S. Gerber: Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation

Titel
Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation im 19. Jahrhundert. Der Jenaer Pädagoge und Universitätskurator Moritz Seebeck


Autor(en)
Gerber, Stefan
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 14
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
713 S.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Wischmeyer, LS F.W. Graf, LMU München

Ein intellektuell beweglicher Konservativer in der deutschen Aufbruchszeit des 19. Jahrhunderts, ein hochgebildeter Polyhistor mit einflussreichen Verbindungen, ein bei allen Fehlschlägen erfolgreicher Dilettant an einer entscheidenden Schnittstelle kleinstaatlicher Hochschulpolitik: Das Leben des Bildungsbürgers Moritz Seebeck (1805-1884) ist allemal einer Biografie würdig. Der Vater Naturforscher, Freund Hegels und zeitweiliger Korrespondent des alten Goethe; die klassische Studienlaufbahn eines Kindes der Humboldt-Generation: Boecksches Seminar in Berlin, Referendar am Joachimsthaler Gymnasium; Posten in der Kultusverwaltung des thüringischen Kleinstaats Sachsen-Meinigen; Prinzenerzieher des späteren ‚Theaterherzogs’ Georg II. von Sachsen-Meiningen; als Vertreter der 1848 in prekärer Lage befindlichen thüringischen Kleinstaaten beim Frankfurter Bundestag und bei einigen anschließenden Unionskonferenzen ein Ausflug auf das letzten Endes ungeliebte diplomatische Parkett; und endlich die ersehnte und zielstrebig vorbereitete Lebensstellung eines Kurators der sachsen-ernestinischen Gesamtuniversität Jena (1852-1877), die dem unermüdlichen Organisator in finanziell bedrängter Zeit ein überdurchschnittliches wissenschaftliches Profil unter den kleinen deutschen ‚Aufstiegsuniversitäten’ verdankte.

In seiner umfangreichen Jenaer Dissertation versucht Stefan Gerber auf anspruchsvolle und methodisch reflektierte Weise (S. 25f.), die verschiedenen Facetten von Seebecks Lebensgang im Genre der Biografie einzufangen. Das Ergebnis ist in jedem Fall ein bedeutender Beitrag zur Bürgertumsgeschichte des 19. Jahrhunderts, zur Bildungsgeschichte Thüringens, und speziell ein Grundstein im Gefüge der aktuellen Literatur zur neueren Geschichte der Universität Jena, die sich bis zum Jubiläum 2008 wohl noch um zahlreiche Beiträge vermehren wird. Auch dem allgemeinen und fächerspezifischen wissenschaftsgeschichtlichen Interesse bietet das Werk eine Fülle von Informationen. Die Form der Darstellung verhindert allerdings, dass man es als Referenzwerk zu allgemeinen Fragestellungen – etwa nach dem Vorbild der Tübingen-Studie Sylvia Paletscheks – rasch heranziehen könnte. Obgleich die Darstellung des wissenschaftsorganisatorischen Wirkens Seebecks in Jena (Teil 2) de facto die biografische Form sprengt, bleibt der Verfasser bei seiner grobmaschigen Gliederung, er verzichtet darauf, Ergebnisse in quantifizierender Form zu präsentieren, und die begrüßenswerten inter-universitären Vergleiche zu Einzelaspekten tragen eher ad-hoc-Charakter (bemerkenswert: eine biografische Zusammenschau Seebecks mit dem Hallenser Kurator Wilhelm Schrader und dem Tübinger Kanzler Gustav Rümelin, bei denen übereinstimmend der Zug zur ‘Wissenschaftlichkeit ohne Expertentum’ hegelianischer Prägung, die Verbundenheit mit der Schule und der politische Grundzug nachgewiesen werden: S. 285-294). Im Interesse der Rezeptionsfähigkeit der Forschungsergebnisse wie der biografischen Rundung der Seebeck-Vita wäre es eine Überlegung wert gewesen, aus der Fülle des gesammelten Materials eine Biografie und eine separate Studie über die jenaische Universitätspolitik und -organisation unter Seebecks Ägide zu machen.

Andererseits ist es – um zu einer Würdigung der Ergebnisse der Arbeit überzugehen – ein Gewinn, dass der Verfasser auch das Vorleben des Kurators detailliert beleuchtet und die vielfältigen intellektuellen und politischen Anregungen im Seebeckschen Werdegang als planmäßig betriebene Selbst-Ausbildung eines Mannes versteht, der jedem Fachidiotentum abhold war und der selbstständig zu der ihm gemäßen Stellung im Gefüge der bürgerlichen Welt fand. Unter den drei Leitbegriffen ‘Familie’ (S. 31-81), ‘Bildung’ (S. 83-138) und ‘Beruf’ (S. 139-199) schildert der Verfasser im ersten Teil der Monografie das bürgerliche Herkommen Seebecks. Der Ausblick auf die Lebenswege von Seebecks Geschwistern bestätigt Gerbers These der großen Bedeutsamkeit familiärer Verbindungen und Bekanntschaften für Seebecks späteres professionelles Handeln (S. 68). Sehr kurz kommt die Charakterisierung Seebecks als religiöser Persönlichkeit (S. 78-80). Seebeck muss, wie der Verfasser andeutet, wohl als ein gemäßigter, aber durchaus positiv-kirchlicher Parteigänger bezeichnet werden. (Gerbers Monografie erwähnt nicht Seebecks Wahl in den Weiteren Ausschuss des Wittenberger Kirchentags von 1848, was zumindest für enge Verbindungen mit der Elite gemäßigt konservativer Theologen und Politiker spricht.)

Die Entscheidung des Altphilologen für eine pädagogische Karriere mit dem Ziel, seinen Schülern „die Wissenschaft teuer und die Religion unentbehrlich zu machen“ (Zit., S. 94), und seine Förderung durch den einflussreichen Kultusadministrator Johannes Schulze (S. 95f.) führen zur Berufung Seebecks zum Direktor des Meiniger Gymnasiums und geben Anlass zu einer gedrängten Darstellung der Reform des höheren Schulwesens in dem thüringischen Kleinstaat (S. 97-115), bei der Seebeck seine neuhumanistisch-bildungsreformerischen Ideen praktisch bewähren konnte. Als ganzheitliche Vermittlung von Bildung und Erziehung verstand Seebeck auch seine Erziehertätigkeit beim Erbprinzen Georg II. von Sachsen-Meiningen, die ihn von 1836 bis 1845 in Anspruch nahm; für ihn außerdem Gelegenheit, höfische Umgangsformen kennenzulernen, Bekannschaften zu machen und zu reisen – die gelungene Darstellung (S. 121-138) des Lebensabschnitts zählt zu den starken Passagen der Monografie. Schlüssig zeigt Gerber, wie Seebeck vor allem als Begleiter des Prinzen während dessen Bonner Studium lernt, auf ein breites wissenschaftliches Meinungsspektrum zuzugreifen, ohne seine eigene konservative, von Revolutionsfurcht geprägte Einstellung dabei entscheidend zu verändern.

Zum Auftakt der folgenden Schilderung von Seebecks politischem Engagement zwischen 1848 und 1851 definiert Gerber Seebecks ursprüngliche politische Grundeinstellung als “bürokratisch-etatistisch orientierten preußischen Staatskonservativismus” (S. 146). Das Revolutionserlebnis wandelt Seebeck dann zu einem konstitutionellen Konservativen, der mit allen Kräften, die für den Fortbestand der monarchischen Ordnung stehen, den politischen Konsens anstrebt (S. 178). In pragmatischer Scheu vor einem Zuviel an Reaktion sucht Seebeck 1848 den Austausch mit gemäßigten Liberalen und lernt, die Vorstellung einer ‘begrenzten Pluralität’ (S. 164) auszubilden – wichtige Voraussetzung für seinen späteren Umgang mit den teilweise ausgesprochen liberalen Jenaer Professoren.

Vorerst war es die Rolle eines Bevollmächtigten des Kleinstaates Sachsen-Meiningen bei der provisorischen Zentralgewalt in Frankfurt 1848, in der Seebeck politische Erfahrungen sammelte (S. 160-179). Seine Beauftragung hierzu verdankt er einem geschickten publizistischen Engagement gegen die Mediatisierungsforderungen, mit denen die Kleinstaaten in Frankfurt anfangs heftig konfrontiert wurden (S. 155-160). Nach der Septemberrevolution und im Zeichen des beginnenden preußisch-österreichischen Dualismus verloren die territorialen Neuordnungspläne allerdings rasch an Interesse. Wir sehen Seebeck nun vor allem als Beobachter des parlamentarischen Geschehens, der noch nach der endgültig enttäuschten Hoffnung einer Annahme der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. für die Reichsverfassung als Mittel der Revolutionsvermeidung wirbt (Erzherzog Johann bot Seebeck nach von Gagerns Rücktritt die Leitung eines antirevolutionären Ministeriums an; S. 177). Das in Frankfurt erworbene Vertrauen ließ Seebeck auch als den geeigneten Vertreter der Interessen der thüringischen und anhaltinischen Staaten bei den Berliner Unionsverhandlungen erscheinen (S. 182-199). Gerber bietet treffende politische Kommentare aus der von ihm durchgesehenen umfangreichen Korrespondenz Seebecks, dessen eigene Handlungsspielräume durch den notwendigen Anschluss an Preußen eng begrenzt waren. (Eine Ausgabe Seebeckscher Briefe scheint ein Desiderat; allein bei der Lektüre der vorliegenden Monografie ergibt sich auch eine nach den Maßstäben der Zeit erstaunlich reiche Liste von Korrespondenten.)

Ausgehend von der These, dass besonders an kleineren Universitäten trotz der zunehmend bürokratisierten Staataufsicht der Persönlichkeit des Kurators auch im 19. Jahrhundert noch große Bedeutung zukam, entwickelt der Verfasser die den zweiten Hauptteil leitenden Fragen: Wie lässt sich die eigenständige Fassung, die Seebeck seinem Jenaer Kuratorenamt gab, beschreiben, welche Erweiterungsmöglichkeiten und Grenzen waren damit gegeben, in welchem Verhältnis standen Selbstbild, Außenwahrnehmung und offizielle institutionelle Beschreibung des Tätigkeitsbereichs (S. 203)? Mit anderen Worten, Gerber zeigt, was ein derart von seiner Tätigkeit begeisterter Wissenschaftsorganisator wie Seebeck während seiner langen Amtszeit alles tat, und was er sich dabei dachte. Meine Besprechung kann nicht auf die detaillierten, faktenreichen und für eine Jenaer Universitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts teilweise grundlegenden Kapitel eingehen, die von Seebecks Mitorganisation des identitätsprägenden Universitätsjubiläums von 1858 handeln (S. 396-434; in das Kapitel verflicht Gerber Seebecks Tätigkeit als Leiter des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde), von Seebecks Versuch, die Wissenschaftsdifferenzierung institutionell mitzuvollziehen (S. 524-554; eine tour de force durch die Geschichte der Jenaer Einzelwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), von dem ‘System der Aushilfen’, zu dem eine gleichbleibend krisenhafte Finanzlage zwang (S. 554-595) und von der Mitgestaltung der Verfassung sowie des äußeren Bildes der Universität durch ihre Baulichkeiten (S. 595-651).

Zwischen 1851 und 1877 gab es wohl kaum ein einzelnes Problem der Jenaer Universität, das nicht über den Schreibtisch des unermüdlichen Kurators gegangen wäre. Insgesamt bestätigt die Darstellung zumindest am Jenaer Beispiel Gerbers wichtige Vermutung, dass der wissenschaftspolitische Zugriff des Staates durch seinen Kurator auch noch im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert eher ‘kameralistisch’ (S. 222) im Sinne territorialstaatlicher Universitätsaufsicht motiviert war. Damit ist der Wissenschaftsgeschichte, deren primäres Interesse nach wie vor die planmäßige Universitätsentwicklung hin zum modernen Großbetrieb der Wissenschaft zu sein scheint, eine gewisse Perspektiverweiterung gegeben. Seebecks Rolle als Kurator zeichnet Gerber in eine seit Beginn des 19. Jahrhunderts angelegte Tendenz zur Intensivierung der Staatsaufsicht über die Jenaer Universität ein (S. 247) – nach 1848 konnten die vier sachsen-ernestinischen ‚Erhalterstaaten’ Seebecks Ernennung dem gegenüber ‘Jena’ nach wie vor misstrauischen Preußen als Reaktionsmaßnahme verkaufen, gleichzeitig aber von der Wiederbesetzung mit dem Ziel dringender Universitätsreformen und einer besseren institutionellen Abstimmung untereinander profitieren (S. 261).

Maßstab seines Handelns war für Seebeck von Beginn an ein Selbstverständnis, das seinen ‘Dienst’ an der Jenaer Universität in einem Ensemble von emblematischen bürgerlich-neuhumanistischen Tugenden beschrieb: ‘Selbstlosigkeit’ im Dienst der wissenschaftlichen Belange und unbedingte persönliche ‘Bescheidenheit’, ‘Objektivität’ und ‘Wissenschaftlichkeit’ als zentrale Entscheidungskriterien. Seebeck selbst charakterisiert diese seine Leitideen immer wieder mit der Vokabel ‘Liberalität’, die für eine spezifische Jenaer Art der Wissenschaftsförderung werben soll – während gleichzeitig unter seiner pragmatisch und professionell geführten Kuratel der staatliche Einfluss auf allen universitären Ebenen die traditionellen korporativen Kompetenzen verdrängt (S. 308; S. 318ff. diskutiert Gerber, wieweit von einer ‘professionellen’ Amtsführung Seebecks gesprochen werden kann, da die wesentlichen Faktoren seiner Tätigkeit wie Bekanntschaften, persönliches Auftreten und intellektuelle Anschlussfähigkeit eben individuell und nicht formalisierbar sind). Nachdem Gerber die politischen Rahmenbedingungen für Seebecks Handeln auf der Ebene der Erhalterstaaten (S. 323-343) und der Stadt Jena (S. 343-352) vorgestellt hat, stellt er in Form einer umfangreichen Exegese des ‘Generalberichts’, den der Kurator 1854 an die vier betreffenden Ministerien sandte, die Agenda vor, an der sich Seebeck bis zum Ende seiner Amtszeit abarbeiten sollte (S. 354-396). Er erkannte die Zwänge eines zunehmend von den großen Universitäten und den preußischen Berufsqualifikationen dominierten ‘Universitätssystems’, ohne Jenas vordringliche Probleme – niedrige Professorengehälter, ein lächerlich geringer Bibliotheksetat und kaum Dispositionsmittel zur Errichtung neuer Lehrstühle (S. 387) – in den Griff zu bekommen.

Wesentliche Möglichkeit, gestaltenden Einfluss auf die Universität zu nehmen, waren für Seebeck die Professorenberufungen. Gerber weist überzeugend nach, wie der Kurator durch eigene Gutachten (S. 437) und die unabhängige Suche nach geeigneten Kandidaten (S. 439) sowie durch seinen im Laufe der Amtstätigkeit gegenüber den Erhalterregierungen wie gegenüber den Fakultäten immer ausgeprägteren Informationsvorsprung aufgrund seiner zahllosen Verbindungen eindeutig ‘dritter Gestalter’ (S. 462) vieler Berufungen werden konnte. Wie gesagt: Die Informantennetze Seebecks, die sich aus einer ‘Clique’ vertrauter Jenaer Professoren, aus langjährigen Bekannten sowie aus prominenten Wissenschaftlern zusammensetzten (S. 475ff.), insgesamt oder auch detailliert für einzelne Fächer darzustellen, bleibt eine lohnende Aufgabe. Ebenso würde der Leser gerne mehr über die Reisen Seebecks erfahren, der häufig die Kollegien potentieller Berufungskandidaten besuchte (S. 482). Seebecks Berufungskriterien waren in erster Linie das ‘wissenschaftliche Talent’ (von dem er sich durch intensive Lektüre der Veröffentlichungen stets selbst ein Bild machte), dann die ‘Lehrgabe’ und die ‘ethische Gesinnung’ der Gesamtpersönlichkeit, schließlich die aktuelle Stellensituation des Wissenschaftlers und sein fachliches und gesellschaftliches Renommée (S. 483-504). Die Berufungsfälle der beiden Philosophen Kuno Fischer und Rudolf Eucken stellt Gerber als Fallstudien für das charakteristische Interesse Seebecks an der Nachwuchsförderung und für die Durchsetzung seiner Berufungskriterien gegen politische und universitäre Widerstände dar (S. 512-524).

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