N. Linder: Die Berner Bankenkrise von 1720

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Titel
Die Berner Bankenkrise von 1720 und das Recht. Eine Studie zur Rechts-, Banken- und Finanzgeschichte der Alten Schweiz


Autor(en)
Linder, Nikolaus
Reihe
Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 53
Erschienen
Anzahl Seiten
298 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niklaus Bartlome

Im Gegensatz zu vielen europäischen Staaten der Frühen Neuzeit konnten die meisten eidgenössischen Stadt- und Länderorte (Kantone) seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer häufiger positive Rechnungsabschlüsse verzeichnen. Nachdem die Überschüsse zunächst überwiegend thesauriert worden waren, begann Bern in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der planmäßigen Bewirtschaftung dieser Gelder. 1710 tätigte es die ersten großen Auslandinvestitionen in England und den Niederlanden, die überwiegend finanzpolitisch motiviert waren. Im Laufe des 18. Jahrhunderts stieg es zu einem der größten Gläubigerstaaten Europas auf.

Im Frühjahr 1710 übertrug Bern die Besorgung des obrigkeitlichen Zahlungsverkehrs mit dem Ausland dem Bankhaus Malacrida &. Cie, das 1701 oder 1702 zwar als privates Unternehmen gegründet worden, jedoch personell eng mit dem Berner Patriziat verflochten war. Im markanten Gegensatz zu Handelsbanken im übrigen Europa, die hauptsächlich der Kreditschöpfung für die Bedürfnisse von Fürstenhäusern dienten, widmete sich das Haus zusammen mit der von ihm mitbegründeten Bank Samuel Müller & Cie. in London somit der Anlagetätigkeit im Ausland. Neben dem Giro- und Diskontgeschäft betrieben die beiden Firmen für die Einwohner der Stadt Bern auch Depositen- und Darlehensgeschäfte in beträchtlichem Umfang.

1719 erwarb Samuel Müller & Cie. mit Berner Staatsgeldern für 150.000 Pfund Sterling Aktien der South Sea Company, die eine gesicherte Dividende von fünf Prozent abzuwerfen versprachen. In Frankreich hatte der Schotte John Law inzwischen im Auftrag des Regenten mit der Umsetzung seiner Finanzreformen begonnen, welche die vollständige Abschaffung des Gold- und Silbergelds und dessen schrittweise Ersetzung durch Papiergeld vorsahen, wozu er neben Bankgeld auch die Obligationen und Aktien der Handelskompanien zählte. Ziel dieser Maßnahmen war es, die Staatsschulden zu reduzieren und durch Ausweitung der Geldmenge die Zinsen zu senken und damit die Wirtschaft anzukurbeln. Mit geschickten Manipulationen verstand es Law, eine extreme Aktienhausse auszulösen. In London wurde dieses Vorgehen imitiert und die South Sea Company führte 1720 vier Aktienemissionen durch, die auf große Nachfrage stießen. Es kam zu einer enormen Spekulationswelle. Nach einer Verkaufsorder Berns erzielte Müller & Cie. bis am 12. Juni einen Bruttogewinn von knapp 152.000 Pfund Sterling. Am 5. Juli verkaufte das Haus Aktien im Nennwert von 26.000 Pfund und erzielte damit gar einen Bruttogewinn von 174.000 Pfund Sterling.

Mitte Juli überschritten die Kurse den Kulminationspunkt und im Herbst platzte die Spekulationsblase der «South Sea Bubble». Auch die beiden Banken wurden von der Handelskrise erfasst, die nun von den Zentren Paris und London ausging und bald weite Teile Europas erfasste. Zwischen November 1720 und Juni 1721 wurden beide Häuser zahlungsunfähig. Allein bei Malacrida & Cie. belief sich der Verlust auf 456.000 Taler, womit die Gläubiger schließlich fast auf die Hälfte ihrer Forderungen zu verzichten hatten. Bis es allerdings soweit war, entspannten sich in Bern und London langwierige und komplizierte Liquidationsverfahren.

Die spektakulären Ereignisse sind aus Berner Sicht bisher nur selten und bloß kursorisch und oberflächlich untersucht worden. Linder rekonstruiert minutiös den Verlauf und die Bewältigung der Krise, wobei er sich zu einem großen Teil auf ungedruckte Quellen in Bern und London stützt. Dabei wird bald klar, dass im Höhepunkt des spekulativen Börsenbooms nicht nur überlange Kommunikationswege, sondern auch die ungenügende Zahl von eigentlichen Spezialisten Berns Handeln ungünstig beeinflussten. Überzeugend schildert Linder dann die Interessen, Handlungsweisen und Verflechtungen der verschiedenen Akteure und Gläubigergruppen. Die langjährigen und langwierigen Folgen des Bankzusammenbruchs illustrieren, dass Bern damals für solche Fälle über kein taugliches Konkursrecht verfügte. Das gesetzliche wie auch ein ad hoc-Verfahren zur Liquidation der Bank Malacrida ließen sich beide nicht durchführen. Zur großen Erleichterung aller Beteiligten übernahm 1722 schließlich David Gruner das Haus mit allen Aktiven und Passiven, doch kam dieser Auskauf formell erst 1732 zum Abschluss.

Da nicht nur der Staat, sondern auch weite Teile des bernischen Patriziats zu den Gläubigern von Malacrida & Cie. gehörten, führte der Bankrott der Bank zeitweise zu einer Überlastung der politischen Strukturen und etablierte Verfahren versagten, bevor situatives Bargaining und Lavieren schließlich zu Auswegen aus scheinbaren Sackgassen führten. Von den wirtschaftlichen Folgen des Bankrotts war fast ausschließlich die Bevölkerung der Hauptstadt betroffen. Die privaten Einzelgläubiger verloren eine Summe, die ungefähr den Kosten des Zweiten Villmergerkriegs entsprochen haben soll, doch sind aufgrund der Quellenlage nur wenige Einzelfälle auch konkret fassbar. Da moderne Untersuchungen zum Staatshaushalt fehlen, lässt sich auch der Verlust der Stadt Bern kaum einschätzen.

Linders sorgfältige Studie wird im Anhang durch Kurzbiografien der wichtigsten Protagonisten und mit dem Abdruck von besonders relevanten Quellenstücken ergänzt. Mittels einer höchst problematischen Umrechnung in heutige Frankenbeträge versuchte der Autor – wie viele andere Verfasser – immer wieder, die Höhe der zahlreichen Geldbeträge zu verdeutlichen. Gerade bei Laien, für die solche Verfahren gedacht sind, werden damit aber eher falsche Vorstellungen geweckt. Besser geeignet wäre beispielsweise eine Umrechnung in damalige Tages- oder Jahreslöhne.

Linders rechtshistorische Dissertation eröffnete neue Perspektiven auf eine sonst intensiv erforschte europäische Handelskrise. Sie schildert deren Rückwirkungen auf eine weit entfernte Stadt, die wirtschaftlich sonst noch stark von Landwirtschaft und Kleingewerbe geprägt war. Die Studie beleuchtet juristische, wirtschaftliche, politische und soziale Auswirkungen einer Spekulationswelle, die uns seit dem Platzen der so genannten «dot.com-Blase» wieder vertrauter geworden sind. Trotz der teilweise schwierigen und komplizierten Materie bleibt das Buch auch für Nicht-Spezialisten eine leicht lesbare und spannende Lektüre.

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