W. Brandt - Berliner Ausgabe: Berlin bleibt frei

Cover
Titel
Berlin bleibt frei. Politik in und für Berlin 1947-1966


Autor(en)
Brandt, Willy
Herausgeber
Heimann, Siegfried
Reihe
Berliner Ausgabe 3
Erschienen
Anzahl Seiten
702 S.
Preis
€ 27,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Bange, Historisches Seminar, Universität Mannheim

Fast 20 Jahre lebte und arbeitete Willy Brandt in und für Berlin. Die Liebesgeschichte zwischen dem Friedensnobelpreisträger und „seiner“ Stadt dauerte natürlich wesentlich länger als die vom Herausgeber Siegfried Heimann bearbeitete Ära von 1947 bis 1966. Doch gerade weil diese Jahre an der Nahtstelle zwischen Ost und West nicht nur für die Karriere, sondern auch für die politischen Konzepte und die Persönlichkeitsentwicklung Brandts entscheidende waren, kommt diesem Band der Berliner Ausgabe des Nachlasses eine besondere Bedeutung zu. In 118 edierten Briefen, Reden und Notizen spiegelt sich der Werdegang vom Lokalpolitiker zum Regierenden Bürgermeister, die schrittweise Entstehung von Brandts berlin-, deutschland- und ostpolitischen Konzepten, die ersten Schritte auf internationalem Parkett und die damit unvermeidbar verbundenen Spuren in der Psyche Brandts. Besonders lobenswert ist die Berücksichtigung einiger wichtiger Reden Brandts, die zwar zeitgenössisch veröffentlicht wurden, heute aber sonst nur noch schwer zugänglich wären. Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf dem Zeitraum von 1958 bis 1966, auf den über zwei Drittel der vorgestellten Dokumente entfallen. Leider fehlt eine inhaltliche Zusammenfassung der jeweiligen Dokumente in der rein chronologischen Übersicht, obwohl dies nicht zuletzt unter Verweis auf die Bände der Akten zur Auswärtigen Politik Deutschlands in Rezensionen zur Brandt-Ausgabe wiederholt angemerkt wurde.1 Nervig und für den Studenten oder Fachhistoriker, der mit den Dokumenten arbeiten will, besonders zeitraubend ist der Umstand, dass sämtliche Anmerkungen Endnoten sind. Das alles ist aber der unveränderten Reihenkonzeption geschuldet und sollte keineswegs dem Herausgeber Siegfried Heimann angelastet werden. Dessen siebzigseitige Einführung ist genauso komprimiert wie kompetent und erlaubt auch Nichtfachleuten zum Thema Berlin und Brandt eine schnelle Übersicht und Einordnung der Dokumente in einen größeren zeithistorischen Rahmen sowohl zur Person Brandts und seinem Denken als auch zur berlinspezifischen Problematik. Allein die vergleichende Einordnung in den internationalen Kontext von Kaltem Krieg und beginnender Détente scheint, wie bei anderen Bänden der Ausgabe, weniger gut gelungen. Dabei waren die kleinen und großen Klimaschwankungen zwischen Ost und West in diesen Jahren nirgends besser zu spüren als in Berlin. Die Stadt wirkte wie ein überdimensionaler Resonanzboden – gleichermaßen für Bewegung, Rückschritt oder pure Gerüchte im sich ständig verändernden Ost-West-Konflikt. Für die Amerikaner und Engländer war sie der „linch-pin“ für die Absichten Moskaus, für Chruschtschow „Tritte in den Unterleib [der russische Ausdruck war physiologisch wesentlich genauer] des Westens“. Für Willy Brandt stand mit dem „freien Berlin“ schlicht die Glaubwürdigkeit des Westens auf dem Prüfstand. Im vorliegenden Band dominiert jedoch die Perspektive Berlins, genauer die des Nachlasses des Regierenden Bürgermeisters Brandt. Diese Verengung führt gerade auch im Anmerkungsapparat immer wieder zu historiografischen Ungenauigkeit. Dazu zwei Beispiele: Zwar wurde Brandt aufgrund einer Verspätung durch Bahr 1963 in Tutzing die Schau gestohlen, doch von einer andauernden Unterschätzung seines Vortrags kann angesichts der wissenschaftlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre keine Rede mehr sein.2 So enthält die Edition zwar Brandts bruchstückhafte handschriftliche Notizen zu seinem Treffen mit de Gaulle 1965, doch die fundamentale Bedeutung dieses privaten Gesprächs, wie sie sich aus dem verbatimen Protokoll im Bestand der de Gaulle-Papiere erschließt, bleibt aufgrund des fehlenden Bezugs zur französischen Version dem Leser verschlossen.3

Für Brandt war Berlin aber auch Sprungbrett für seine nationale und internationale Karriere. Daran erinnern die vielen erhellenden Dokumente zu den parteiinternen Kämpfen in der Berliner SPD vor allem in den 1950er-Jahren. So fußte auch die von Adenauer 1961 aufgegriffene „Brandt-alias-Frahm“-Kampagne auf einer Rufmordaktion von Brandts Berliner SPD-Rivalen Neumann. Heimann argumentiert gut nachvollziehbar, aber nicht eigentlich aus den Dokumenten belegbar, dass hier die entscheidende „Persönlichkeitsentwicklung“, sozusagen die Prägung des Politikers Brandt, stattfand: Seine „Unduldsamkeit gegenüber Kritikern“, die von ihm „besonders rigoros“ betriebenen Parteiausschlussverfahren gegen unliebsame Genossen, seine „Gelassenheit im Umgang mit den Alliierten“ und nicht zuletzt die Abschottung seiner ostpolitischen Vorstellungen auch und besonders in der eigenen Partei, die er ständig von kommunistischer Unterwanderung bedroht sah (S. 74ff). In seinen Berliner Jahren gewann Brandt viele grundlegende und manchmal fast hellseherisch anmutende Einsichten, die bald darauf auch in die operative Ostpolitik der Großen und der Sozialliberalen Koalition einfließen sollten. Die edierten Dokumente belegen, dass Brandt bereits seit 1948 wiederholt vor dem Bau einer „chinesischen Mauer“ warnte – und damit wohl auch die Urheberschaft für diesen Schlüsselbegriff des Kalten Krieges beanspruchen könnte. 1952 forderte er gegenüber dem Parteivorstand ein „System“ (S. 45) sozialdemokratischer Außenpolitik, das den neuen Realitäten und ihrer langwierigen Veränderung gerecht werden sollte. Ausgerechnet Brandt – dem von vielen bis heute als angeblichem Anhänger des Konvergenzgedankens ein Neutralismus zwischen den Blöcken unterstellt wird – wandte sich 1954 in einer Schlüsselrede gegen die „Illusionisten“ (Dok. 22) des dritten Weges in der eigenen Partei.

Als Chruschtschow kurz darauf öffentlich auf Lenins Konzept der „friedlichen Koexistenz“ zurückgriff, konstatierte Brandt mit dessen Zwangslage auch viel versprechende Aussichten für die eigene Politik. Jetzt galt es, die Koexistenzpolitik des Ostens von diesem möglichst unbemerkt mit dem eigenen Ziel friedlicher Veränderung zu kombinieren. Die 1954 schon angedachte „Aufweichung“ der Fronten (Dok. 36) wurde nach dem Mauerbau 1961 zur einzig realen Option, gleichermaßen für eine Wiedervereinigung Berlins und der beiden Teile Deutschlands. Mit dem bereits anderweitig edierten Memorandum4 vom Mai 1964 an den amerikanischen Außenminister Dean Rusk wurde Brandt – strategisch geschickt und keineswegs unbeabsichtigt, wie die hier belegte Verbreitung des gar nicht so vertraulichen Schriftstücks belegt – für Washington, London und Paris zu dem Hoffnungsträger für eine neue entspannungsorientierte Ostpolitik in Berlin und Bonn. Mit der förmlichen Parallelisierung zunächst der sozialdemokratischen, dann der gesamten westdeutschen Ost-, Deutschland- und Berlin-Politik mit den internationalen Détentebemühungen war aber mehr beabsichtigt als nur ein „Auseinanderleben [der beiden deutschen Gesellschaften] zu verhindern“. Das „Durchlässig-Machen“, die Vergrößerung der „Transparenz“ der Mauer waren für Brandt unabdingbare Voraussetzungen für die Aufweichung des Regimes im Ostteil der Stadt, was ihm wiederum als unabdingbare – allerdings nicht einzige – Bedingung für eine gesamtdeutsche Zukunft galt. Auch das zeigen die Dokumente (Dok. 66, 75).

In der in den Berliner Jahren entwickelten Logik Brandts bildeten die neuen Ansätze zur Berlin-, Deutschland- und Ostpolitik ein untrennbares Ganzes. Wollte er dieses Konzept erfolgreich implementieren, forderte dies – wie Brandt spätestens 1959 erkannte – den Wechsel nach Bonn. (Die Datierung entkräftet nebenbei auch den Mythos vom zur Kanzlerkandidatur genötigten Brandt.) Als er im Dezember 1966 als Außenminister der Großen Koalition dort erstmals Regierungsverantwortung übernahm, bedeutete dies für Brandt daher auch die Fortsetzung seiner „Arbeit für Berlin“.

Anmerkungen:
1 Vgl. Nürnberger Nachrichten, 13.12.2000, S. 21.
2 So wurden auch die Reden von Brandt und Bahr bereits in den Dokumenten zur Deutschlandpolitik, Reihe IV, Bd. 9, S. 565-575, allgemein zugänglich ediert. Brandt und Bahr lieferten wichtige Hinweise für ihren argumentativen Zusammenhang in ihren Memoiren (Brandt, Willy, Erinnerungen, Frankfurt am Main 1989, S. 73ff; Bahr, Egon, Meine Zeit, S. 153ff). Vgl. zu ihrer Einordnung in größere historiografische Linien: Niedhart, Gottfried, The East-West Problem as Seen from Berlin – Willy Brandt's Early Ostpolitik, in: Loth, Wilfried (Hg.), Europe, Cold War and Coexistence 1953-1965, London 2004, S. 285-296; Schmidt, Wolfgang, Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte – Willy Brandt und die Deutschlandpolitik 1948-1963, Wiesbaden 2001; Speicher, Peter C., The Berlin Origins of Brandt's Ostpolitik 1957-1966, Cambridge 2000.
3 Für eine erste Deutung siehe Bange, Oliver, Ostpolitik und Détente – Die Anfänge 1966-1969, Mannheim 2004.
4 Siehe Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe IV, Bd. 10/2, S. 877ff.

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