M. Jehle (Hg.): Die Juden und die juedischen Gemeinden

Titel
Die Juden und die jüdischen Gemeinden Preußens in amtlichen Enquêten des Vormärz. Enquête des Ministeriums des Inneren und der Polizei über die Rechtsverhältnisse der Juden in den preussischen Provinzen (1842-1843) - Enquête des Ministeriums der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten über die Kultus-, Schul- und Rechts


Herausgeber
Jehle, Manfred
Reihe
Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 82
Erschienen
München 1998: K.G. Saur
Anzahl Seiten
CXXV + 1671 S.
Preis
€ 310,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wyrwa

Die Rede des Abgeordneten Stanilaus Comte de Clermont-Tonnerre im Dezember 1789 vor der französischen Nationalversammlung, in der er die These vertrat, den Juden als Nation sei alles zu verweigern, den Juden als Menschen hingegen alles zu gewähren, gilt als einer der Schlüsseltexte der europäischen Emanzipationsdebatte. Die Zwiespältigkeit dieser Position, die das Zeitalter der Emanzipation geprägt hat, bestand darin, dass den Juden die Absage an ihre überlieferte korporative Zusammengehörigkeit abverlangt wurde, wollten sie in Staat und Gesellschaft integriert werden. Die Ambivalenz dieser Haltung und die darin angelegte Problematik des Projektes der Emanzipation ist seither immer wieder reflektiert und diskutiert worden. Weniger Beachtung hingegen hat diejenige Ambivalenz gefunden, die im gegenemanzipatorischen Projekt angelegt war. Einer der Protagonisten dieser Politik war der preußische König Friedrich Wilhelm IV. Er wollte die Juden wieder stärker an ihre korporativen Institutionen binden, um sie so aus dem als christlich definierten Staat ausschließen und auch in der Gesellschaft absondern zu können. Sein Ziel, so könnte man in Umkehrung des Diktums von Clermont-Tonnerre formulieren, bestand darin, den Juden als in sich geschlossener Korporation alle Rechte zu gewähren, sie ihnen als Staatsbürgern aber zu verweigern.

Eine der Paradoxien der preußischen Geschichte indes bestand darin, dass die jüdischen Gemeinden in Preußen gerade von diesem König entscheidende Schritte ihrer Emanzipation erwarteten und an ihn appellierten, sich für eine Verbesserung der rechtlichen Lage der Juden einzusetzen, wobei sie es nicht versäumten zu betonen, wie sehr sie sich als Deutsche empfanden und dem deutschen Vaterland sich verbunden fühlten.

Für die jüdische Bevölkerung in Preußen war es daher wie ein Schock, als eine königliche Order vom Dezember 1841 bekannt wurde, in der Friedrich Wilhelm IV. sein politisches Ziel formuliert hatte, die jüdische Bevölkerung aufgrund der Ideologie des christlichen Staates als abgesonderte Korporation in einem christlich-korporativen Staat zu isolieren. Die Vorlage aber war selbst innerhalb der Regierung umstritten, und die jüdischen Gemeinden sandten eine große Zahl von Petitionen an den König, in denen sie die Emanzipation, die vollständige bürgerliche und staatsbürgerliche Gleichstellung, forderten. Friedrich Wilhelm IV. aber hielt daran fest, die jüdischen Verhältnisse im Sinne einer korporativen Ausgrenzung aus dem christlichen Staat zu regeln. Nicht diese rückwärtsgewandte, im wörtlichen Sinne reaktionäre politische Haltung allein aber veranlaßte den König, die Rechtslage der Juden in Preußen neu zu regeln. Seit dem Wiener Kongreß von 1815 herrschte in dem durch zahlreiche Territorien enorm angewachsenen Königreich Preußen eine rechtspolitisch geradezu chaotische Situation, da in den verschiedenen Landesteilen für die Juden jeweils unterschiedliche, oftmals sich widersprechende Gesetze galten. Um die Rechtslage der jüdischen Bevölkerung in Preußen zu vereinheitlichen und bei einer Neuregelung zugleich das Ziel der korporativen Ausgrenzung durchzusetzen, wies Friedrich Wilhelm IV. im Dezember 1841 den Minister des Inneren und der Polizei an, eine Untersuchung über die Situation der Juden in allen Regierungsbezirken des preußischen Staates durchzuführen. Dabei ging es zunächst um die genaue Ermittlung der rechtliche Verhältnisse der Juden in den verschiedenen Landesteilen, sowie um die Vorbereitung der zukünftigen Ordnung der Stellung der Juden im preußischen Staat und in der Gesellschaft. Da die jüdischen Gemeinden in die Verantwortung des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten fielen, ordnete dieser im März 1843 eine zweite Erhebung über die Zustände der religiösen und schulischen Verhältnisse innerhalb der jüdischen Gemeinden an. Von 1842 bis 1845 sind auf diesem Wege 186 Enquêteberichte zusammengekommen, die nicht nur einen umfassenden Überblick über die völlig konfuse Rechtslage der Juden in Preußen vermitteln, sondern auch Einblick geben, wie unterschiedlich die preußischen Behörden die jüdische Bevölkerung wahrgenommen haben. Darüber hinaus sind auch die jüdischen Gemeinden zu Stellungnahmen aufgefordert worden, so dass die Berichte auch die Selbstwahrnehmung der Juden und ihre politischen Konzepte für eine Reform der jüdischen Rechtsverhältnisse wiedergeben.

Auf diesen im Geheimen Preußischen Staatsarchiv reponierten und lange unbeachtet gebliebenen fulminanten Quellenkorpus hatte Herbert A. Strauss schon in den sechziger Jahren aufmerksam gemacht, als die Unterlagen noch im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Merseburg lagen. Manfred Jehle ist es zu verdanken, dass sie nun in einer mustergültigen Edition vorliegen. In minutiöser Kleinarbeit hat er nicht nur die zum Teil nur schwer zu entziffernden Handschriften transkribiert, sondern darüber hinaus zu Detailfragen der Berichte und über die Hintergründe der einzelnen jüdischen Gemeinden präzise und hilfreiche Anmerkungen und Literaturhinweise gegeben. Eröffnet wird diese Quellenedition durch eine übersetzte und geringfügig ergänzte Fassung jenes, auch methodologisch erhellenden Aufsatzes von Herbert A. Strauss, in dem er auf den Wert dieser Quellen aufmerksam gemacht hatte und der, wie der Herausgeber zu Recht in seinem Vorwort schreibt, "heute noch genauso aktuell" ist wie 1966, als er im Jahrbuch des Leo Baeck Instituts erschienen war. In der Einleitung zu den Enquêteberichten hat Manfred Jehle nicht nur die rechtshistorischen und politischen Hintergründe ausgeleuchtet, sondern auch das Bild der Juden, das die Regierungsberichte zeichneten, analysiert und die zeitgenössische Rezeption der Berichte untersucht.

Um nur einen kleinen Einblick in die Qualität und Aussagekraft dieser einzigartigen Quellen sowie in die konträren Wahrnehmungsweisen preußischer Regierungsstellen zu geben, vor allem aber auch in die Vorurteile, die unter den Beamten gegenüber den Juden herrschten, sei etwa auf das Gutachten des Koblenzer Regierungsrates verwiesen, der betonte, dass die religiösen Gebräuche der Juden das größte Hinderniss für ihre rechtliche Gleichstellung seien. Das Judentum sei nicht nur eine Verleugnung des Christentums, sondern dessen vollständiger Gegensatz. Vor allem mokierte sich dieser Gutachter darüber, dass der Talmud "den crassesten Unsinn" enthalte. Die Regierung des Bezirkes Danzig hingegen konnte die Bedenken, die im Schreiben des Innenministers gegen eine mögliche Freizügigkeit der Juden vorgebracht wurden, nicht teilen. Weder die von dieser Seite hervorgehobene "Anomalie der jüdischen Natur, noch die Ungleichheit der jüdischen Bevölkerung" dürften, falls den Juden ein freies Niederlassungsrecht gewährt würde, "irgend erhebliche Benachteiligungen der christlichen Bevölkerung befürchten lassen". Die Erfurter Regierung hingegen schrieb, dass die Emanzipation der Juden nur möglich sei, wenn "die Juden ihr Wesen selbst" aufgäben. Ansonsten würden sie weiterhin an den Grundsätzen festhalten, die einst "ihrer Theokratie in Palästina" zu Grunde lagen, und damit stünden sie in einem deutlichen Gegensatz "zum christlichen Staate" Preußens. Ähnlich ließ die Posener Regierung verlauten, dass jedem aufmerksamen Betrachter "die moralische Versunkenheit des jüdischen Volks in abschreckender Gestalt" entgegentrete. Demgegenüber protestierte der Vorstand der jüdischen Gemeinde zu Wesel dagegen, dass den Juden ein bestimmter Nationalcharakter zugeschrieben werde. Die Juden bildeten keine Nation, sondern eine Religionsgemeinschaft, und sie gehörten "als Bürger dem Staat und dem Volke an, in dessen Mitte" sie lebten.

Zu Tage tritt in den Enquêteberichten der Regierungsstellen insbesondere die herrische und hartherzige Sprache der christlichen Beamten, die jegliches Gespür für eine andere Religion vermissen lassen. Wie Manfred Jehle in seiner Einleitung betont, war der Prozeß der Emanzipation nicht zuletzt dadurch belastet, dass die Gleichberechtigung der jüdischen Religionsgemeinschaft übersehen worden ist. Das Gegenkonzept, und auch diese Thematik tritt in den Gutachten unmissverständlich hervor, lag in der korporativen Aussonderung der Juden aus dem als christlich titulierten Staat. So bietet diese Quellenedition, auch mit seinen ausführlichen Indizes, ein Arbeitsmaterial von unschätzbarem Wert für jeden, der den Ambivalenzen der Emanzipation und den historischen Ursachen seines Scheiterns in Deutschland nachgehen möchte.

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