Titel
Wege in der Gewalt. Die modernen politischen Religionen


Herausgeber
Maier, Hans
Erschienen
Frankfurt am Main 2000: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 9,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolaus Buschmann, Historisches Seminar, Universität Tübingen

Ursachen und Rahmenbedingungen kollektiver Gewalt rücken - nicht zuletzt aufgrund aktueller Krisen und Kriege - seit gut einem Jahrzehnt wieder verstärkt in den Fokus der Forschung. Die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Europa aufgebrochenen Konflikte haben offensichtlich das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mehr als jede andere Epoche zuvor aus Krieg, Völkermord und staatlicher Gewaltausübung bestand. Das neu erwachte Forschungsinteresse beschränkt sich indes nicht allein auf die Geschichtswissenschaft, sondern ist ebenso in den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften zu beobachten. Wie ein Blick in die angloamerikanische und die französische Forschung zeigt, handelt es sich bei diesem interdisziplinären Prozess auch um ein internationales Phänomen. Die mannigfaltigen Forschungsaktivitäten der letzten Jahre sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gewaltträchtigkeit der Moderne in den Jahrzehnten zuvor keineswegs ignoriert wurde. Dies belegt eine kaum mehr zu überblickende Publikationslandschaft zu Themenkomplexen wie Nationalismus, Faschismus und Totalitarismus. Ebensowenig kann übersehen werden, dass die großen gesellschaftstheoretischen Entwürfe der letzten Jahrzehnte - Habermas, Luhmann, Münch - das Themenfeld zwischenstaatlicher Gewalt tendenziell ausblenden 1.

Der von Hans Maier herausgegebene Sammelband über die "modernen politischen Religionen" (Untertitel) nimmt die älteren Forschungsstränge auf und verschränkt sie mit einem - wie der Klappentext verspricht - neuen ideengeschichtlichen Interpretationsansatz, der die quasi-religiösen Antriebskräfte kollektiver Gewalt in den Blick nimmt. Der im Rahmen eines langjährigen Münchner Forschungsprojekts über "Totalitarismus und politische Religionen" entstandene Band versammelt Historiker, Politologen, Literaturwissenschaftler und Philosophen von internationaler Reputation. Der eigentliche Fokus des Sammelbandes, dies sei vorweggenommen, kommt in dem gewählten Titel allerdings nicht zum Ausdruck. Denn die an Raymond Aron angelehnte Leitfrage nach der "Mobilisierung politischer Macht mit Hilfe ‚säkularer Religionen'" (8) grenzt das mögliche Themenspektrum auf den Entstehungshintergrund des Totalitarismus ein. Auch fehlt, was besonders zu bedauern ist, ein einleitender Text, der Konzeption und Schlüsselbegriffe erläutern würde. Das knappe Vorwort aus der Feder des Herausgebers genügt dem nicht.

Die ersten drei Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich mit dem Gewaltpotential der Aufklärung bzw. der Französischen Revolution. Dabei kommen politische Handlungsmuster zur Sprache, wie sie beispielsweise mit dem hegelianischen Begriff des Tugendterrors - also der moralisch begründeten und ideologisch transzendierten Gewaltausübung durch den Staat - beschrieben werden. Inwiefern die politischen Denkfiguren der "Sattelzeit" (Koselleck) die Gewaltexplosionen des 20. Jahrhunderts vorausahnen lassen, wird von den Autoren allerdings unterschiedlich beurteilt. So verneint Bronislaw Bracko in seinem Beitrag über den Terror des Wohlfahrtsausschusses und die napoleonische Herrschaft ausdrücklich die totalitäre Vorbildfunktion der Französischen Revolution. Für ihn begründet sich der "autoritäre und terroristische Abweg des 18. Jahrhunderts" aus den spezifischen Zeitumständen heraus, ist also vor allem "die Folge militärischer Niederlagen, der schweren Krise einer Demokratie und der fanatischen und begeisterten Radikalisierung des revolutionären Projekts" (35). Brackos eigentliches Argument besteht jedoch darin, dass der Terror scheiterte, als er sich von seinem Umfeld zu lösen und mit einer eigenen Legitimität und Finalität auszustatten versuchte - also genau an jenem Punkt, der den Ideologien und totalitären Parteien des 20. Jahrhunderts als Sprungbrett diente.

Hermann Lübbes anregend formulierten Überlegungen zum Hygienegedanken der Aufklärung thematisieren einmal mehr die Ambivalenz der Moderne, ohne der Versuchung zu erliegen, in den trüben Wassern der Gegenaufklärung zu fischen. Vielmehr werden am Beispiel der Reformfriedhöfe zivilisatorische Zugewinne deutlich, die das Verhältnis zum Tod nicht nur in hygienischer Hinsicht, sondern auch in einem ästhetischen, moralischen und erinnerungskulturellen Sinne humanisierten. Der Zusammenhang zwischen Reform und Terror hat indes, wie das Beispiel der Guillotine zeigt, "kontingenten Charakter" (39). Dennoch lässt sich der Hygienegedanke als eine dem Geist der Aufklärung verpflichtete Metapher begreifen, welche die Eigenlegitimation ethnischer ‚Säuberungen' beschreibt, eine These, wie sie in ähnlicher Form u.a. George L. Mosse formuliert hat 2. Wie Bracko und Lübbe umkreist auch der Beitrag von Hans Maier über "Gewaltdeutungen bei Denkern des 19. Jahrhunderts" die Einsicht Hegels in die Vernichtungsaspekte der absoluten Freiheit. Hier formuliert sich zugleich ein wirkungsgeschichtliches Zentralmotiv, das die Französische Revolution dem deutschen Bildungsbürgertum vermachte, ein Aspekt, dem Maier allerdings nicht weiter nachgeht. Wie bereits Panajotis Kondylis weist auch Maier darauf hin, dass der von Clausewitz entwickelte Begriff des ‚ursprünglichen' Krieges keineswegs die totalitären Implikationen aufweist, die häufig in ihn hineingelesen werden. Clausewitz hielt die Totalisierung des Krieges in ausdifferenzierten Kulturen vielmehr für eine "logische Träumerei" 3. Ein intellektueller Beitrag zur Vernichtungsgewalt des 20. Jahrhundert stellt demgegenüber das Werk Friedrich Nietzsches dar. "Um Massenvernichtung möglich zu machen", so Maier, "bedarf es neben äußerer Zurichtungen auch psychologischer Hilfestellungen und legitimierender Argumente." (65)

Befassen sich die Aufsätze von Bracko, Lübbe und Maier mit dem totalitären Potential des ‚langen' 19. Jahrhunderts, so stehen in den folgenden vier Beiträgen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts selbst im Mittelpunkt. So fragt Peter Krüger nach dem Stellenwert des Ersten Weltkrieges als einer "Epochenschwelle", an der mit der übermächtigen Rolle des Staates jene umfassenden Planungsphantasien en vogue wurden, wie sie z.B. von Lenin und Wilson formuliert wurden. In der Totalisierung des Krieges trat die Ambivalenz der Moderne erstmals in ihrer ganzen katastrophisch-apokalyptischen Reichweite in das kollektive Bewusstsein 4. Vor dem Hintergrund dieser Krisenerfahrung, so Krüger, lasse sich die Entstehung "politischer Religionen als Ersatz für verloren gegangene geistig-religiöse Verankerung" (81) und damit als Vorstufe totalitärer Ordnungsmodelle begreifen. Aus einer anthropologischen Perspektive nähert sich Omer Bartov - bekannt durch seine Forschungen über "Hitlers Wehrmacht" 5 und seine von wohltuender Nüchternheit geprägten Beiträge zur Goldhagenkontroverse - der universalen Doppelgestalt aus "Utopie und Gewalt", so der Titel seines Aufsatzes. Die Vorstellung, die Neuschöpfung des Menschen bedinge die Auslöschung des Bestehenden, scheint sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte zu ziehen. In einer Art tour d´horizon befasst sich Bartov mit den Wiedergängern dieser Denkfigur in den Zerstörungs- und Endlösungsphantasien des 20. Jahrhunderts, versäumt es allerdings, seine Überlegungen exemplarisch und mit Hilfe historischen Materials zu vertiefen.

Die anschließenden Aufsätze von Michael Rohrwasser und Helmuth Kiesel beschäftigen sich mit der Faszinationsmacht totalitärer Systeme am Beispiel des Kommunismus und des Nationalsozialismus. Anders als in der älteren Totalitarismusforschung geht es hier weniger um die Identifikation struktureller Analogien über einen Systemvergleich als vielmehr um die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz totalitärer Herrschaft. Dazu bedurfte es zwar in struktureller Hinsicht, aber doch nicht in jedem Einzelfall totalitärer Gewalt, wie Rohrwasser an der geneigten Haltung unterschiedlicher westlicher Intellektueller gegenüber dem Stalinismus verdeutlicht. Helmuth Kiesel geht es demgegenüber um eine Rekonstruktion der nationalsozialistischen "Erfolgsgeschichte" aus zeitgenössischer Sicht, ein Unterfangen, das bekanntlich - wie der Fall Jenninger vor Augen geführt hat - von Risiken umsäumt ist. Er kommt zu dem Schluss, dass der Nationalsozialismus "nicht nur aufgrund seiner Verführungs- und Manipulationskünste, sondern auch aufgrund seiner politischen und ökonomischen Erfolge sowie aufgrund seiner Sinn- und Erlebnisangebote" (157) faszinierend auf die Zeitgenossen gewirkt habe. Angesichts autobiographischer Zeugnisse wie der Victor Klemperers oder Sebastian Haffners erscheint es dennoch fragwürdig, ob eine Faszinationsgeschichte des Nationalsozialismus - deren legitimes Erkenntnisinteresse nicht in Zweifel gezogen werden soll - ohne eine Geschichte des Wegschauens auskommen kann, war der mit Hitlers Machtergreifung einsetzende Zivilisationsbruch doch ein durchaus öffentliches Phänomen 6.

Auf einer eher konzeptionellen Ebene bewegen sich die beiden abschließenden Aufsätze des Sammelbandes. Der vorzügliche Beitrag von Emilio Gentile setzt sich intensiv mit dem Begriff des Totalitarismus auseinander und legt die Implikationen der "Sakralisierung der Politik" in der Moderne dar. "Sie manifestiert sich vor allem", so schreibt Gentile, "wenn die Politik, nachdem sie im Zuge der Verweltlichung von Kultur und Staat sich ihre Autonomie gegenüber den traditionellen Religionen erobert hat, eine eigene Dimension des Religiösen erlangt." (169) Das einzige Manko dieses Beitrags liegt darin, dass er nicht weiter vorne platziert wurde, erläutert er dem Leser doch ein Forschungsprogramm, das diesem Sammelband weitgehend entspricht. Philippe Burrin schließlich führt die Möglichkeitsbedingungen totalitärer Gewalt vor Augen. Zu den zentralen Voraussetzungen politischer Gewaltausübung in der Moderne zählt er den in der Französischen Revolution geborenen politischen Voluntarismus, den auf Feindschaft beruhenden Homogenisierungseffekt des modernen Nationalismus und die Entstehung eines staatlichen Verwaltungsapparates, der die Umsetzung gewaltträchtiger Machbarkeitsphantasien überhaupt erst ermöglichte.

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind lesenswert und bieten einen instruktiven Einstieg in das Themenfeld Totalitarismus und Gewalt. Das Konzept des Sammelbandes hingegen wirkt unklar. Dies hat auch damit zu tun, dass die Entscheidung, sich entweder (wie im Vorwort angekündigt) mit der Gewaltträchtigkeit politischer Religionen - was eine intensive Auseinandersetzung z.B. mit dem Nationalismus als der wirkungsmächtigsten Integrationsideologie des 19. Jahrhunderts erfordert hätte 7 - oder eben mit den (ideengeschichtlichen) Rahmenbedingungen totalitärer Gewalt zu befassen, in der Schwebe bleibt. Dies führt dazu, dass gerade die quasi-religiöse Faszinationskraft moderner Ideologien nicht wirklich ins Zentrum der Betrachtungen rückt. Dem vorliegenden Sammelband hätte es gutgetan, die beiden konzeptionellen Leitbegriffe - ‚politische Religion' und ‚totalitäre Gewalt' - in einer ausführlichen Einleitung zu erläutern und in diesem Zusammenhang die erkenntnisleitenden Fragestellungen präziser zu fassen, als es in dem einschließlich Danksagungen nur gut zwei Seiten umfassenden Vorwort Maiers gelingen konnte.

Anmerkungen:
1 Dazu Wolfgang Knöbl/Gunnar Schmidt, Einleitung: Warum brauchen wir eine Soziologie des Krieges?, in: dies. (Hrsg.), Die Gegenwart des Krieges. Staatliche Gewalt in der Moderne, Frankfurt am Main 2000, S. 7-22.
2 George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt am Main 1990.
3 Panajotis Kondylis, Theorie des Krieges. Clausewitz - Marx - Engels - Lenin, Stuttgart 1988, S. 18.
4 Jay M. Winter, Catastrophe and Culture. Recent Trends in the Historiography of the First World War, in: Journal of Modern History 64 (1992), S. 525-532.
5 Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek bei Hamburg 1995.
6 Dies gelingt Ian Kershaw, Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998, S. 663-744.
7 Zum Gewaltpotential des modernen Nationalismus vgl. Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression, in: ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 35-54.

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