S. Sekirinskij: Istorija strany. Istorija kino

Titel
Istorija strany. Istorija kino


Herausgeber
Sekirinskij, Sergej
Erschienen
Moskau 2004: Znak
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oksana Bulgakowa, Berlin

Die Frage, welche Art historisches Zeugnis Filme ablegen können, wird seit einiger Zeit diskutiert. Marc Ferros “Film et histoire” (1984), James Goodwins “Eisenstein, Cinema, and History” (1993), Robert A. Rosenstones “Visions of the Past. The Challenge of Film to Our Idea of History” (1995), Peter Bourkes “Eyewitnessing. The Use of Images as Historical Evidence“ (2001) zeugen von gesteigertem Interesse der Historiker an diesem Medium. Der russische Band „Geschichte des Landes – Geschichte des Films“ liegt nur auf den ersten Blick im neuen Trend. Auf den zweiten offenbart er, welch problematische Beziehungen zwischen den Historikern und der von ihnen zur Analyse ausgewählten Quellen (Filme) bestehen.

Das Buch hat den Charakter eines typischen Sammelbandes von Konferenzbeiträgen, die keine Stringenz (und keine üppigen Fußnoten) aufweisen. Zwanzig Historiker, drei Filmwissenschaftler und eine Philologin kamen hier zusammen, um 100 Jahre russisch-sowjetischer Filmproduktion nach möglichen Auskünften über die Gesellschaft und deren Geschichtsverständnis zu prüfen. In ihrem Herangehen wird selten eine Methodologie erkennbar, so dass interdisziplinäre Differenzen gar nicht erst auftreten (etwa: wie nutzen Historiker und Filmwissenschaftler ein und dieselben Filme und Bilder für ihre Analyse?). Die Beiträge haben jedoch einige Gemeinsamkeiten. Zunächst fällt ein Desinteresse an Theoriemodellen möglicher Vorgänger auf: die Diskussionen der Formalen Schule um die Fiktionalität des Dokumentarischen (in Texten wie in Bildern verschiedener Art), der Umgang der Warburg-Schule mit Heterogenität visueller und verbaler Zeugnisse oder der Psychoanalyse mit den „Bildern“ des kollektiven Unbewussten (etwa Kracauers Interpretation der deutschen Filmgeschichte), die Semiotik (etwa Barthes Mythen des Alltags), cultural studies, Hayden Whites Kritik der Fiktionalisierungsmodelle, Foucaults Analyse der Repräsentationstechniken, Pierre Sorlins soziologische Interpretationen, Marc Ferros lange Auseinandersetzungen mit geschriebener und gefilmter Geschichte oder etwa Diskussionen um die Intermedialität (Film/Fernsehen) und um digitale vs. analoge Bilder – sie alle werden ignoriert. Die einzige hier erwähnte Referenz war ein Spezialheft der American Historical Review aus dem Jahr 1988 (vol. 93, No. 5), das sich mit „History in Images and Words“ auseinandersetzt.

Die meisten Autoren betraten das Terrain wie Neuland. Die Beiträge liefern empirische Daten oder empirisch-soziologische Interpretationen, zu denen sich Zeitungspublizistik (einmal mehr wird hier Nikita Michalkows Filmen Ahistorismus vorgeworfen) und nostalgische Erinnerungen der Historiker an eigene Filmerlebnisse gesellten. Erstaunlicherweise profitieren die meisten Beiträge nicht von Archivquellen; die Aufsätze von Vassili Tokarew (das Thema Polen in Filmen der Vorkriegszeit) und Marija Sesina (Filmverleih und Zuschauerreaktionen in der Tauwetterperiode) bilden eine Ausnahme und bieten ein reiches Faktenmaterial auf (Sesina stützte sich teilweise auf die Dissertation von M. Gerschson, der die Akten des Filmministeriums durchgearbeitet hatte).

Der Versuch, in einem ersten Kapitel eine Art kollektives, konzeptuelles Vorwort zu schreiben, scheiterte. Alle fünf Autoren gehen ihre Aufgabe publizistisch an, und die viel versprechenden Titel ihrer Beiträge reduzieren das Thema auf Allgemeinplätze: „Das Filmische in der Geschichte, das Geschichtliche im Film“ (Sekirinski); „Von der Zivilisation des Wortes zur Zivilisation der visuellen Quellen“ (Irina Lapschina); „Künstlerische Figur und sozialer Typ“ (Wassili Swerew); „Mythos und Fakt auf der Leinwand“ (Viktor Listow); „Spezifik des Spielfilms als historische Quelle“ (Kirill Raslogow). Film ist ein Phänomen der sozialen Realität; eine künstlerische Figur ist zugleich ein sozialer Typ; Memoiren sind subjektiv-mythisch und Dokumentaraufnahmen objektiv-mythisch; Spielfilm ist ein kultureller Text, der a) eine Illusion der Realität; b) Subcodes c) Werte und Mentalität vermittelt und so als historische Quelle durchaus benutzt werden kann.

Eine andere Gemeinsamkeit ist genauso bezeichnend: Das Bild (das Visuelle), der Ton (das Akustische) oder der Körper (das Performative) wurden von keinem der Autoren als Informationsquelle benutzt (deshalb wird auch mit jenem Grundsatz „History in Images and Words“, dem sich Burke oder Rosenstone stellen, nicht argumentiert). Allen geht es um die Narrative und die Konstellation der Figuren. In diesem Sinne benutzen die Historiker den Film weiterhin als „literarische“ Quelle. Nur in den Texten von Tatjana Daschkowa und Viktorija Tjashelnikowa wurden Subcodes wie Essen und Wohnungseinrichtungen analysiert. Doch selbst im Beitrag von Daschkowa, die ankündigt, sich mit der visuellen Ideologie auseinanderzusetzen (so, wie Clifford Geertz sie versteht), sind von achtzehn Seiten ganze zwei diesem speziellen Thema gewidmet. Kleider, Frisuren, Make up, Körpersprache, Intonation, Aussprache etc. blieben auf der Strecke, ganz zu schweigen von filmischen Mitteln der Betonung und Abschwächung dieser ikonischen Quellen (Nahaufnahme, Bildausschnitt, Licht oder Länge der Einstellung). Tjashelnikowa analysiert die Lieder in den Filmen der 1930er-Jahre, doch behandelt sie auch als literarische Texte und untersucht ihre Metaphern (z.B. das Blut beim Umschwung von der Todessucht in Lebensfreude). Dafür braucht sie eigentlich keine Filme, sondern nur die Textbücher (die auch in ihren Referenzen auftauchen). Solche Momente wie Präferenzen der Stimmen (warum Sopran und nicht Mezzo-Sopran, warum Tenor und nicht Bariton) oder die Intonation beim Singen (die nur die Filme festhalten) bleiben ausgespart.

Es dominiert die traditionelle (und erwartete) Auseinandersetzung mit propagandistischen Feind- und Führerbildern (Polen in den sowjetischen Filmen der 1930er-Jahre; Feindbilder; Stalinkult; der Kalte Krieg; die Deutschen in der Fernsehserie „17 Augenblicke des Frühlings“; vier Verfilmungen von Puschkins Hauptmannstochter zwischen 1937 und 1990), die sich vornehmlich auf die Interpretation der Narrative beziehen. Olga Jumaschewas Herangehen an Eisensteins Alexander Newski im Kontext des eurasischen Denkens bietet einen originellen Aspekt, doch auch sie beschäftigt sich mehr mit der ersten Drehbuchfassung als mit dem fertigen Film.

Ein thematischer Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Analyse der Repräsentation sozialer Gruppen und deren Werten, die aus den narrativen Schemen in der statistischen Auswertung gewonnen werden. Drei Autoren rekonstruieren die Wertesysteme und Verhaltenscodes (Oleg Ussenko anhand von Stummfilmen, Daschkowa anhand der Filme der 1930er-Jahre und Tjashelnikowa mit Hilfe von Moskau glaubt den Tränen nicht, 1979).

Die versprochene Auseinandersetzung mit der Mentalität riskieren nur zwei Autoren: Kirill Raslogow versucht ein neues Phänomen, die Filme der „Filmkinder“, zu fassen; allerdings appellierte sein Beitrag an Insiderkenntnisse, die mir z. B. fehlten. Ungewöhnlich scharf geht die Aspirantin Inessa Siporkina mit dem Tarkowski-Kult ins Gericht und wertet ihn als Spiegel der „erschrockenen und hilflosen russischen Intelligenz“ (S. 459); das Material für ihre Schlussfolgerungen schöpft auch sie aus den Filmnarrativen und der Konfrontation der Selbstaussagen Tarkowskis und seiner Mitarbeiter.

Der Film wurde konsequent um seinen Bildcharakter gebracht und auf die Fabelschemen reduziert, was dieses Medium mit Literatur verwechselt. Der Charakter des Spielfilmbildes als ein historisches Zeugnis (wofür?) wird somit nicht diskutiert. Dass das Buch auf 500 Seiten ganz ohne ein einziges Bild auskommt, ist da nur logisch.

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