: Die Grenzen der Neutralität. Schweizerisches KSZE-Engagement und gescheiterte UNO-Beitrittspolitik im Kalten Krieg 1969–1986. Zürich 2004 : Chronos Verlag, ISBN 3-0340-0691-8 492 S. € 44,80

: Kleine Neutralitätsgeschichte der Gegenwart. Ein Inventar zum neutralitätspolitischen Diskurs in der Schweiz seit 1943. Bern 2004 : Haupt Verlag, ISBN 3-258-06730-9 455 S., 17 s/w Abb. € 45,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Danylow, Otto Wolff - Stiftung

Ist die große Zeit des Neutralitätsgedankens seit Ende des Kalten Kriegs vorbei? Dieser Gedanke liegt nahe, vor allem bei vielen Beobachtern in den NATO-Staaten: In Zeiten globaler Bedrohung durch Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und politische Risiken – ob durch unsichere Energieversorgung oder unfähige Regierungen verursacht – scheint auf den ersten Blick die Frage nach Bündniszugehörigkeit eines europäischen Staates und sein Verhalten bei militärischen Auseinandersetzungen von zweitrangiger Bedeutung. 1

Doch die Vernachlässigung des Neutralitätskonzepts verkennt die realen politischen Verhältnisse in Europa, nationale Traditionen fordern Neutralität in Schweden und der Schweiz sowie in sehr spezieller Weise in Finnland 2 und konstitutiv im österreichischen Staatsvertrag von 1955, auch die irische Neutralität sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. Die bis 1990 noch nichtpaktgebundenen Staaten Albanien und Jugoslawien existieren in der damaligen gesellschaftlichen bzw. territorialen Ausprägung nicht mehr. Von diesen Staaten hat allein die Schweiz bislang auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union verzichtet, sicher ist dies ein hinreichender Grund, zwei Neuerscheinungen aus der Schweiz zur zeitgeschichtlichen Relevanz des Neutralitätsgedankens zu besprechen.

Mit seiner 2004 erschienenen „Kleinen Neutralitätsgeschichte der Gegenwart“ verfolgt Georg Kreis, Zeithistoriker in Basel und Direktor des dortigen Europainstituts eine anspruchsvolle Zielsetzung. Er konfrontiert politische Entscheidungen, die in der Regel für eine engere Auslegung des Neutralitätsgedankens standen, mit den Absichten und Konzepten wesentlicher Entscheidungsträger der Schweizer politischen Funktionseliten seit Ende des Zweiten Weltkriegs. In seiner Synthese, Kreis nennt sie „Kritische Bewertung des Neutralitätsdiskurses“, veranschaulicht er zwanzig verschiedene Begründungszusammenhänge des Schweizer Neutralitätsverständnisses unter Überschriften wie „Botschaften an das Ausland“, „Zivilreligiöses Credo“ oder „Kontinuität gut – Wandel schlecht“. Sein Inventar zum neutralitätspolitischen Diskurs beschliesst Kreis mit einem Ausblick auf künftige Diskussionen über die Neutralität.

Im Ganzen ist ihm die Bestandsaufnahme zur Neutralitätsdebatte sehr gut gelungen, eigentlich bietet der Band sogar noch mehr: vor allem für den Nicht-Schweizer ist er gleichzeitig eine Einführung in Schweizer politisches Denken und Handeln. Kreis behandelt wesentliche Aspekte der Schweizer Europapolitik. Insbesondere dieser Aspekt hat seine unmittelbare Bedeutung nicht verloren. Kreis gehört auch dem Herausgebergremium des offiziösen außenpolitischen Standardwerks (Diplomatische Dokumente der Schweiz 3) an, was seiner Stimme wissenschaftliches wie politisches Gewicht verleiht.

Nach soviel Einleitung einige Bemerkungen zu konkreten Aussagen und Sachverhalten: das Prinzip der immerwährenden Neutralität der Schweizer Eidgenossenschaft war weder im Außenverhältnis noch nach Innen unumstritten. Die Diskurse kreisten um die reale Ausfüllung des Prinzips Neutralität: Wie sollte man die Schweizer Haltung im Zweiten Weltkrieg werten? Die bevorzugte Einstellung war eindeutig: General Henri Guisan sprach 1946 vom „harten Willen, die Neutralität zu wahren“ (S. 35). Die Wehrhaftigkeit bildete nach dem Zweiten Weltkrieg den nationalen Grundkonsens, wenngleich einige Jahre früher, 1941, Carl J. Burckhardt, auch Vizepräsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), die aktive, im „Dienst der zerrissenen Völkergemeinschaft stehende Neutralität“ betont hatte, deren Aufgabe er mit den „Verschwinden der Daseinsberechtigung“ für die Schweiz gleichsetzte (S. 35). In der Tat ging es während des Krieges aus der Sicht Nazi-Deutschlands und der Alliierten jeweils primär um den unmittelbaren, also praktischen Nutzen einer neutralen Schweiz.

Das Kosten-Nutzen Kalkül veränderte sich bei den Kriegsparteien naturgemäss im Verlauf des Konflikts, in gleichem Masse aber auch für die Schweiz, was bis in die Gegenwart hinein zu Auseinandersetzungen über die Moralität des Handelns mit dem NS-Regime aufwirft. Zweifellos versuchte die Schweizer Führung während der Kriegszeit ihre Position als neutrale Drehscheibe auszubauen, ähnlich wie Schweden, sie wollte sich für beide Kriegsparteien unentbehrlich zu machen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz war ein Faktor, ein anderer sicher die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ in Basel, gegründet 1930 als internationales Organ der Zentralbanken zur Abwicklung des Reparationsverfahrens. Gian Trepp überschreibt seine Studie über die BIZ von 1997 „Von Hitlers Europa-Bank bis zum Instrument des Marshall-Plans“.4

In diesem Zusammenhang soll nur das Phänomen interessieren, dass in der BIZ Achsenmächte und Alliierte bis Kriegsende zusammenarbeiteten. Dieses Interesse am neutralen Finanzplatz Schweiz und seinen Kontaktstrukturen hegten auch einflussreiche Kreise in den USA, weniger im Finanzministerium des Henry J. Morgenthau als beim OSS-Repräsentanten Allen W. Dulles, der mit deutschen Abgesandten des Admirals Wilhelm Canaris, Chef des Amts Ausland/Abwehr, Kontakt hielt. 5 Absolute Moralkategorien für dieses Vorgehen verbieten sich in der Rückschau, insbesondere für einen Rezensenten im Abstand von 60 Jahren. Für die Schweiz bot aber die Schaffung der Vereinten Nationen Anlass genug, die spezifische Neutralitätspolitik im Krieg zu rechtfertigen: Eine aufschlussreiche Position des Altnationalrats Fritz Studer sei hier im Zitat wiedergegeben: „Falsch ist die Behauptung, die Neutralität habe uns gerettet, aber auch deswegen, weil wir gar nicht neutral gewesen sind, die Neutralität zum Teil aus Not aufgeben mussten“ (S. 34)

Die Schweiz tat sich schwer mit den transnationalen Ambitionen im Nachkriegseuropa. Die Montanunion wurde als handelsbeschränkendes Kartell interpretiert, die OEEC betrachtete man indessen nur als technischen Zusammenschluss, die politische Dimension des Marshall-Plans blendete man aus, man gehörte damit zum Westen, ohne über die Gebühr gebunden zu sein. Als die EWG schon Anfang der 1960er-Jahre zu einer wirkungsvollen Integration wurde, hielt man sie in der Schweiz für zu politisch ausgerichtet, um mit der Neutralität vereinbar zu sein, die EFTA hingegen erschien als allein wirtschaftlich operierendes Organ akzeptabel. Ähnlich wird die Europadebatte auch in den kommenden Jahrzehnten verlaufen, etwa in der Frage des europäischen Wirtschaftsraums EWR. Erst das Ende des Kalten Krieges 1990 und die jugoslawischen Nachfolgekonflikte haben für die politische Klasse in der Schweiz das Thema Europapolitik und Neutralität neu definiert.

Grenzen der Neutralität im Kalten Krieg wurden immer wieder erkennbar: die Dissertation von Thomas Fischer widmet sich der praktischen Politik der Schweiz in der so genannten Entspannungspolitik von 1969-1986. Fischer untersucht das Schweizerische KSZE-Engagement und die gescheiterte UNO-Beitrittspolitik im Kalten Krieg. Fischer betreibt zeitgeschichtliche Quellenarbeit auf umfassender Grundlage, nutzt Interviews mit Zeitzeugen aus der Administration, sichtet Nachlässe wichtiger Funktionsträger und gelangt damit auch zu wesentlichen Erkenntnissen über die Funktionsweise der außenpolitischen Konsensbildung in der Schweiz. Aus deutscher Sicht erscheinen die Parallelen in den Prozessen der außenpolitischen Willensbildung bemerkenswert. In der Schweiz wie in der Bundesrepublik Deutschland bildete man in Verbindung mit den Außenministerien Studiengruppen, die mögliche Änderungen im politischen Grundkonsens vorbereiten bzw. begleiten sollten. In der Schweiz gab das Eidgenössisches Politische Departement (EPD) – später umbenannt in Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten – im März 1971 die Gründung einer «Studiengruppe für Aussenpolitik» bekannt, gedacht als „Think tank des Bundesrates zur Entwicklung von Ideen und Konzepten in der Aussenpolitik“ (S. 79). Bundesrat Pierre Graber begründete dies mit den Unsicherheiten der politischen Entwicklung in Zuge der Détente-Politik seit 1969, man sähe sich einer terra incognita gegenüber, in der Innen- wie in der Aussenpolitik. Sicher spielte bei dieser Einschätzung auch die Verunsicherung über die Ziele der internationale Studenten- und Jugendbewegung der „68er“ eine Rolle.

Diese Beobachtungen machen verständlich, warum Fischer sich wissenschaftlich auf ein rollentheoretisches Interpretationsmuster – vor allem nach Kalevi J. Holsti – stützt. Denn es ging nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz darum, außenpolitische Rollenkonzepte zu entwickeln, solche, die nationale Interessen einerseits befriedigten, andererseits die Rollenerwartungen der Außenwelt erfüllten. Das „angemessene Rollenverhalten“ in den internationalen Beziehungen stand dabei im Vordergrund. Handlungsträger waren die nationalen Eliten aus Politik und Verwaltung, dazu weitere Personenkreise: politische Berater und Institute, dazu akademische und journalistische Beobachter. Sie alle hatten ihre Vorstellungen über das Schweizer nationale Rollenkonzept der immerwährenden Neutralität, das im behandelten Zeitraum von 1969 bis 1986 durch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und durch die wachsende Bedeutung der UNO herausgefordert wurde (S. 41).

Die Schweiz wurde als Sonderfall gesehen, die Neutralität sei als Identitätsträger überhöht worden, die Sonderstellung sei verabsolutiert worden, durchaus manchmal mit irrationaler Konnotation, so die Kritik vor allem aus wissenschaftlicher Sicht (Daniel Frei, Alois Riklin, Jürg Martin Gabriel). Tiefere Einsichten in das Denken dieser Autoren bietet im Übrigen Kreis, der sie zum geisteswissenschaftlichen Diskurs zählt, im Gegensatz zu den Juristen Bindschedler und Thürer, im Gegensatz zum Politiker und Journalisten Bretscher und dem zeitweise in Berlin lehrenden Historiker und Nationalrat Walter Hofer, die für eine praktisch politische, also staatsbürgerliche Position zum Thema Neutralität standen (Kreis S. 253-332).

Mit der KSZE tat sich die Schweizer Regierung anfangs schwer: zwar hatten die Supermächte die „Ära der Verhandlungen“ begonnen, aber im EPD glaubte man 1969 nicht an eine Lösung der innerdeutschen Frage, also an einen Modus Vivendi der Bundesrepublik Deutschland mit der UdSSR und anderen RGW Staaten. Zwar hatte Aussenminister Willy Spühler bilaterale Gespräche mit seinen rumänischen und schwedischen Amtskollegen über die von den osteuropäischen Staaten in Budapest vorgeschlagene Konferenz geführt, weitere sollten mit Österreich und Jugoslawien folgen. Weder die Chancen für eine Konferenz noch die sowjetischen Absichten mit ihrer «Entspannungspolitik» seien klar erkennbar gewesen. Die Schweiz wolle keine herausragende Rolle (rôle préponderant) spielen, aber mit anderen Neutralen zusammen aktiv mitwirken. (S. 85) Eine interne Bewertung unterstellte den Sowjets, mit der Konferenz „die westeuropäische Integration aufzuhalten, den Status quo staatsvertraglich zu sichern, um von dieser Sicherung aus ideologisch und eventuell militärisch noch weiter in den Westen vorzustossen“ (S. 87 Botschafter Franz Blankart).

Die zeitgenössischen Kritiker der deutschen Ostverträge argumentierten ähnlich, teils noch schärfer, was sie alle aber bewusst oder unbewusst verkannten, war die Tatsache, dass die UdSSR mit dem Konferenzprojekt de facto von einem gesamteuropäischen System unter Einschluss der USA und Kanadas ausging, sich also auf einen friedlichen Dialog und auf einen ökonomischen Wettbewerb einließ. Mögen die ideologischen Absichten bei vielen Sowjetführern auch in der Nutzung des Kapitalismus gelegen haben, um ihn zu überwinden: nach innen wie nach außen überwog die Perzeption einer Kooperationschance, das Erdgas- Röhren-Projekt schuf die Basis für eine weltwirtschaftliche Integration der UdSSR, die Menschen in Osteuropa nutzten die sich langsam entwickelnden Kontakte in den Westen, der erste Schritt zur Überwindung des Kalten Kriegs war gemacht. Auch der Westen verfolgte ideologische Zielsetzungen, das pluralistische, marktwirtschaftliche System war dazu in vielfacher Hinsicht attraktiver, allemal wirtschaftlich: damit wurden kommunistische Funktionseliten nunmehr regelmäßig konfrontiert. Denn auch bei ihnen ging es um ihr Rollenverständnis, um nationale und ideologische Identität.6

Fischer berichtet, dass der Nationalrat Hofer 1975 Befürchtungen artikulierte, die Schweiz könne sich international isolieren; diese Befürchtungen waren in den Jahren vorher schon in der oben erwähnten Studiengruppe diskutiert worden. Im Kern ging es um die Auslegung der Schweizer Neutralität: Wie viel – quasi – Autarkie blieb notwendig, wie viel internationale Kooperation war nötig, internationale schweizerische Interessen wirksam zur Geltung zu bringen. Im Zuge der KSZE-Folgekonferenzen entschied die Schweizer Regierung sich für eine aktivere Rolle, die neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten taten in der Endphase des Prozesses viel, um den innereuropäischen Dialog in Gang zu halten.

Zweiter Schwerpunkt der Studie Fischers ist die lange Geschichte um den Beitritt der Schweiz zur UNO. Sie ist ein Beispiel für die Langlebigkeit von politischen Begründungszusammenhängen, von institutioneller Inflexibilität und vielleicht auch von juristischer Axiomatik, die bei der engen Auslegung des Schweizer Neutralitätsbegriffs eine wesentliche Rolle spielt. Hatte die Schweiz in der KSZE seit 1977 bewusst aktiv internationales Konferenzhandeln mitgestaltet, schien die Mitgliedschaft in der UNO nicht vereinbar mit der Neutralität. Obwohl die Völkerrechtler Schindler und Thürer 1985 den Vorstoß wagten, indem sie darauf hinwiesen, dass das außenpolitische Leitmotiv „Neutralität, Solidarität, Universalität“ den UNO-Beitritt nahe legte, scheiterte der Bundesrat damit in der Volksabstimmung. Die langjährige Identifikation der Neutralität mit einer weitgehenden internationalen Bindungslosigkeit, sieht man von den technischen Zusammenarbeitsstrukturen ab, hatte Folgen für die Einstellung der Bevölkerung: Die bewaffnete Rundumsicherung, Fischer spricht von einer als „total“ verstandenen Neutralität, galt unverändert als Leitbild. Zu Recht verweist er auf den Gegensatz zum KSZE-Prozess, hier konnten die Schweizer Funktionseliten ohne gesellschaftlichen Legitimationsdruck pragmatisch auf politische Notwendigkeiten reagieren. (S. 465)

Erst im Jahr 2002 setzte sich die offenere Haltung zur UNO-Mitgliedschaft durch, auch die StimmbürgerInnen der Schweiz akzeptierten die veränderte Lage. Eine UNO-Mitgliedschaft lässt sich seither mit der Neutralität verbinden.

Vorausgegangen waren allerdings schwerwiegende Veränderungen des europäischen politischen Systems. Diese Zusammenhänge verdeutlicht Kreis: Er zitiert den Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung Hugo Bütler, der 1992 feststellte, dass die Schweiz sich mit ihrer Maxime der immerwährenden Neutralität am stärksten durch die Perspektive der europäischen Integration provoziert sieht. Die Entscheidung anderer neutraler Staaten für die Mitgliedschaft in der EU mag Wirkung entfaltet haben. Ganz sicher wurde die Schweiz Mitte der 1990er-Jahre auch durch das Angebot der NATO herausgefordert, sich als neutraler Staat in den „Partnership for Peace“-Programmen (PFP) Richtung Osteuropa zu beteiligen. Zu dieser Zeit war der UNO-Beitritt noch nicht durchsetzbar, und obwohl es sich bei der PFP nur um ein Maßnahmenprogramm handelte, wurde die Schweizer Beteiligung zurückgestellt und besonders vom rechten und linken Rand des politischen Spektrums kritisiert. Es ist ein eigenartiges, wenngleich häufig festzustellendes Moment: Denken in den Kategorien nationaler Autarkie findet sich häufig in den extremeren politischen Gruppierungen – nicht nur in der Schweiz.

Eine Art Durchbruch für das Prinzip der internationalen Solidarität unter Beibehaltung der grundsätzlichen Schweizer Neutralität brachte der Kosovokonflikt. Die Schweiz beteiligte sich an den nichtmilitärischen Sanktionen gegen das Miloševic-Regime 1998 und mit dem Mandat der UNO für einen Friedenseinsatz gewährte die Schweiz der NATO Überflugrechte. Unbewaffnete Truppenkontingente nahmen an der KFOR-Mission teil, zusätzlich wurden in begrenztem Umfang in Albanien Katastrophenhilfsdienste im Auftrag des UNHCR übernommen. Derartige Anzeichen einer internationalen Integrationspolitik jenseits der traditionellen Neutralitätsdogmatik wurden in der Schweizer Öffentlichkeit stark kritisiert (Kreis S. 226-233).

Kreis zieht einen bemerkenswerten Schluss aus seiner Inventarisierung der Leitsätze der Schweizer Neutralitätskonzeptionen: Problematisch sei nicht die Neutralität selbst, sondern der Umgang mit ihr. Positiv sei vor allem die von ihr ausgehende Gewähr, das bescheidene Militärpotenzial auf Selbstverteidigung zu beschränken. Demgegenüber bestände ein Solidaritätsgebot: Man müsse sich gegebenenfalls an der Aufrechterhaltung militärischer Sicherheit international und supranational beteiligen – eine Formulierung, die sich auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus bezieht - und man müsse sich in größerem Umfang auf zivile Programme einstellen, die also ausdrücklich nichtmilitärisch global die „wirtschaftliche, soziale und politische Lebensqualität“ verbessern sollen (Kreis S. 386).

Das Schweizer Außenministerium definiert aktuell die Neutralitätsidee graduell neu: Sie sei niemals Selbstzweck gewesen. Als Instrument verstanden, habe sie der allseitigen Sicherheit der Schweiz gedient. „Es ist deshalb stets kritisch zu hinterfragen, ob die Neutralität tatsächlich der bestmöglichen Wahrnehmung der außen- und sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz zu genügen vermag. Sollte sich eines Tages ein tragfähiges internationales Sicherheitsdispositiv – z.B. im Rahmen der EU – bewähren, welches der Schweiz ebenso viel Sicherheit bieten würde wie die Neutralität, so könnte zu Gunsten eines solchen Sicherheitssystems auf die Neutralität verzichtet werden.7 Die Völkerrechtler des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten sehen die Neutralität also nicht mehr als identitätsstiftendes Konstrukt für den nationalen Zusammenhalt der Schweiz, sondern sie halten es für möglich, im Rahmen der EU eine sicherheitspolitische Struktur zu schaffen, in die sich auch die Schweiz eingliedern könnte. Zweifellos strebt die EU mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik diese multilaterale Sicherheitsstruktur, dieses neue europäische Dispositiv an, mehr noch, der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents hat dieses Ziel kodifiziert.

Wenn die Schweiz diese gesamteuropäische Sicherheitslösung für realisierbar hält, wäre dann nicht ein EU-Beitritt die notwendige Konsequenz, da ja ohnehin die EU geografisch, geopolitisch und wirtschaftlich eine Art Verankerung für die Schweiz bietet? Nur wer sich in den Brüsseler Entscheidungsprozessen direkt beteiligt, kann am Ende für die Berücksichtigung der nationalen Belange und für die Gestaltung des europäischen Raumes sorgen!

Anmerkungen:
1 Vgl. eine Bestandsaufnahme aus der Endphase des Kalten Kriegs wie: Papacosma, Victor S.; Rubin, Mark R. (Hgg.), Europe’s Neutral and Nonaligned States, Wilmington 1989.
2 Erst mit der KSZE-Konferenz in Helsinki gewann Finnland eine wirklich europäische Position, so erkennbar in: Kekkonen, Urho, Finnlands Weg zur Neutralität, Düsseldorf 1975.
3 Die Edition ist zumindest partiell im Internet verfügbar unter http://www.dodis.ch. Auch die systematische Bibliografie sei hier erwähnt.
4 Trepp, Gian, Bankgeschäfte mit dem Feind. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich im Zweiten Weltkrieg. Von Hitlers Europabank zum Instrument des Marshallplans, Zürich. 1993.
5 Höhne, Heinz, Canaris. Patriot im Zwielicht, München, 1976. S. 383f. In Santander, Spanien trafen sich OSS-Gründer Donovan und sein britischer Kollege General Menzies mit Canaris im Spät-Sommer 1943, um über eine Beendigung des Krieges im Westen zu sprechen – und wohl auch über die Möglichkeiten des deutschen Widerstands.
6 Vgl. die Berichte des Eidgenössischen Departements für Auswärtiges zur UN-Politik der Schweiz unter http://www.eda.admin.ch/sub_uno/g/uno/publi/pdf.html.
7http://www.eda.admin.ch/sub_dipl/g/home/thema/intlaw/neutr.htm.

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