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Titel
Nächstes Jahr in Moskau!. Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917-1932


Autor(en)
Freitag, Gabriele
Reihe
Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 2
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 46,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dmitrij Belkin, Institut für Geschichtswissenschaft, Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas, Humboldt-Universität zu Berlin

„Nächstes Jahr in Jerusalem!”: Mit diesem traditionellen Wunsch endet der erste Abend des jüdischen Pessach Festes. „Nächstes Jahr in Moskau!”: So betitelt Gabriele Freitag ihre Monographie. Beide Formeln - auf die Geschichte der osteuropäischen Juden bezogen - deuten auf einen methodischen Perspektivenwechsel hin. Ging es der bisherigen Forschung überwiegend um die Emigration der Juden aus dem Russischen Reich, um ihren Weg nach „Jerusalem“, wie auch immer es heißen sollte, so gerät heute die interne jüdische Migration zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Die Monographie von Freitag repräsentiert eine Tendenz, die man als eine „West-Ost-Migration“ bezeichnen kann, wenn man die geographische Lage des ehemaligen Ansiedlungsrayons im Russischen Reich in Relation zu Moskau betrachtet 1.

Moskau als Objekt der Begierde für die Juden ist im Unterschied zu St. Petersburg, das ebenso jenseits des Ansiedlungsrayons lag und ein „Laboratorium der selektiven Integration“ der jüdischen Bevölkerung war 2, eher ein sowjetisches Phänomen als ein russisches. Die Stadt galt bis zur Februarrevolution von 1917, die die gesetzlichen Schranken für die russischen Juden aufhob, nicht unbedingt als judenfreundlich und war für die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung geschlossen. Im Gegensatz dazu war Moskau nach 1917 für die jüdischen Migranten aus dem ehemaligen Ansiedlungsrayon als bevölkerungsreichstes Industrie- und Handelszentrum der Sowjetunion, als Mittelpunkt des kulturellen Lebens und nicht zuletzt als Zentrum des „sozialistischen Aufbaus“ in einem zentralistischen Land durchaus attraktiv.

Mit ihrer zentralen These von einer „gesellschaftlichen Integration“ der Juden in Moskau distanziert sich Gabriele Freitag von Modellen von Akkulturation und Assimilation auf der einer Seite und von dem Konzept der Ethnisierung auf der anderen Seite. Ihre Fragestellung soll, so die Verfasserin, helfen, die Bedeutung der Frage nach der Beibehaltung oder Aufgabe ethnischer Besonderheiten zu relativieren und sich den „sozio-kulturellen Charakteristika der jüdischen Zuwanderer vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Integration in das städtische Gefüge“ (S. 21) zuzuwenden. Folgerichtig geht es Freitag in erster Linie um die Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung der Juden als Folge ihrer Migration in die sowjetische Metropole.

Diesem Konzept ist die Struktur der Monographie untergeordnet - vom ersten Kapitel, das sich mit den innerjüdischen Transformationsprozessen bis 1917 beschäftigt, bis zum sechsten und letzten, in dem es um die eigentliche gesellschaftliche Integration der Zuwanderer geht.
Der Prozess der Sowjetisierung des Judentums war unter Berücksichtigung der Nationalitätenfrage, wie sie von Josef Stalin aufgefasst wurde, dessen ist sich Freitag bewusst, ein von Beginn an zum Scheitern verurteiltes Projekt: Die Juden galten nämlich weder der zaristischen noch der bolschewistischen Regierung jemals als „rückständig“. An der Modernisierung brauchte man die urbanisierte und über einen hohen Bildungsgrad verfügende jüdische Bevölkerung nicht zu beteiligen.

Die jüdische Sektion des Moskauer Parteikomitees, die Evsekcija, die die Sowjetisierung der Juden in der Stadt lenken sollte, stand, so Freitag, von Anfang an vor einer Leere: Das jüdische Proletariat, das den Kern der „jüdischen Massen“ ausmachen sollte, war zahlenmäßig relativ gering. Die „Nacmenrabota“, wie die Arbeit mit den „nationalen Minderheiten“ in damaliger Terminologie hieß, die im Falle der jüdischen Bevölkerung eine „Jiddischisierung“ und Landsiedlung voraussetzte, „blieb im Kontext der zentralrussischen Großstadt realitätsfremde Propaganda“ (S. 226). So gewannen im frühsowjetischen Diskurs Mechanismen der ideologischen Ausschließung an Bedeutung.

In diesem Kontext wirkt die These von Freitag von den antisemitischen Stereotypen, auf die die Evsekcija in ihrem Kampf gegen die traditionellen jüdischen Organisationen und die jüdische Religion zurückgegriffen habe, etwas undifferenziert (S. 205 f.). In den Propagandaschriften war tatsächlich vom „Weltjudentum“ und von „jüdischen Spekulanten“ die Rede, die angeblich die jüdischen religiösen und politischen Projekte finanzierten. Doch gleichzeitig galten den Repräsentanten der neuen Macht die Aktivitäten der jüdischen Kaufleute und Rabbiner als ein Überbleibsel alter Zeit. Um diese endgültig über Bord zu werfen, scheuten sie sich nicht, vom „Weltjudentum“ zu sprechen. Unabhängig davon hat man jedoch im Sowjetrussland des ersten Nachoktoberjahrzehnts den „aktuellen“ Antisemitismus, etwa im Arbeitermilieu, offiziell mit allen Mitteln bekämpft.

Die Juden als Objekte der frühsowjetischen Politik stehen im Mittelpunkt des Interesses von Gabriele Freitag. Doch in ihrem Buch wird offensichtlich, dass eine „Subjektivierung“ des Lebens der jüdischen Bevölkerung nicht allein durch das Hinzuziehen von Memoiren einiger ihrer Repräsentanten zu gewährleisten ist: Freitag zitiert viele spannende, oft mit einer bitteren (Selbst)Ironie verfasste Texte, die es aber kaum vermögen, das Gesamtbild der Transformation des traditionellen jüdischen Lebens aufzuzeigen. So entsteht bei der Lektüre der Eindruck, dass sich die realitätsferne und ideologisch bedingte Politik der Sowjetorgane mit den späteren Erinnerungen jüdischer Intellektuellen verband und zur Entstehung eines Phantombildes des jüdischen Lebens in Moskau führte.

Die Stadt Moskau steht für Freitag vor allem als Zufluchtsort bzw. als Ort der Austragung der Aktivitäten diverser Organisationen im Mittelpunkt. Dieser Blickwinkel wird durch den gewählten Zeitraum vorgegeben, in dem der harte Alltag der Neueinwanderer und ideologische Aspekte eine Konstellation ergaben, bei der keine jüdische „Community“ „im Sinne einer institutionell verankerten Gemeinschaft“ (S. 322) hätte entstehen können, wie es bei der Emigration der „russischen“ Juden in andere europäische und US-amerikanische Metropolen der Fall war.

Die Notwendigkeit, den radikal anderen Lebensbedingungen des frühsowjetischen Lebens zu entsprechen, verlangte den ehemaligen Bewohnern des Rayons ein starkes Anpassungsvermögen ab. Die Russifizierung der Juden im Zuge der Migration war keinesfalls eine direkte Folge des alltäglichen Pragmatismus. Vielmehr war hier eine seltsame Kombination von jüdischer Nationalität, russisch-kultureller Orientierung und dem Sowjetischen als Oberbegriff am Werke (S. 274f.), die das Leben der Neumoskauer bestimmte. Die so genannten „neutralen Räume“ wie das Pressewesen oder das kulturelle Leben, die von Juden vor 1917 teilweise aus Not „besetzt“ waren, wurden, wie Freitag zu Recht bemerkt, nach der Revolution zu „Foren unmittelbarer politischer Partizipation“. Gleichzeitig schloss die Uminterpretation sozialer Normen zahlreiche Vertreter des „kleinbürgerlichen“ Milieus aus dem gesellschaftlichen Leben aus und machte sie zu den „lischency“, denen die Wahlrechte entzogen wurden (S. 321).

Leider widerspricht Gabriele Freitag bisweilen ihrer eigenen These von den Mischformen und der Ambivalenz im jüdischen Leben der 1920er Jahre, indem sie die etwas klischeehaften Formeln wie „Treubeweis gegenüber dem neuen Regime“ (S. 235) oder „Bekenntnis zum sowjetischen Regime“ (S. 278) einsetzt, wenn es zum Beispiel um die Benutzung der russischen Sprache geht.

Den Lehrenden, die in Zukunft Seminare zum sowjetischen Judentum veranstalten werden, ist zu empfehlen, das Buch „Nächstes Jahr in Moskau…“ neben dem von Yuri Slezkine „The Jewish Century“ 3 aufzustellen. Beide Autoren haben sich gegenseitig inspiriert und ihre Bücher ergänzen sich gut.

Gabriele Freitag hat ein gutes, außerordentlich quellenreiches Buch verfasst. Etwas mehr Narrativität und literarischer Fluss hätte der Monographie jedoch gut getan. Dafür ist das Buch gut strukturiert, vom Umfang her überschaubar und auf jeden Fall zur Lektüre zu empfehlen.

1 Zur geographischen Ausrichtung der osteuropäischen Migrationsgeschichte im 20. Jahrhundert vgl.: Dietz, Barbara, Osteuropa im Blick der Migrationsforschung: Fragestellungen und Erkenntnisse, Kap. 2.1., in: Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas. Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa (http://www.vifaost.de/handbuch/dietz-migration.html, Letzte Änderung 6. Mai 2005, Zugriff am 9. Mai 2005).
2 Nathans, Benjamin, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berkeley u.a. 2003, S. 83.
3 Slezkine, Yuri, The Jewish Century, Princeton 2004.
[4] Dan Diner hat in seiner Besprechung des Buches von Slezkine darauf hingewiesen: Diner, Dan, Lenins intellektuelle Reservearmee. Das Verhältnis der russischen Juden zur bolschewistischen Revolution und zur Sowjetunion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.01.2005, S. 6.

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