H. Scharbaum: Zwischen zwei Welten

Titel
Zwischen zwei Welten. Wissenschaft und Lebenswelt am Beispiel des deutsch-jüdischen Historikers Eugen Täubler (1879-1953)


Autor(en)
Scharbaum, Heike
Reihe
Münsteraner Judaistische Studien 8
Erschienen
Münster 2001: LIT Verlag
Anzahl Seiten
136 S.
Preis
€ 15,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Becher, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Wo liegt der Zusammenhang von Lebenswelt und Wissenschaft in den Biografien von HistorikerInnen? Gibt es tatsächlich, wie es eine Seite vertritt, keinen anderen Weg zu wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion, als den der unbedingten Objektivität, an dessen Ende sich das Subjekt im Dienste der Forschung selbst negiert hat? Oder ist es gerade, so eine andere Seite, die bewusste und unbewusste Subjektivierung des Objekts, die Forschung beginnen lässt und weiter zum Ergebnis trägt? Heike Scharbaum positioniert ihre Arbeit innerhalb dieser Kontroverse um die Bedeutung des Menschen und seiner Biografie für die wissenschaftliche Arbeit. Sie tut dies anhand des Lebens und des Lebenswerkes des Historikers Eugen Täubler.

Täublers Leben zeichnete sich durch sein spannungsvolles wie kreatives Verhältnis zur jüdischen Kultur und Religiosität einerseits und der Rationalität und Methodik moderner Historiographie andererseits aus. Dies wird besonders an seinen Lebensabschnitten und Wechsel der Forschungsinteressen deutlich. Geboren in Posen und aufgewachsen im Umfeld osteuropäischen, jüdischen Gemeindelebens der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, ging er kurz nach der Jahrhundertwende nach Berlin, um am dortigen Rabbinerseminar zu studieren. Schon bald aber wechselte er an die liberalere ›Hochschule für die Wissenschaft des Judentums‹.

Während er auch an der Friedrich-Wilhelm-Universität die Möglichkeiten zum Studium der Altertumswissenschaften, der klassischen und orientalischen Philologie und der Archäologie nutzte, begann er sich gleichzeitig mit dem Zionismus auseinander zu setzen. Bis zum Abschluss seiner Promotion, gehörte Täubler zum leitenden Gremium der ›Akademisch-zionistischen Gruppe‹. Ebenfalls in denselben Zeitraum fiel seine Konfrontation mit den Philosophien Georg Simmels und Wilhelm Diltheys, die sein eigenes Geschichtsverständnis prägen sollten. In seinen zukünftigen wissenschaftlichen Arbeiten setzte sich Täubler konstruktiv mit den subjektorientierten Entwürfen von Historiographie in den Theorien Lamprechts, Diltheys oder Max Webers auseinander. Unter dem Eindruck der Historismuskrise übersetzte er diese Ansätze aber nicht nur für seine eigenen, klassisch altertumswissenschaftlichen Arbeiten, sondern wollte sie auch für eine dezidiert historiographische Betrachtungsweise der jüdischen Geschichte fruchtbar machen. Dadurch arbeitete Täubler an einer modernen Methodik für die Wissenschaft des Judentums, die sich deutlich von den gängigen Talmudstudien des 19. Jahrhunderts unterscheiden sollte. Hierzu veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze 1.

Nicht nur Täublers Publikationen, auch seine verschiedenen Tätigkeiten und Ämter vereinigten Judentum und Geschichtswissenschaft in einer Person. So wurde er 27 jährig Direktor des neu gegründeten ›Gesamtarchivs der deutschen Juden‹. Mit der Intention, Belege für die Verknüpfung zwischen jüdischer und allgemeiner Geschichte zu finden, wurden unter seiner Leitung Materialien aus zahlreichen städtischen und staatlichen Archiven gesammelt. 1912 wurde Täubler der Lehrstuhl für jüdische Geschichte an der ›Hochschule für die Wissenschaft des Judentums‹ übertragen.

Nach dem ersten Weltkrieges habilitierte Täubler und wurde Privatdozent für Alte Geschichte an der Universität Berlin. Gleichzeitig legte er seine Ämter am Gesamtarchiv und der Hochschule nieder. Obwohl er sich später dahingehend äußerte, dass er sich zu diesem Schritt veranlasst gesehen hatte, weil die jüdische Geschichte ihn zum einen zu sehr beengte und er sich unter dem Eindruck des Krieges zum anderen zu mehr universalgeschichtlichen Forschungsinteressen gedrängt fühlte, war er trotzdem von 1919 bis 1922 Direktor der neu gegründeten ›Akademie für die Wissenschaft des Judentums‹.

Diesem Institut lag das Programm zugrunde, die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte mit den Standards anderer Forschungen zu führen, um dadurch gleichberechtigt im gesamtwissenschaftlichen Diskurs dieser Jahrzehnte positioniert zu sein. In den folgenden Jahren setzte sich Täublers akademische Karriere fort, indem er ab 1922 in Zürich in den Fächern Griechische und Römische Geschichte arbeitete und 1925 als Ordinarius für Alte Geschichte in Heidelberg Mitglied der Akademie der Wissenschaften wurde. Dennoch setzte sich auch hier sein Engagement für den Fortschritt jüdischer Geschichtswissenschaft fort, wobei er sowohl zahlreiche Vorträge für die ›Zionistische Ortsgruppe‹ in Heidelberg hielt als auch als Mitherausgeber der ›Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland‹ tätig war. Als Täubler am 1. April 1934 zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde, kam es nicht nur biographisch, sondern auch forschungsthematisch zum deutlichsten Bruch in seinem Leben.

Er kehrte an die ›Hochschule für die Wissenschaft des Judentums‹ in Berlin zurück und lehrte dort bis zu seiner Emigration 1941. Allerdings beschäftigte er sich seit dieser Zeit ausschließlich mit der Methodisierung und Diskursorientierung der jüdischen Geschichtswissenschaft. Täubler gab also sein Interesse für die allgemeine Geschichte auf. Darüber hinaus dehnte er sein Engagement für die Juden in Deutschland auf die politische Ebene aus, indem er ab 1933 im Erziehungsausschuss der ›Reichsvertretung der deutschen Juden‹ tätig war. Trotz seiner Auseinandersetzung mit dem Zionismus, ging er 1941 nicht an die ›Hebräische Universität‹ in Jerusalem, sondern an das ›Hebrew Union College‹ in Cincinnati ins Exil. Auch in den USA widmete er sich schließlich weiter der modernen Historiographie des Judentums. 1950 übernahm er die Aufgabe des Vizepräsidenten der ›American Academy for Jewish Research‹. Eugen Täubler verstarb 1953 in Cincinnati.

Heike Scharbaums Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Stationen des Lebens Täublers und seinen Forschungsinteressen kausal verknüpft. Unter den Begriffen ›Rationalisierung‹ und ›Institutionalisierung‹ bezieht sie z. B. Täublers Arbeitsprogramme im ›Gesamtarchiv‹, an der ›Akademie für die Wissenschaft des Judentums‹ auf die lebensweltlichen Rahmenbedingungen der Täublerschen Biographie. Dabei ist es ihr gelungen, die Forschungsinteressen und -tätigkeiten Täublers als Antworten auf die sozialen und politischen Entwicklungen, insbesondere auf die Brucherfahrung nach 1933 lesbar zu machen.

Innerhalb dieses Kontextes wird uns Eugen Täubler als ein Mensch vorgestellt, der zwischen zwei komplexen Welten lebte, die sich einerseits überlagerten und Schnittmengen offenbarten, andererseits im Laufe der Zeit als zunehmend unvereinbar erscheinen mussten. Diese war die Welt der aufgeklärten Moderne, die allerdings begann, sich auf dem vermeintlichen Höhepunkt ihrer Entwicklung von innen her selbst zu zerstören. Jene war die Welt des deutschen Judentums, das zwar an einer selbstbewussten Integration in die deutsche Gesellschaft arbeitete, aber auch innerhalb dieses sozialen Rahmens seine Tradition finden, seine Einzigartigkeit bewahren wollte. Dies hatte spätestens seit dem Ende des 1. Weltkrieges in einer zunehmend feindlichen Gesellschaft statt zu finden. Besonders bemerkenswert und vor dem Hintergrund der ungeheuerlichen späteren Ereignisse im Rückblick ungemein rätselhaft, aber dann auch sehr plausibel war das bis in die vierziger Jahre dauernde Engagement von Menschen wie Täubler, diese beiden Welten der deutschen und jüdischen Geschichte und Gegenwart integrieren und vereinbaren zu wollen. Dass Heike Scharbaum die dadurch entstehende, persönlich empfundene Verdopplung der Gestalt Eugen Täublers hat zeigen können, ist ein wertvoller Punkt dieser Arbeit.

Um dieses Charakteristikum herauszuarbeiten, hat sie den Begriff der Ambivalenz, wie er von dem Soziologen Zygmunt Bauman entworfen wurde, operationalisiert. Nach Bauman bietet im Kontext postmoderner Vielfältigkeit wissenschaftstheoretischer Ansätze "Ambivalenz die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen." 2. In diesem Sinne schafft der Begriff der Ambivalenz zuerst eine Integrationsleistung, indem es mit ihm möglich wird, das "Andere der Ordnung" 3, wie z. B. Undefinierbarkeit, Unvereinbarkeit, Irrationalität oder Mehrdeutigkeit zu umfassen. Wissenschaftstheoretisch bedeutet das, dass dadurch die moderne Opposition von Objekt und Subjekt oder Rationalität und Emotion als aufgehoben gedacht werden kann. Dadurch wird es möglich, sich unter dem postmodernen Flimmern der Gewalten von der alten europäischen Konstruktion einer Objekt-Subjekt- oder Geist-Körper-Dichotomie zu lösen.

Die Leistung Heike Scharbaums ist, den Begriff der Ambivalenz an der Biographie Eugen Täublers erkenntnisbringend und gewinnend ausprobiert zu haben und dies in einer sehr zugänglichen Diktion zu vermitteln. So gelingt es, den Zusammenhang von Lebenswelt und Forschung Eugen Täublers im Kontext gesellschaftlicher wie kultureller Fixierung und des individuellen Schicksals auf eine neue Weise zu verstehen, was auf eine gewisse Art tatsächlich einem hermeneutisches Verfahren entspricht. Aus der postmodernen Perspektive wird so die scheinbare Ewigkeit objektiver Erkenntnis schal, weil sich deren Ausschließlichkeit unter der zunehmenden Grausamkeit jüdischen Lebens bei einem typischen Vertreter der Geschichtswissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts im Leiden äußert, was die zahlreich wiedergegebenen Passagen aus Briefen Täublers und Berichten seiner Kollegen und Freunde belegen. Es ist nur zu loben, dass qualifizierte Examensarbeiten über Plattformen wie in diesem Falle dem LIT-Verlag bzw. den ›Münsteraner Judaistischen Studien‹ einen angemessenen Zugang zur Öffentlichkeit finden, denn natürlich ist diese Arbeit auch gegenwartsangebunden und politisch.

So erschließt sich den LeserInnen anhand der Quellen wie auch des ausführlichen Werkverzeichnis Täublers ein Kanon von wissenschaftlicher Forschung, deren zugrunde liegendes Interesse auf plausible Art mit den Lebensstationen des Historikers verknüpft erscheint. Der sich anziehende Gegensatz von Ereignis und Inhalt, deren scheinbare Bipolarität und die Konfrontation mit der Erkenntnis, dass diese Konstruktion Anfang des 20. Jahrhunderts zu hinken beginnt, sind in der Darstellung von Heike Scharbaum die wesentlichen Kriterien der Täublerschen Arbeit, seiner Berufswahl und Lebensgestaltung gewesen. Dass die Übertragung des Baumanschen Ambivalenzbegriffes dabei nicht beliebig ist, belegen Täublers eigene Äußerungen. In seiner Antrittsvorlesung an der ›Hochschule für die Wissenschaft des Judentums‹ 1938 sprach er von der Tragik seiner eigenen und der jüdischen Existenz:

"Gewollte und nicht gewollte Wendungen im Leben trafen mit inneren Motiven zusammen. Ich verließ die Lehranstalt, weil die Bindung an die jüdische Geschichte mich zu sehr einengte […] Hinzu kam als noch stärkerer Trieb, bis heute in immer noch zunehmender Steigerung, das Interesse für die allgemeinen Fragen der Geschichtswissenschaft und der Drang nach universalgeschichtlicher Ausweitung […] Ich brauchte für meine Entwicklung ein breiteres Feld, als es die einem speziellen Lebensbereich dienende Lehranstalt mit bieten konnte.

Aber es war nicht nur das wissenschaftliche Interesse, das mich auf diesen Weg wies, sondern ein noch tieferer, ein persönlicher Grund, und dieser war es zugleich, der es bewirkte, dass ich mich eigentlich nur äußerlich der Lehranstalt entfremdete. Ich blieb ihr im Geiste immer verbunden, weil der Ausgangspunkt meiner geschichtlichen Fragestellung immer das Judentum gewesen ist; und mit diesem ich mir selbst. Beides fällt zusammen. Ich war - und bin - mir selbst ein Problem in derselben Weise, wie das Judentum es mir ist. […] Ich: d. h. ich mit der Gemeinschaft, deren Schicksal mein Schicksal war und mich geformt hat. Es bedurfte des ganzen Prozesses von 3000 Jahren, um mich so werden zu lassen, wie ich bin, und ich trage den ganzen Prozess, dessen Produkt ich bin, in mir." 4

Allerdings beantwortet die Arbeit eine Frage nicht, was allerdings auch nicht als Ziel von Heike Scharbaum formuliert wurde, in ihrer Konsequenz aber zumindest in vielleicht weiteren Untersuchungen auch von anderer Seite gestellt werden sollte. Denn was bedeutet es für die Forschungstätigkeit von GeschichtswissenschaftlerInnen, wenn Undefinierbarkeit, Unvereinbarkeit, Irrationalität oder Mehrdeutigkeit Teil ihrer Lebenswelt ist? Können wir denn überhaupt in dem Bewusstsein dieser Ambivalenz Erkenntnis produzieren? Führt der Verzicht auf die postmoderne Ambivalenz zu Dogmatismus und Ideologie? Wenn schon am Anfang dieses Jahrhunderts ein Historiker mit zwei Wahrheiten in einer Brust leben konnte und sich dies heute nach den persönlichen Brüchen des letzten Jahrzehnts, dem Verlust von Traditionsräumen und sich gleichzeitig täglich vollziehenden individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Innovationen wiederholen kann (weil die Ambivalenz schon lange nicht mehr vor der Tür steht, sondern schon an dem Bürotisch, auf dem Sofa und im Detail sitzt), wie wird die generell konservative Geschichtswissenschaft darauf reagieren?

Nimmt man die in Heike Scharbaums Arbeit am Beispiel Eugen Täubler nachgewiesene Verbindung von Lebenswelt und Wissenschaft und den Baumanschen Ambivalenzbegriff ernst, dann hätte dies auch Konsequenzen für die Gestaltung zukünftiger Forschung in dem Sinne, dass die Integration des Subjekts ins Objekte darstellende Medium obligatorisch werden würde. Der Weg bis dahin wird von Diskussionen begleitet sein. Wer sich daran beteiligen möchte, kann in der besprochenen Arbeit jetzt schon nachlesen.

Anmerkungen:
1 gesammelt sind diese in Täubler, Eugen, Aufsätze zur Problematik jüdischer Geschichtsschreibung 1908-1950 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 36), hrsg. und eingeleitet von Selma Stern-Täubler, (Tübingen, 1977).
2 Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, (Frankfurt. a. M., 1996), 13.
3 ebd., 19.
4 Täubler, Eugen, "Judentum als tragische Existenz", S. 47-51, in: Ausgewählte Schriften zur Problematik jüdischer Geschichtsschreibung 1908-1950, vgl. Anm. 1, hier S. 49; zit. nach Scharbaum, 95 f.

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