Schweiz. Bundesarchiv (Hg.): Erfindung der Demokratie in der Schweiz

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Titel
Die Erfindung der Demokratie in der Schweiz. L'invention de la démocratie en Suisse


Herausgeber
Schweizerisches Bundesarchiv
Reihe
Studien + Quellen 30
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regula Argast, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Zürich

Die Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs „Studien und Quellen“ widmet ihren dreissigsten Band der „Erfindung der Demokratie in der Schweiz“. Das Schwerpunktheft aus dem Jahr 2004 fügt sich ein in die gegenwärtige Renaissance der Geschichte des Politischen. Unter dem Vorzeichen einer „neuen Politikgeschichte“ fokussiert diese – in Ablehnung einer Verengung des Politischen auf den Staat – auf die akteursbezogenen und konstruktivistischen Aspekte von Politik und ihrer Geschichte.1 Was als das Politische gilt, ist nach dieser Auffassung historisch und kulturell variabel, Ergebnis kommunikativer und medialer Aushandlungsprozesse. In diesem Sinn fragt auch Band 30 von „Studien und Quellen“ nach der Genese, dem Wandel und der Produktivität der Demokratie in der Schweiz seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert.

In Anlehnung an die Schrift „L’invention de la démocratie“ 2 von Serge Berstein und Michel Winock öffnet der Historiker und langjährige Redaktor der Zeitschrift, Gérald Arlettaz, einleitend den Blick für verschiedene Entwicklungslinien der schweizerischen Demokratie. Die Demokratie könne jedoch zugleich „Objekt als auch Subjekt der 'Erfindung' sein“ (S. 8), wie der ehemalige Direktor des Schweizerischen Bundesarchivs, Christoph Graf, in seinem Geleitwort bemerkt. Dass diese Trennung eine analytische ist, zeigt sich spätestens bei der Lektüre der einzelnen Artikel. Sie veranschaulichen am historischen Material, wie die Ergebnisse demokratisch gefasster Entscheidungen auf die Demokratie zurückwirken. Einfache Kausalitäten treten dabei hinter komplexe und spannungsgeladene Wechselwirkungen zurück. In der Schweiz ist dies umso mehr der Fall, als die mit der Bundesstaatsgründung von 1848 institutionalisierte repräsentative Demokratie in den Jahren 1874 und 1891 mit direktdemokratischen Elementen augestattet wurde. Seither hat sich die schweizerische Demokratie der weitgehenden Unberechenbarkeit der „volonté générale“ und den Antagonismen zwischen direktdemokratisch gefassten Entscheidungen und der Forderung nach Rechtsstaatlichkeit oder nach der Ausweitung der Demokratie zu stellen. Unter diesen Vorzeichen lässt sich die titelgebende Metapher der „Erfindung“ weniger im Sinn einer einmaligen schöpferischen Leistung denn im Sinn eines in dauerndem Umbau befindlichen Projekts deuten.

Den Auftakt des Bandes machen die Lausanner Politologen Bernard Voutat und Pierre-Antoine Schorderet. Unter dem Titel „Droits politiques et démocratie. La politisation saisie par le droit“ greifen sie das Programm des Bandes gewinnbringend auf. Die „Erfindung der Demokratie“ verstehen sie als Politisierung („politisation“, S. 37), bei der sich ein relativ autonomer Konkurrenzraum mit spezifischen politischen Praktiken herausbildet. Dabei sei die Arbeitsteilung zwischen Recht und Politik zentral. Insbesondere sanktioniere das Recht das sich wandelnde politische Konkurrenzverhältnis, was die Autoren an der rechtlichen Fixierung der Wählerschaft und der Wahlmodi in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdeutlichen. Die Zürcher Politikwissenschaftlerin Sibylle Hardmeier lehnt dagegen die Metapher der Erfindung in ihrem Beitrag über das schweizerische Frauenstimmrecht ab. Während sich die „formale Demokratie [...] relativ leicht erfinden“ (S. 96) lasse, entscheide erst die konkrete Ausgestaltung der Demokratie über die faktische Gleichstellung der Bevölkerungsmitglieder. So sei die politische Repräsentation von Frauen nicht nur von den Rechten, sondern vor allem von der Höhe des Bruttoinlandprodukts, der Einbindung der Frauen in den Arbeitsmarkt, der Religion sowie der historisch kontingenten Opportunitätsstruktur abhängig.

Mit der Ausweitung der Demokratie auf immer mehr Bevölkerungsgruppen beschäftigen sich auch Josef Lang, Gisela Hürlimann und Ganga Jey Aratnam. In seinem Beitrag „Die beiden Katholizismen und die Krux der Schweizer Demokratie“ beleuchtet der Historiker und Publizist Lang die geteilte Rolle des schweizerischen Katholizismus bei der Emanzipation von Juden und Frauen. Dabei wehrt sich der Autor überzeugend gegen die „historiografische Verdrängung der (radikal)liberalen Katholiken“ (S. 45), die sich für die politischen Rechte dieser Bevölkerungsgruppen einsetzten. Gleichzeitig unterstreicht Lang den bislang kaum berücksichtigten Sachverhalt, dass die antiliberale Doktrin des konservativen Katholizismus den katholisch-konservativen Widerstand gegen die Ausdehnung der Volkssouveränität „über das eingesessene, christliche und waffenfähige Männervolk hinaus“ (S. 46) bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) stark geprägt habe. Ebenso differenziert zeichnen die Zürcher Historikerin Gisela Hürlimann und der Freiburger Soziologe Ganga Jey Aratnam die schweizerische Ausländer- und Integrationspolitik seit den 1960er-Jahren nach. Als „Aporie“ (S. 137) der Demokratie deuten sie den Sachverhalt, dass gerade die exklusionistische Überfremdungsbewegung seit den 1970er-Jahren zur Zunahme der direktdemokratischen Partizipation der schweizerischen Stimmbevölkerung geführt habe.

Unter den Gesichtspunkten Sprache, Medien und Wissenschaft beschäftigen sich vier weitere Artikel mit der schweizerischen Demokratie. Wenig Reibungsfläche bietet der Beitrag „Medien und Demokratie“ des Berner Kommunikations- und Medienwissenschaftlers Roger Blum. Nach einem Blick auf das Wechselspiel zwischen Demokratie und Massenmedien in der Schweiz des 19. Jahrhunderts konzentriert sich der Text auf die Erläuterung allgemeiner medienwissenschaftlicher Paradigmen zum Verhältnis von Demokratie und Medien. Eine in die Zukunft gerichtete These formuliert der Freiburger Mediensoziologe Jean Widmer in seinem Aufsatz „Ordre des langues et ordre du politique: Plurilinguisme et démocratie en Suisse“: Die aktuelle schweizerische Sprachenpolitik – erinnert sei an die Debatten über Englisch als erste Fremdsprache – weise möglicherweise auf eine politische Neuordnung hin, deren Horizont nicht mehr der Nationalstaat, sondern die Europäische Union darstelle. Hintergrund dieser These bildet die Beobachtung, dass das Verhältnis einer Gemeinschaft zu ihrer Sprache (oder ihren Sprachen) eng mit der politischen Ordnung dieser Gemeinschaft verbunden ist. Um eine Diskussion theoretischer Ansätze geht es den Zürcher Historikern Patrick Kupper und Daniel Speich, die von der Parallelität der Demokratisierung gesellschaftlicher Institutionen und der Ausbildung moderner Wissenschaften ausgehen. Bei ihrer Beschäftigung mit dieser „verwickelten Beziehung“ (S. 183) stehen die wissenschaftssoziologischen Konzepte von Robert K. Merton („Ethos der Wissenschaft“) und Peter Weingart (Wissenschaft als gesellschaftliches „Funktionssystem“) auf dem Prüfstand. Dagegen favorisieren die Autoren einen Ansatz, der die „Aushandlungsprozesse um gesellschaftliche Grenzziehungen“ (S. 206f.) ins Zentrum stellt. Unter dem Titel „Demokratie und Informationsgesellschaft“ informiert der Artikel von Daniel Brändli, Leiter des Projekts „vote électronique“ der Bundekanzlei, und Rafael Schläpfer, Redaktor im Kompetenzzentrum der Bundeskanzlei, über das in Genf, Neuenburg und Zürich durchgeführte Pilotprojekt zur elektronischen Stimmabgabe. Neben der Diskussion technischer und gesellschaftlicher Risiken für die schweizerische Abstimmungsdemokratie machen die Autoren deutlich, dass es bei der „vote électronique“ nicht so sehr um eine Steigerung der politischen Mitwirkung geht, sondern um die Anpassung der politischen Verfahren an die zunehmende „Informatisierung der Kommunikationswege“ (S. 307).

Schliesslich bietet auch der dreissigste Band von „Studien und Quellen“ der Diskussion archivtechnischer Fragen eine Plattform. Die nordamerikanische Archivarin Trudy Huskamp Peterson plädiert unter dem Titel „Truth and the Records of Truth Commissions“ dafür, Aufnahmen von Wahrheitskommissionen konsequent in Nationalarchiven zu schützen und den Zugang klar zu regeln. Die vom Titel geweckte Erwartung, dass sich die Autorin auch über den prekären Begriff der Wahrheit äussert, wird allerdings nicht erfüllt. Nach einem Einblick in die kanadische Archivwelt durch Jacques Grimard (Montréal) erörtert Christoph Graf unter dem Motto „Archives of the people, by the people, for the people“ (S. 227) das wechselseitige Verhältnis von Demokratie, öffentlichen Archiven und der heutigen Informationsgesellschaft. Zwar seien die bis in die Zeit der Französischen Revolution zurückreichenden demokratischen Wurzeln moderner Archive „allgemein bekannt und konsensfähig“ (S. 228); aber diese müssten aber ständig konkretisiert und exemplifiziert werden.

Mit „Studien und Quellen 30“ liegt ein reichhaltiger Sammelband mit Beiträgen aus verschiedenen Fachrichtungen zur schweizerischen Demokratie vor. Zu bedauern ist, dass nur wenige Artikel einen Blick über die schweizerischen Grenzen werfen. Dennoch hinterlässt der Band ein sehr positives Gesamtbild. Dass die Zukunft von „Studien und Quellen“ ungewiss sein soll, ist daher umso mehr zu beklagen. Es ist dem Schweizerischen Bundesarchiv zu wünschen, dass die auferlegten Einsparungen, die sich auch auf die Einschränkung der Öffnungszeiten auswirkten, durch neue publikumsnahe und demokratiesichernde Massnahmen kompensiert werden können.

Anmerkungen:
1 Vgl. Frevert, Ute, Haupt, Heinz-Gerhard (Hgg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung; Frankfurt am Main 2005.
2 Berstein, Serge, Winock, Michel. L’invention de la démocratie, 1789-1914. Paris 2002.

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