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Titel
Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächnispolitik


Autor(en)
Rupnow, Dirk
Erschienen
Göttingen 2005: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Konitzer, Hamburger Institut für Sozialforschung

In seinem Buch „Vernichten und Erinnern“ untersucht Dirk Rupnow gedächtnispolitische Aspekte der Verbrechen des Nationalsozialismus. Mit dem Ausdruck „Gedächtnispolitik“ umreißt er einen Gegenstandsbereich und eine besondere methodische Perspektive. Gedächtnispolitische Untersuchungen unterscheiden sich nach Rupnow sowohl von solchen der „Erinnerungs-“ als auch der „Vergangenheitspolitik“. Beide Ausdrücke bezeichnen ein politisches Handeln in Bezug auf Folgen vergangener Handlungen und Geschehnisse; eine gedächtnispolitische Betrachtungsweise fokussiere dagegen Handlungen, durch die Akteure „eine spätere Erinnerung im Vorhinein zu strukturieren und zu formen“ bzw. überhaupt erst zu ermöglichen oder zu verhindern versuchen (S. 87). Weil die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten vom Versuch begleitet war, „das kulturelle Gedächtnis mit bestimmten Inhalten zu füllen“ (ebd.), müssen nach Rupnows Auffassung Analysen der Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik nach 1945 diese Gedächtnispolitik der Zeit bis 1945 einbeziehen.

Rupnow geht es weniger um eine originäre Darstellung historischer Vorgänge – viele Bereiche, die er diskutiert, sind bereits Gegenstand ausführlicher Untersuchungen gewesen1 –, sondern um eine Zusammenschau und Neubewertung unter dem von ihm gewählten methodischen Gesichtspunkt. Er schildert und interpretiert vor allem fünf Themenfelder: die Bemühungen von Nationalsozialisten zur Vertuschung der Massenmorde und die ambivalente Haltung, die sie selbst zu dieser Vertuschung einnahmen (speziell geht es hier um die „Aktion 1005“, bei der die Leichen von Juden und russischen Kriegsgefangenen aus den Massengräbern wieder ausgegraben und verbrannt wurden, und die verschiedenen Stellungnahmen von Nationalsozialisten dazu); die nationalsozialistische Politik in Bezug auf jüdische Museen, sofern sie von den Nationalsozialisten nicht zerstört, sondern „arisiert“ und unter ihrer Regie weitergeführt wurden; die Geschichte der Ausstellungen, die sich mit dem Judentum befassten; die Geschichte der verschiedenen Einrichtungen und Institute zur „Judenforschung“ und „Gegnerforschung“; schließlich allgemein den Umgang mit fotografischen und filmischen Aufzeichnungen von Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Die Eingrenzung auf diese Themenfelder ergibt sich nicht allein und noch nicht einmal primär aus Rupnows „gedächtnispolitischem“ Ansatz. Dieser hätte es ja nahe gelegt, wesentliche Elemente nationalsozialistischer Ideologie und symbolischer Politik in die Betrachtung einzubeziehen. Nicht nur die Totenkulte, deren große Bedeutung für nationalsozialistische Gemeinschaftsrituale verschiedene Autoren deutlich gemacht haben2, hätten in einer solchen umfassenderen Analyse nationalsozialistischer Gedächtnispolitik eine wichtige Rolle einnehmen müssen. Auch zentrale Begriffe und Konzepte nationalsozialistischer Ideologie, beispielsweise die Begriffe des Volkes, der Rasse und des Blutes, könnte man zugleich als gedächtnispolitische Begriffe verstehen – denn ihre Funktion bestand unter anderem darin, durch ein bestimmtes Handeln in der Gegenwart (die Auswahl des „lebenswerten“ Lebens oder der „guten“ Rasse) die spätere Erinnerung zu prägen und vorzuentscheiden (S. 87).

Dass Rupnow seine Analyse nicht auf den Zusammenhang von nationalsozialistischer Gedenkkultur und nationalsozialistischem Geschichtsverständnis ausgedehnt hat, liegt wohl daran, dass er seine Untersuchung auch als kritischen Kommentar zu einer These verstanden wissen will, die den Blick auf die Gedächtnispolitik im Nationalsozialismus lange Zeit verstellt habe: die These vom „Gedächtnismord“, derzufolge die Nationalsozialisten beabsichtigt hätten, nicht nur die Juden, sondern auch die Erinnerung an sie und die jüdische Kultur vollständig zu beseitigen. Demgegenüber versucht Rupnow, eine Ambivalenz in der Ideologie und Praxis nationalsozialistischer Gedächtnispolitik herauszuarbeiten. Sie komme beispielhaft in Himmlers Worten von der Judenvernichtung als einem „niemals geschriebene[n] und niemals zu schreibende[n] Ruhmesblatt“ der Geschichte der SS zum Ausdruck (Posener Rede, 2.10.1943). Der Massenmord, dessen Ausführung man einerseits verheimlichen wollte („Sonderbehandlung“, „Evakuierung“, „Endlösung“), sollte also zugleich doch als ein „Ruhmesblatt“ vorgestellt werden können. Ein anderer Beleg Rupnows ist die Äußerung Kurt Gersteins, dass Odilo Globocnik das Verbrennen der Leichen der Opfer von Massenmorden unter dem Hinweis auf die historische Bedeutung der Tat in Frage gestellt habe (S. 63). Auch wenn Rupnows Interpretation in der Sache wohl zutrifft, wirkt sein Verfahren nicht überzeugend, das Gewicht dieser wenigen Äußerungen durch kontrafaktische Überlegungen verstärken zu wollen, wie eine Erinnerungspolitik der Nationalsozialisten im Falle ihres Sieges möglicherweise ausgesehen hätte.

Deutlicher noch als in Bezug auf die Erinnerung an die Verbrechen selbst zeigt sich nach Rupnow der Wille verschiedener Nationalsozialisten zu einer Gedächtnispolitik in Bezug auf die Erinnerung an deren Opfer: in der Praxis der Sammlung und Musealisierung von jüdischen Kulturgütern sowie der Schaffung von Institutionen zur Erforschung der Geschichte des Judentums und des Antisemitismus aus antisemitischer Sicht. In den Museen wurden in unmittelbarer Verbindung mit der Deportation von Juden jüdische Kulturgegenstände gesammelt. Musealisierung ging also mit der Beraubung und Vernichtung von Juden einher. Umgekehrt führte Vernichtung unmittelbar zur Musealisierung der verbleibenden Kulturgegenstände. Auch in der Analyse von Juden- und Gegnerforschung stellt Rupnow heraus, dass Vernichten und Erinnern im Nationalsozialismus keine absoluten Gegensätze waren, sondern einander ergänzten. Warum solche Gegensätze lange Zeit angenommen wurden, versucht Rupnow bereits zu Anfang des Buches zu erklären. Maßgeblich sei das Bedürfnis gewesen, eine Pflicht zur Erinnerung zu formulieren. Dieses Bedürfnis sei aus ganz verschiedenen Motiven gespeist worden: aus dem Schrecken und der Trauer der Überlebenden; aus der politischen Hoffnung, durch die Erinnerung ähnliche Ereignisse in der Zukunft verhindern zu können; aus dem Eindruck der Ungeheuerlichkeit und historischen „Singularität“ dieser Verbrechen.

Vermutlich gab es bei den Tätern und ihren Angehörigen noch ein anderes Motiv, den Gegensatz von Vernichten und Erinnern zu konstruieren: In gewissem Sinne hält sich jeder, der eine widerrechtliche oder auch moralisch verwerfliche Handlung vollzieht, irgendwie für berechtigt zu seinem Tun.3 Und eine Handlung, die man für berechtigt hält, wird man auch im Gedächtnis behalten wollen. Insofern dokumentiert die Tatsache, dass die Nationalsozialisten die Erinnerung an die Opfer nicht völlig auslöschen, sondern „arisieren“ wollten, dass und auf welche Weise sie ihre Verbrechen legitimierten; sie weist auf die Rechtfertigungsstrukturen hin, die mit den Taten verbunden waren und sie als gemeinsam begangene Handlungen erst ermöglichten. Auf die Bedeutung solcher Rechtfertigungsstrukturen geht Rupnow in einem zusammenfassenden Kapitel über „das Gedächtnis des 3. Reichs“ ein. Gerade weil „der Jude“ im nationalsozialistischen Selbstbild eine so herausragende Bedeutung hatte, konnte seine Vernichtung nicht einfach als spurloses Verschwinden gedacht werden (S. 288). Die Musealisierung war daher ein Teil der „Stützung der Ideologie“.

Zum Schluss versucht Rupnow zu zeigen, dass die „Arisierung“ des Gedächtnisses die Gedenkkultur der Bundesrepublik wesentlich beeinflusst habe. Allerdings erscheinen Rupnows Belege an manchen Stellen deutlich überzogen – so etwa, wenn er Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985 in eine geistige Nähe zu Himmlers Posener Rede rückt (S. 332). Auch wenn die Annahme eines Fortdauerns von Rechtfertigungsstrukturen in vieler Hinsicht zutreffen mag, erfordert ihre Beurteilung und Kritik einen Maßstab. Rupnow entnimmt diesen Maßstab seiner Analyse nationalsozialistischer Gedächtnispolitik. Die Unschärfe seiner kursorischen Bemerkungen zur Gedenkpolitik der Bundesrepublik lässt jedoch vermuten, dass dieser Maßstab allein nicht ausreicht, um genügend differenzierte Urteile zu fällen.

Anmerkungen:
1 Heiber, Helmut, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Hachmeister, Lutz, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998; Fahlbusch, Michael, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945, Baden-Baden 1999; Knoch, Habbo, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
2 Behrenbeck, Sabine, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow bei Greifswald 1996; Berghoff, Peter, Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse, Berlin 1997.
3 Vgl. dazu jetzt: Welzer, Harald, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2005.

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