u.a.) benötigte; die ergiebigen Personal-, Besitz- und Ertragssteuern blieben in der Hand der Bundesstaaten. Obwohl die Verfassung die Einführung direkter Reichssteuern freistellte, konnte sich das Reich erst 1906 – nach 35 Jahren – mit einer Erbschaftssteuer eine eigene direkte Steuer schaffen. Um überhaupt handlungsfähig zu sein, bedurfte das Reich der Unterstützung durch die Einzelstaaten in Form Matrikularbeiträge. Versuche des Reiches, die eigene finanzielle Basis durch den Ausbau der Verbrauchssteuern und die Erhöhung von Zöllen zu vergrößern, waren nicht ganz fruchtlos, stießen jedoch stets irgendwann auf die Missgunst der Einzelstaaten, die ihre Partizipation an den Mehreinnahmen von einer bestimmten Ertragshöhe an durchsetzten. Das Problem des föderalen Finanzausgleichs wurde bis 1918 nicht gelöst.

Ullmann untersucht für die Kaiserzeit und die folgenden Epochen auch die Finanzwirtschaft der Gemeinden, die seit 1870, verstärkt seit 1895 große Investitionen zum Aufbau einer zeitgemäßen Leistungsverwaltung tätigen und, weil auch ihre Einkünfte aus kommunalen Steuern, den Erträgen eigenen Vermögens und Gebühren nicht mehr genügten, Kredite aufnehmen mussten. In Preußen überließ die nach dem Finanzminister benannte Miquelsche Finanzreform (1891-93) nach der Einführung einer modernen Einkommenssteuer im größten deutschen Einzelstaat den Gemeinden die Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer.

Durch die Einführung moderner Personalsteuern (Einkommens- und Vermögenssteuern) in den meisten deutschen Flächenstaaten bis 1918 stieg die Belastung der höheren und mittleren Einkommensbezieher. War das Ausmaß der Besteuerung der unteren Bevölkerungsschichten schon im 19. Jahrhundert häufig thematisiert worden, so begann um 1900 eine rege öffentliche Debatte über die Steuerlast auch der mittleren und höheren Schichten und die Problematik der Steuerhinterziehung (S. 53ff., 80ff.). Etwa zur selben Zeit hörte man erstmals rechts von der SPD, so von dem Ökonomen Adolph Wagner, die Forderung, der Staat solle die Besteuerung auch als ein Mittel der Sozialreform einsetzen (S. 84). Von „horizontaler“ und „vertikaler“ Steuergerechtigkeit blieben, wie Ullmann zeigt, die Verhältnisse im Deutschland der Kaiserzeit weit entfernt (S. 82ff.); allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Gesamtbelastung der Steuerzahler mindestens bis 1914 erheblich unter der Belastung in der Weimarer Zeit lag.

Die intensive Flottenrüstung seit 1898 brachte die Finanzen des Reiches in eine unhaltbare Lage. Wenn es sich nicht in horrendem Umfang verschulden wollte, musste es den Widerstand der Bundesstaaten gegen einen Ausgriff auf den Bereich der Personalsteuern brechen, was schließlich gelang. Nach der wenig einbringenden Erbschaftssteuer von 1906 kamen mit der Besitzsteuer von 1913 und dem Wehrbeitrag, einer seit 1914 in drei jährlichen Raten erhobenen einmaligen Einkommens- und Vermögensabgabe zur Deckung der 1913 beschlossenen Rüstungsausgaben, sehr spät doch noch relativ ergiebige direkte Reichssteuern zustande. Als 1915 die zweite Rate des Wehrbeitrags fällig wurde, befand sich Deutschland bereits im Krieg. Ullmann erläutert das System der Finanzierung der Kriegführung durch eine Kombination von langfristigen Anleihen, kurzfristigen Krediten, Geldschöpfung und Steuern. Die 1916 als Reichssteuer eingeführte allgemeine Umsatzsteuer und neue Verbrauchssteuern brachten jedoch nicht den erhofften Mittelzuwachs. Weil die Anleihen und die übrigen Kredite in ihrem Umfang den Anteil der Steuern weit übertrafen, begann ein zunächst nur von Fachleuten erkannter inflatorischer Prozess.

Die erste deutsche Republik, der sich der Autor im Kapitel III zuwendet, hatte extreme finanzielle Belastungen durch die Reparationen und die Kriegsfolgekosten zu tragen. Die Weimarer Reichsverfassung und die Erzbergersche Finanzreform von 1919/20 nahmen den Ländern den größten Teil ihrer Macht und kehrten die bis 1919 gegebenen Verhältnisse um. Die Bundesstaaten mussten die ertragreiche Lohn- und Einkommenssteuer an das Reich abtreten, welches dafür den Finanzausgleich ausbaute. Die Reform schuf auch eine reichseinheitliche Finanzverwaltung mit dem Finanzamt als lokaler Behörde. Der dem linken Flügel der Zentrumspartei angehörende Reichsfinanzminister Matthias Erzberger wollte über eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen auch Vermögen „umverteilen“, d.h. mehr soziale Gerechtigkeit schaffen. Das Hauptziel der Reform, die Sanierung der Reichsfinanzen, wurde jedoch bis 1925 wegen extremer Kapitalflucht, Steuerhinterziehungen größten Ausmaßes und den Folgen der Hyperinflation seit dem Sommer 1922 nicht erreicht.

Ullmann weist nach, dass der Handlungsspielraum der Reichsregierung und des Reichstages bei der Stabilisierung der öffentlichen Finanzen zwischen 1919 und dem Höhepunkt der Inflation 1923 größer war, als die Forschung lange Zeit angenommen hat (S. 100f.). Erst nach der Währungsreform von 1924 konnten sich die Steuersätze auch bei den hohen Einkommen und großen Vermögen voll auswirken. Auf der Ausgabenseite wurde, entsprechend den Programmzielen der Koalitionsparteien SPD und Zentrum, der Wohlfahrtssektor ausgebaut und der Wohnungsbau gefördert; die Länder investierten in das Schul- und Hochschulwesen. Drei „gute“ Etatjahre mit Haushaltsüberschüssen (1925/26 bis 1927/28) verschafften der Reichsregierung etwas Erleichterung. Doch trotz der Steigerung der Steuereinnahmen kamen Reich, Länder und Gemeinden nicht umhin, sich – seit 1926 – weiter zu verschulden.

In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre erlebte Deutschland eine Debatte über Steuerlast und öffentliche Ausgaben, die während der Weltwirtschaftskrise geradezu heißlief. Allgemein wurde, weil man die jeweilige eigene Lage mit den Verhältnissen der Vorkriegszeit verglich, die Steuerlast als zu hoch empfunden und darüber geklagt. Die für die Weimarer Zeit charakteristischen, wenn auch kein Massenphänomen darstellenden gewalttätigen Steuerproteste – meist in Form einer Stürmung eines Finanzamtes und der Vernichtung von Akten – erwähnt Ullmann nicht. Wegen vielfacher Abschreibungsmöglichkeiten war die Steuerlast für die Wirtschaft weniger schwer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag; in den Steuerverhandlungen zwischen Unternehmen und lokalen oder regionalen Finanzbehörden ließ sich manche Vereinbarung erzielen. Doch die Wirtschaftsverbände forderten seit 1925/26 immer wieder eine Reduzierung der Sozialausgaben als Voraussetzung einer entsprechenden steuerlichen Entlastung der Unternehmen.

Die Entwicklung der Staats- und Gemeindefinanzen während der Weltwirtschaftskrise behandelt Ullmann im Kontext der seit zwei Jahrzehnten anhaltenden „Borchardt-Kontroverse“, die sich um die Frage bewegt, welche finanzpolitischen Möglichkeiten Reichskanzler Heinrich Brüning und seine Minister in den Jahren 1930-32 hatten und ob sie, falls es mehr als eine Option gab, die „richtige“ wählten (S. 139f.). Unstreitig scheint inzwischen zu sein, dass die starke Verschuldung des Reiches, die weitere Kreditaufnahmen unmöglich machte, und die Priorität der Reparationszahlungen vor der Bedienung der kommerziellen Schulden seit dem Young-Plan (1930) keine Mittel für eine konjunkturfördernde Fiskalpolitik übrig ließen. Die Sanierung der Reichsfinanzen gelang bis zum Ende der Republik nicht, doch ging es den Ländern und vor allem den zu beispiellosen Sparmaßnahmen gezwungenen Gemeinden in dieser Hinsicht noch schlechter als dem Reich. Im Kapitel über die Weimarer Jahre hätte noch der in dieser Ära festzustellende Aufstieg des Steuerberater-Berufes angesprochen werden können; die Entwicklung dieser neuen Profession spiegelte sozusagen das Steigen der Steuerlast seit 1919 und die zunehmende Kompliziertheit des Steuerrechtes wider.

Im vierten Kapitel geht es um den „verbrecherischen Steuerstaat“ der Diktaturjahre. Der nationalsozialistische Staat trieb den Zentralismus der ersten Republik auf die Spitze und nahm den Ländern 1934 jegliche Finanzautonomie. Das hohe Besteuerungsniveau der Weimarer Spätzeit wurde beibehalten. Weil jedoch der Geldbedarf für Aufrüstung und prestigeträchtige Großinvestitionen immens war, griff das Regime schon bald neben der „heimlichen“ inländischen Kreditaufnahme bei Banken und Sparkassen zu unkonventionellen und fragwürdigen Elementen der Staatsfinanzierung, zunächst vor allem Sonderwechseln, dann (seit 1938) Lieferungs-Schatzanweisungen und Steuergutscheinen. Die Mittelbeschaffung für die Rüstung lief am ohnehin entmachteten Reichstag, aber auch am Reichsfinanzministerium vorbei; sogar der offizielle Reichshaushalt war seit 1934 geheim.

War das Finanzgebaren des NS-Staates von Anfang an unlauter und zunehmend gewissenlos, so wurde es mit der schrittweisen Ausplünderung der jüdischen Bürger seit 1936 schlechthin verbrecherisch. Bei der Auswanderung – faktisch vor allem jüdischer Familien – aus Deutschland schöpfte schon seit 1933 die Reichsfluchtsteuer, die noch von der Republik 1931 zur Begrenzung der Kapitalflucht ins Ausland eingeführt worden war, einen großen Teil des Vermögens der Emigranten ab; sie wandelte sich dadurch zu einer Art Freikauf aus dem Land der Verfolgung. Die „Arisierung“ von Unternehmen, ein Phänomen, zu dem in den letzten Jahren bedeutende Fallstudien erschienen sind, wird kurz angesprochen (S. 162ff.); wichtig ist aber Ullmanns Feststellung, dass die Vermögensgewinne der neuen Inhaber arisierter Geschäfte aus der Übernahme nur geringfügig besteuert wurden. In den Rechnungsjahren 1942/43 bis 1944/45 erzielte das Reich aus der Beraubung der zur Ermordung bestimmten Menschen mehr als 778 Millionen RM (S. 166).

Die Finanzierung der deutschen Kriegführung seit September 1939 ging, anders als beim Ersten Weltkrieg, fast völlig versteckt vor sich. Alle Beteiligten wussten, dass die Kriegsfinanzierung ein Hasardspiel war, das nur gewonnen werden konnte, wenn Deutschland einen vollständigen Sieg davontrug. Allgemein sichtbar waren nur die hohen Steuersätze und die „Kriegsbeiträge“ der Länder und Gemeinden. Neben den laufenden Einkünften aus Steuern, Kriegsbeiträgen und der verdeckt vorgenommenen Kreditaufnahme des Reiches bei Banken und Sparkassen trugen die Ergebnisse der deutschen Raub- und Beuteaktionen im besetzten Ausland, deren ganzes Ausmaß sich kaum beziffern lässt, erheblich zur Bestreitung der Kriegskosten bei. Seit Mitte 1943 konnte der eingespielte Geldkreislauf der Kriegsfinanzierung nicht länger in Gang gehalten und musste die Geldmenge in kurzen Abständen immer wieder vergrößert werden. Mitte 1944 war die Inflation auch für die Bürger klar erkennbar, und die lokalen Schwarzmärkte entstanden schon jetzt, nicht erst nach dem Kriegsende.

Die Nachkriegszeit der allmählich „ausufernde[n] Steuerstaaten“ (Kapitel V) brachte zunächst – in sehr unterschiedlicher Form – einen institutionellen Neubeginn in den vier Besatzungszonen. Seit 1946 übernahmen in den westlichen Zonen die Finanzministerien der Länder die Aufgaben des aufgelösten Reichsfinanzministeriums. Im Kontext der Ausarbeitung des Grundgesetzes wurde ein neues föderales Finanzsystem mit einem vertikalen Ausgleich entwickelt, über dessen wiederholte Änderungen der Leser gut unterrichtet wird. Anstelle der alten Reichsfinanzverwaltung entstand 1949/50 als Kompromiss zwischen zentralistischen und föderalistischen Vorstellungen und nach einer Intervention der Besatzungsmächte sowohl im Bund als auch in den Ländern eine dreistufige Verwaltung mit den Oberfinanzdirektionen als gemeinsamen Mittelbehörden. Die ohnehin schon hohen Steuersätze der NS-Zeit wurden durch Dekrete der Alliierten 1946 noch erhöht. Erhebliche Senkungen der Steuersätze ließen in der Bundesrepublik bis zu der mehrstufigen Reform von 1953-55 auf sich warten. Das Kapitel V enthält auch eine auf zwei Unterkapitel verteilte, luzide Finanzgeschichte der DDR (S. 183, 185f., 213ff.).

Die in den ersten Jahren der Bundesrepublik waltende, strenge Haushaltsdisziplin lockerte sich seit 1956, dem Jahr, in dem mit der Tätigkeit des „Kuchenausschusses“ der CDU/CSU-Fraktion die Verteilung von sozialpolitischen Wahlgeschenken begann. In den späten 1950-er Jahren griff die Bundesregierung Elemente der fiscal policy auf, eines Konzepts der Erweiterung der Staatstätigkeit auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet. Bei der Besteuerung wurden verteilungspolitische Momente immer wichtiger. Gleichzeitig verlor die Kreditaufnahme endgültig ihren ursprünglichen Charakter als außerordentliche Finanzierungsquelle. Seit 1959 wurden die Fehlbeträge im Bundeshaushalt durch Kredite gedeckt, jedoch wuchs bis um 1970 der Schuldenberg der öffentlichen Haushalte nur in relativ bescheidenem Umfang (S. 191, 203). Diese Tendenzen und Praktiken hatten mit dem Planungs- und Steuerungsoptimismus zu tun, der bis zur ersten Ölkrise von 1973 die politische und soziale Theorie beherrschte. Das Ende des „Wirtschaftswunders“ in der Rezession von 1966 verhalf der fiscal policy in Bonn endgültig zum Durchbruch; der Großen Koalition (1966-69) gelang immerhin die Sanierung des Bundeshaushalts.

Mit kritischem Unterton bespricht Ullmann die ausgabefreudige Finanzpolitik des Bundes sowohl in der zweiten Hälfte der Ära Adenauer (1956-63) als auch in der ersten Hälfte der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition (1969-76). Der Bund tätigte immer höhere Ausgaben für struktur- und sozialpolitische Programme und beschaffte sich, weil die Regierungen im Hinblick auf die Wählergunst Steuererhöhungen vermeiden wollten, die benötigten Mittel größtenteils durch Kreditaufnahme. Allerdings haben die Länder und die Gemeinden ihre Ausgaben relativ noch stärker vermehrt als der Bund und ebenfalls die Verschuldung ausgeweitet. Die Schulden aller öffentlichen Haushalte in der Bundesrepublik wuchsen von 1970 bis 1982 von 126 auf 615 Milliarden DM (S. 203). Unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und in den ersten drei Jahren der Kanzlerschaft Helmut Kohls bemühte sich der Bund um Haushaltskonsolidierung und Ausgabenkürzung, aber schon 1985/86 wurde die finanzpolitische Disziplin wieder gelockert. In einer selten günstigen gesamtwirtschaftlichen Situation gelang 1988-90 eine Einkommenssteuerreform, deren Vor- und Nachteile ausführlich erörtert werden (S. 207f.). Im letzten Teil des fünften Kapitels behandelt Ullmann die „etatsprengende Finanzierung der deutschen Einheit“ (S. 177) seit 1990. Hier wird die Darstellung anschlussfähig an die gegenwärtigen Debatten über das föderale System, die „gerechte“ Besteuerung, die Probleme des Arbeitsmarktes und die Finanzierung der Renten.

Am Ende rät Ullmann, Adam Smith zitierend, dem gegenwärtigen Steuerstaat, in richtiger Einschätzung seiner Möglichkeiten jede sozialpolitische Gestaltungsabsicht aufzugeben und den Steuerzahler, der ausweislich der Schattenwirtschaft, der Kapitalflucht und der Masse von Einsprüchen gegen die Steuerbescheide mehr denn je die Gerechtigkeit des Systems bezweifle, mit steuerfinanzierten sozialpolitischen Programmen zu verschonen (S. 228f.). Das Buch schließt, wie es beginnt, mit der den Klassikern des Liberalismus verpflichteten Warnung, ein Steuerstaat, der die Ökonomie, von der er abhänge, zu stark belaste, könne dadurch seine eigene Existenz gefährden. Ob diese Situation in Deutschland gegenwärtig besteht, ist freilich eine hochstreitige Frage.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension