M. Hettling u.a. (Hrsg.): Bürgertum nach 1945

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Titel
Bürgertum nach 1945.


Herausgeber
Hettling, Manfred; Ulrich, Bernd
Erschienen
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Schulz, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Berlin

„Bürgertum nach 1945“ – der programmatische Titel überrascht, ist der Forschungsgegenstand doch keineswegs so klar umrissen wie die Herausgeber andeuten. Die Sozialformation „Bürgertum“ ist bisher stärker für das 19. als für das 20. Jahrhundert erforscht worden. Doch trägt der Band dazu bei, den diffusen Begriffshorizont durch substantielle Beiträge aufzuklären. Erfreulicherweise verzichten die Autoren auf die Wiederholung der bekannten Niedergangsmetaphern zur Auflösung bürgerlicher Lebenswelten im 20. Jahrhundert. Die Herausgeber haben durch eine überlegte Strukturierung des Bandes mehrere methodische Zugangswege vorgegeben und somit die Flucht in eine unklare Semantik versperrt. In vier Abschnitten eröffnet der Band unterschiedliche Perspektiven, die eine systematische Betrachtung ermöglichen und die einseitige Präferenz eines bestimmten Konzeptes von „Bürgertum“ oder „Bürgerlichkeit“ von vornherein vermeiden.

Im ersten Kapitel „Lebenswege“ geht es um (auto)biographisch-soziobiographische Erzählungen. Das mit Reinhart Koselleck geführte Interview über „Formen der Bürgerlichkeit“ unterstreicht erneut die zentrale Bedeutung der familiären Sozialisation in bürgerliche Lebenswelten. Diese Selbstwahrnehmungen eines Bildungsbürgers sprechen für sich selbst. Sie unterstreichen die Persistenz bürgerlicher Wertvorstellungen und Praktiken über die Zäsuren von 1933 und 1945 hinweg. Andere Beiträge thematisieren die Kontinuitätserfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in der Tschechoslowakei (Bedrich Loewenstein) und in der bildungsbürgerlichen Enklave Potsdam zu DDR-Zeiten (Günter Wirth). Dass es bei allen Versuchen, Bürgertum nach 1945 zu definieren, entscheidend darauf ankommt, die Differenz zwischen „deskriptiven und präskriptiven Bestandteilen“ zu beachten, daran erinnert zu Recht Heinz Bude in seinem instruktiven Beitrag über „Bürgertumsgenerationen in der Bundesrepublik“. Wirkt seine Generationen typisierende Begriffsbildung von „Weimarer Restbürgern“ (Geburtsjahrgänge um 1910/15), „skeptischen Neubürgern“ (um 1925/30) und „Appell-Bürgern“ (um 1945/50) auch etwas angestrengt, so bleibt seine Beobachtung zutreffend, dass dem Bürgersein nach 1945 in erster Linie normative Bedeutung zukam: Die Bundesrepublik sei „eine Gesellschaft, in der alle Bürger sein wollen, aber nirgendwo ein Bürgertum zu erkennen ist“ (S. 112).

Heterogen wirkt der zweite Abschnitt „Leitideen“, der exemplarische politische Ordnungsentwürfe des Bürgertums vorstellen möchte. Zu weit auseinander laufen die durch prominente Intellektuelle – Wilhelm Röpke (Aufsatz von Josef Mooser), Hans Freyer (Ulrich Bielefeld) und Hermann Nohl (Kai Arne Linnemann) – repräsentierten Diskurse über „Bürgertum“, „Bürgerlichkeit“ und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu unterschiedlich waren die gesellschaftlichen Positionen und die Nähe der Protagonisten zum Nationalsozialismus. Divergent waren deshalb auch ihre Schlussfolgerungen: Röpke setzte auf die Reaktivierung kleinräumiger Sozialbeziehungen in Familie, Gemeinde und Kirche. Er sah sein neoliberales Leitbild einer Gesellschaft der Selbstständigen und der besitzenden Bürger mit der Realität einer Arbeitnehmergesellschaft konfrontiert, der die Wertschätzung sozialer Sicherheit über das Ideal der Selbstständigkeit ging. Hans Freyers sozialwissenschaftlicher Handbuchartikel „Bürgertum“ von 1959 ist zugleich ein Stück bürgerlicher Selbstdistanzierung von der Affinität intellektueller Eliten zur „Moral der Unmoral“ im NS-Staat; Hermann Nohls Versuch eines Anknüpfens an die geistigen Traditionen des „deutschen Bürgers des 19. Jahrhunderts“ ist von solchen Belastungen frei. Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft erfüllten in Nohls Pädagogik die praktische Funktion von gesellschaftlichen Leitbildern für die neuen Eliten der Bundesrepublik. Verbunden sind die hier vorgestellten Gesellschaftsentwürfe durch den sie überlagernden Schulddiskurs und durch den je unterschiedlich motivierten Rekurs auf das letztlich unspezifische politische Ordnungsmodell der „bürgerlichen Gesellschaft“.

Zwischen „Osmotische[n] Grenzen“ bewegen sich die Beiträge des dritten Kapitels, insofern sie die Persistenz sozioökonomischer Strukturen und Vergesellschaftungsformen betrachten. Bernd Ulrichs exemplarische Studie über „Bremer Spätbürger“ macht sehr deutlich, dass die Wiederaufnahme bürgerlicher Traditionen in den Trümmerstädten eine Art Krisenbewältigung war, welche die Rückkehr in den Alltag erleichterte. Alle Beiträge heben die Tendenz zur Angleichung sozialer Lagen und zur Überwindung ständischer und klassenmäßiger Trennlinien hervor: Angesprochen werden die Aufstiegsmobilität der Facharbeiter, ihre „Verbürgerlichung“ und „Integration“ in den Mittelstand (Burkart Lutz); die Übernahme bürgerlicher Werte und Verhaltensnormierungen in das Rollenbild des Bundeswehroffiziers, dessen standesspezifische Performanz gleichwohl in veränderter Form erhalten blieb (Klaus Naumann); ein tiefgehender Wertewandel des Adels, dessen ständische Exklusivität im Strudel der Nivellierungs- und Entdifferenzierungsprozesse versank (Eckart Conze); und schließlich die alles und alle verbindende Lebensform des „Konsumbürgers“, die neue Trennlinien, Distinktionen und Selbstbilder produzierte (Michael Wildt). Als „Gegenbilder“ gekennzeichnet sind die Beiträge des vierten Kapitels: Wolfgang Kraushaars Aufsatz über das 1968er-Projekt einer „Revolutionierung des bürgerlichen Subjekts“ und Thomas Großböltings Untersuchung über den Anlauf zur „Entbürgerlichung“ der DDR.

Auch das Scheitern der Utopie einer antibürgerlichen Gesellschaftsordnung scheint am Ende die Grundthese der Herausgeber zu bestätigen, die einen „stillen Erfolg der Bürgerlichkeit in Deutschland“ konstatieren. Mehr noch: Für die Herausgeber bedingt die kollektive Erinnerung an die „vergangene Lebensform Bürgerlichkeit“ auch die geglückte Errichtung der Demokratie in Westdeutschland. Wenn man „Bürgerlichkeit“ primär als politischen Ordnungsentwurf einer offenen Gesellschaft versteht, dann klingt diese Argumentation plausibel. Der diskursive Rekurs auf Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft habe in der Gründungsphase der Bundesrepublik eine konstitutive Funktion erfüllt, nämlich die Durchsetzung eines zivilen Gegenmodells zur diskreditierten Volksgemeinschaft unterstützt. Die in den Beiträgen thematisierten sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandlungsprozesse indes sind von langer Dauer und kein ausschließliches Phänomen der Nachkriegsgesellschaft. Sie können für das Konzept der „politischen Bürgerlichkeit“ und die daraus entwickelten Interpretationen der deutschen Nachkriegsgesellschaft keine hinreichende Erklärungskraft beanspruchen. Die in der Einleitung explizierte These trifft in erster Linie eine Feststellung über die Identität und Herkunft jener Gruppen, die sich selbst als Träger der „Kulturbürgerlichkeit“ der Bundesrepublik verstanden und verstehen. Ob einem solchermaßen affirmativen Bekenntnis nicht letztlich die konservative Intention zugrunde lag, den Protagonisten dieser Bürgerlichkeit Macht- und Einflusspositionen zu sichern, wäre eine spannende Frage.

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