W. Meseth u.a. (Hgg.): Schule und Nationalsozialismus

Cover
Titel
Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts


Herausgeber
Meseth, Wolfgang; Proske, Matthias; Radtke, Frank-Olaf
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer-Instituts 11
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Campus Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Zeno Ackermann, CPH Jugendakademie, Nürnberg

Pädagogische Praxis, sei es im Schulunterricht oder in außerschulischen Bildungsangeboten, wird von den Beteiligten nicht selten als defizitäres Unternehmen erlebt. Auch die Außenwahrnehmung von Unterricht und Bildung wird zunehmend durch Skepsis bzw. warnende Befunde bestimmt. Dies trifft für pädagogische Veranstaltungen zu den Themenbereichen „Nationalsozialismus“ und „Holocaust“ in besonderer Weise zu: Hier sind die von Gesellschaft und Politik gestellten Erwartungen ebenso groß wie diffus, hier scheinen die Widersprüche zwischen Vermittlungszielen, Vermittlungsformen sowie institutionellen Rahmenbedingungen besonders störend. Aufgrund der durchaus wahrgenommenen Bedeutung der Themen ist das etwaige „Scheitern“ besonders frustrierend.1

Wie die Herausgeber des vorliegenden Sammelbands feststellen, hat die Geschichtsdidaktik auf solche Defizite und Widersprüche meist mit einer Strategie der „Invisibilisierung“ reagiert (S. 19): Statt nach den Grenzen des im Unterricht Möglichen zu fragen und überzogene Ansprüche zu korrigieren, sei unterstellt worden, dass sich das Unmögliche durch unendliche Verfeinerung der Mittel irgendwie doch erreichen lasse. Diesem Befund wird ein an systemtheoretischen Ansätzen orientierter Realismus entgegengestellt; es gehe darum, die „einseitig normativ geführte Debatte über das ambitionierte Programm einer ‚Erziehung nach Auschwitz‘ zu versachlichen“. Notwendig sei die Erhebung von „empirisch fundiertem Wissen über die ‚black box‘ Unterricht“ als Grundlage einer Neureflexion, die es Lehrkräften dann ermögliche, sich von „überzogenen Erwartungen“ zu „entlasten“ (S. 20f.).

Wie sich unterrichtliche Kommunikation über den Nationalsozialismus in der Praxis darstellt, haben die Herausgeber bereits in einer früheren Pilotstudie untersucht.2 Diese basiert auf der Beobachtung von mehrmonatigen Lehreinheiten zum Nationalsozialismus in zwei 12. Klassen des Gymnasiums, bietet also eine dichte Beschreibung eines allerdings relativ schmalen Wirklichkeitsausschnitts. Der jetzige Sammelband geht auf eine 2003 veranstaltete Tagung zurück, die Ansatz, Befunde und Schlussfolgerungen der genannten Studie zur Diskussion stellte. Neben Vorwort und Einleitung versammelt der Band insgesamt zwölf Beiträge aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven. Umso bemerkenswerter erscheint es, dass die Publikation kein herkömmlicher „Sammel“-Band geworden ist: Die zahlreichen Aufsätze fokussieren nicht nur konsequent ein gemeinsames Thema, sondern nehmen fast alle auch tatsächlich Bezug auf die Pilotstudie, die sie durchaus unterschiedlich interpretieren und bewerten.

Zu würdigen ist ferner die sinnvolle Gliederung. Im ersten Teil wird mit Beiträgen von Norbert Frei, Harald Welzer und Jochen Kade das erinnerungskulturelle Umfeld des Schulunterrichts beleuchtet. Damit sind auch wichtige konkurrierende Instanzen benannt, etwa das die Logik der Beteiligung umkehrende und den Holocaust unterschlagende Familiengedächtnis (Welzer) sowie das eindrucksstarke, ästhetisierende und selbst pädagogisierende Medium des Spielfilms (Kade).

Zu Beginn des zweiten (und zentralen) Teils präsentieren die Herausgeber noch einmal wesentliche Beobachtungen und Schlussfolgerungen der Pilotstudie. Sie geben den folgenden Beiträgen damit auch provokante Interpretationen vor, an denen sich die Autoren reiben können. Anhand von Unterrichtstranskripten entwickeln Meseth, Proske und Radtke die These, dass der Unterricht eine von SchülerInnen und Lehrkraft gemeinsam getragene „Inszenierung von Kommunikation“ sei – wobei beide Parteien bestrebt seien, den Ball der erinnerungskulturellen Erregung flach zu halten und Ansprüche einzugrenzen, die sich auf die ganze Person richten. Irritierend fällt die übergreifende Schlussfolgerung aus, dass der Geschichtsunterricht nicht mehr leisten könne als die „Einübung in die sozial gültig gemachten Redeweisen“ (S. 142) über Nationalsozialismus und Holocaust, also die Habitualisierung eines bereits institutionalisierten rhetorischen Minimalkonsenses.

Dieser Provokation hält Horst Rumpf das Ideal einer pädagogischen Praxis entgegen, die durch gemeinsames „Anschauen der Sache“ konstruktive Irritationen erzeugen könne. Der folgende Text von Andreas Gruschka – der neben dem Beitrag Micha Brumliks besonders hervorzuheben ist – geht ebenfalls von der Aufrechterhaltung der Bildungsaufgabe aus, wird jedoch konkreter. Während Gruschka die Interpretation der Herausgeber als einen „naturalistischen Fehlschluss“ deutet (S. 161), sieht er die Ursache der in der Praxis beobachteten Probleme gerade darin, dass der „mögliche Bildungssinn der Sache“ nicht ausreichend reflektiert worden sei (ebd.). Gruschka versteht die vorgestellten Unterrichtsstunden als Beispiele eines ziellosen Unterrichts, der inhaltliche Leere durch didaktische Inszenierung übertöne. Diese Interpretation kehrt die übliche Sicht eines Missverhältnisses von unterrichtlichem Angebot und Nachfrage der Rezipienten um: Gruschka glaubt im Material Hinweise zu entdecken, dass sich das „Bildungsinteresse der Schüler“ auch durch das „didaktische Arrangement“ nicht ganz „sedieren“ lasse (S. 171).

Der Beitrag von Brumlik ist weniger am konkreten Material der Pilotstudie orientiert als an grundsätzlichen Fragen des Umgangs mit dem Holocaust. Er versucht zu zeigen, warum ein reformpädagogischer Erfahrungsbegriff – wie er im vorliegenden Band von Rumpf vertreten wird – in diesem Zusammenhang untauglich sei. Dabei kommen auch allgemeinere Phänomene wie die Tendenz zur Ästhetisierung der Erinnerung oder der Widerspruch zwischen Gedenken und pädagogischen Instrumentalisierungen in den Blick. Gegenentwürfe bietet Brumlik jedoch nur in vagen Umrissen und auf dem Umweg über bewusst paradoxe Strategien an, etwa durch Überlegungen in Richtung auf eine „negativistische, das heißt nicht einfach darstellende, sondern jede Darstellung kritisierende Ästhetik“ als einzige Möglichkeit, „die Nichterfahrbarkeit der Massenvernichtung erfahrbar zu machen“ (S. 203).

Während der zweite Teil des Bands – der auch einen Aufsatz von Wolfgang Ludwig Schneider zu „Strukturen moralischer Kommunikation im Schulunterricht“ umfasst – die Pilotstudie als Ausgangspunkt erziehungswissenschaftlicher Kontroversen nimmt, soll im dritten und letzten Teil der Blick auf „praxisbezogene Reflexionen“ und „empirische Befunde“ gelenkt werden. Er enthält neben einem Aufsatz von Verena Haug (zur Gedenkstättenpädagogik) und einem abschließenden Beitrag von Gerhard Henke-Bockschatz (zum Holocaust als Unterrichtsthema) einen Text Gottfried Kößlers, der sich als einer der in den beobachteten Schulstunden unterrichtenden Lehrer offenbart und zu der von den anderen Autoren geäußerten Kritik Stellung nimmt. Insbesondere verteidigt Kößler den Sinn der von ihm in einer Unterrichtssequenz eingenommenen Rolle des „neutralen Moderators“, wodurch die im Band immer wieder aufbrechende Kontroverse um Zielorientierung und Ergebnisoffenheit eine neue Dimension erhält.

Die geführte Diskussion stellt sich noch einmal anders dar, wenn man den Band vom Ende her liest, d.h. vor dem Hintergrund des von Bodo von Borries verfassten vorletzten Beitrags. Dann zeigt sich eine andere Facette des Gegensatzes zwischen geschichtsdidaktischem Realismus und erinnerungskulturellen Besorgtheiten. Denn von Borries begreift das Problem in exakter Inversion zu Brumlik: nicht vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, einem ethisch grundlegenden und sozialpsychologisch hoch relevanten historischen Zentralereignis gerecht zu werden, sondern mit Blick auf die übergreifenden Lernziele des Geschichtsunterrichts, als deren thematisches Medium sich der Stoff offenbar bewähren muss. Dies veranlasst von Borries zum Schluss, die „Fixierung auf den ‚Nationalsozialismus’ mit Vernichtungskrieg und Völkermord“ habe „für das Geschichtslernen in Deutschland möglicherweise verheerende Konsequenzen“, denn wesentliche Kompetenzen wie etwa der „multiperspektivische und prüfende Zugriff auf die Quellen“ ließen sich am (angeblich) „übereindeutigen Nationalsozialismus“ nicht lernen (S. 294f.) – eine Sicht, die nicht zuletzt als erinnerungskulturelle Intervention sicherlich näherer Diskussion bedürfte.3

Von Borries’ Beitrag lässt erkennen, dass der Konsens über die Bedeutung des Themas für den Unterricht nicht mit der meist unterstellten Selbstverständlichkeit gegeben ist. Wie sich bei der Lektüre dieser ungewöhnlich interessanten und auch für die pädagogische Praxis anregenden Publikation jedoch zeigt, wird die Diskussion gegenwärtig als eine Auseinandersetzung über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit „moralischer“ Kommunikation im Unterricht geführt. In der undifferenzierten, tendenziell negativ konnotierten Verwendung des Begriffs „Moral“ scheint aber eine Schwäche des Diskurses wie des vorliegenden Bands zu liegen.

Anmerkungen:
1 Aufsehen bezüglich der scheinbaren Erfolglosigkeit des Geschichtsunterrichts erregte die Studie: Silbermann, Alphons; Stoffers, Manfred, Auschwitz. Nie davon gehört? Erinnern und Vergessen in Deutschland, Berlin 2000 (rezensiert von Jan-Holger Kirsch: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=215>). Das von den Autoren in den Titel gesetzte Fragezeichen wurde bei der Rezeption dieser Publikation freilich kaum zur Kenntnis genommen.
2 Hollstein, Olliver; Meseth, Wolfgang; Müller-Mahnkopp, Christine; Proske, Matthias; Radtke, Frank-Olaf (Hgg.), Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation. Bericht zu einer Pilotstudie, Frankfurt am Main 2002.
3 Dass von Borries den Holocaust als „ungeheuerliches und unappetitliches Thema“ qualifiziert (S. 271), stimmt zudem bedenklich.

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