Cover
Titel
Geschichtsbewußtsein im Jugendalter. Grundzüge einer Entwicklungspsychologie historischer Sinnbildung


Autor(en)
Kölbl, Carlos
Reihe
Zeit - Sinn - Kultur
Anzahl Seiten
387 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Barrelmeyer, Enger

Die deutsche Geschichtsdidaktik, so stellte Bodo von Borries 1 unlängst in einem bilanzierenden Forschungsüberblick für die „Zeitschrift für Geschichtsdidaktik“ heraus, werde bei der Erforschung der „Genese und Entwicklungslogik des Geschichtsbewusstseins“ nicht umhinkommen, sich zukünftig näher mit dem Stand der internationalen Entwicklungspsychologie zu befassen. Insbesondere seien empirische Studien im Sinne quantitativer und qualitativer Sozialforschung unverzichtbar.

Angesichts dieses Befundes erscheint es folgerichtig, dass Carlos Kölbl mit seiner Dissertationsschrift für den Bereich der qualitativen Sozialforschung einen entwicklungspsychologischen Beitrag zur genaueren Erforschung jugendlichen Geschichtsbewusstseins vorlegt (S. 18). Die Studie ist an Leser gerichtet, die sich aus (unterrichts-)praktischen wie wissenschaftlichen Interessen (Geschichtsdidaktiker, Entwicklungspsychologen) mit Fragen der Entwicklung und Struktur von Geschichtsbewusstsein beschäftigen. Die Konzentration auf das in schulischen Zusammenhängen untersuchte jugendliche Geschichtsbewusstsein begründet Kölbl mit dem Hinweis darauf, dass „ein eigentlich historisches Bewusstsein sich allererst in der Adoleszenz herausbilden“ (S. 18) könne. Damit sei indes nicht bestritten, dass es sehr wohl kindliche Vorstufen von Geschichtsbewusstsein gebe und auch die Schule keineswegs der einzige oder gar bevorzugte Ort historischer Bewusstseinsbildung sei.

Die empirische Erforschung des adoleszenten Geschichtsbewusstseins ist nicht das einzige Ziel der Studie. Der Autor bemüht sich darüber hinaus „um eine kritische Würdigung des erreichten Forschungsstandes, einen Beitrag zu einer theoretischen Grundbegrifflichkeit, die Explikation methodologisch-methodischer Grundlagen sowie eine Skizze praktischer und wissenschaftlicher Konsequenzen“ (S. 19), die aus den empirischen Forschungsergebnissen resultieren. Die Studie gliedert sich dementsprechend in folgende Abschnitte: Auf anfängliche begriffliche Klärungen zum Leitbegriff des Geschichtsbewusstseins (Kap. 2) folgen Ausführungen zum derzeitigen Forschungsstand (Kap. 3), zu den theoretischen Grundzügen einer Entwicklungspsychologie des Geschichtsbewusstseins (Kap. 4) sowie zu den methodologisch-methodischen Grundlagen einer qualitativ ausgerichteten Erforschung jugendlichen Geschichtsbewusstseins (Kap. 5). Den Abschluss bildet eine Darstellung der empirischen Arbeitsergebnisse (Kap. 6), die durch eine „unsystematische kursorische Skizze praktischer und wissenschaftlicher Konsequenzen“ (S. 354) ergänzt wird (Kap. 7).

Im Hinblick auf den Leitbegriff des Geschichtsbewusstseins unterscheidet Kölbl zwischen einem weiten Begriff von Geschichtsbewusstsein, der das menschliche Existenzial des „[i]n Geschichte-Verstrickt-Seins“ (S. 34) zum Ausdruck bringe, und einem engeren Begriff des „modernen Geschichtsbewusstseins“ (S. 38). Für das moderne Geschichtsbewusstsein seien etwa Merkmale wie Verwissenschaftlichung, Kontingenzbewusstsein sowie Alteritäts- und Alienitätserfahrungen konstitutiv. Das „moderne Geschichtsbewusstsein“ qualifiziert Kölbl als ein idealtypisches Konstrukt, das als „sensibilisierendes theoretisches Konzept“ (S. 38) zur heuristischen Orientierung der nachfolgenden empirischen Analysen dienen soll.

Den gegenwärtigen Forschungsstand beurteilt Kölbl insgesamt skeptisch: „Beklagenswert ist nicht nur der Mangel überhaupt an empirischen Studien und theoretischen Konzeptualisierungen des Geschichtsbewusstseins, sondern auch die mangelnde Fundiertheit vieler vorliegender Ansätze.“ (S. 91) So lasse eine Durchsicht der Forschungsliteratur häufig die „Schlichtheit des methodischen Instrumentariums“ (S. 91) deutlich werden. Insbesondere erschwere die zu beobachtende Verwendung geschlossener Fragen im Rahmen quantitativer Forschungsarbeiten eine adäquate Erfassung der „historische[n] Narrative“ der Forschungspartner. Hinzu trete der Mangel einer kohärenten „Grundbegrifflichkeit, die deutlich machen würde, was Entwicklung historischer Sinnbildung psychologisch heißt“ (S. 92). Auf die Ausarbeitung einer solchen Begrifflichkeit konzentriert sich der Autor im 4. Kapitel.

Dabei stellt er zunächst klar heraus, dass eine fachwissenschaftlichen Ansprüchen genügende Entwicklungpsychologie des Geschichtsbewusstseins zum einen „in Analogie zum Unternehmen einer empirisch und theoretisch gehaltvollen Psychologie der theoretisch-logischen bzw. moralisch-praktischen Vernunft `zu bauen´“ (S. 95) sei. Hierfür böten die Arbeiten Jean Piagets, Lawrence Kohlbergs und Carol Gilligans wichtige konzeptionelle Anregungen. Für die Belange einer Entwicklungspsychologie des adoleszenten Geschichtsbewusstseins lieferten zudem die kulturhistorischen bzw. -psychologischen Arbeiten Lew Wygotskis und Alexander Lurias sowie Jürgen Straubs Arbeiten zur „narrative[n] Psychologie historischer Sinnbildung (S. 96) wertvolle Handreichungen: Über die Aneignung kultureller Artefakte (z.B. Comics, Fernsehen) nähmen die Jugendlichen Teil am historischen Diskurs ihrer jeweiligen Gesellschaft. Sie bildeten „narrative Abbreviaturen“ (S. 76) zur Strukturierung der historischen Welt. Diese zumeist in sprachlicher Form „externalisierte[n] Interiorisationen“ (S. 164) seien vom jeweiligen Forscher hinsichtlich der zugrunde liegenden kognitiven, emotionalen und motivationalen Bedeutungsgehalte zu interpretieren. Inwiefern dafür die von Kölbl präferierten „aktuellen qualitativ-methodischen Idealvorstellungen“ (S. 168) zu berücksichtigen sind, ist Thema des 5. Kapitels.

Kölbl plädiert im Sinne des „grounded theory“-Ansatzes von Barney Glaser und Anselm Strauss (S. 175) für eine qualitative Erforschung des adoleszenten Geschichtsbewusstseins. Dabei rücke der Forscher zunächst die Binnenperspektive der Forschungspartner in den Vordergrund und transzendiere diese unter Beachtung der Kernkriterien qualitativer Sozialforschung (Validität, Verallgemeinerbarkeit, Reproduzierbarkeit und Zuverlässigkeit) sukzessive im weiteren Forschungsprozess mittels vergleichender Interpretation des Datenmaterials (Konstruktion von Typiken) (S. 189, 224). Als angemessene methodische Instrumentarien zur qualitativen Erforschung von Geschichtsbewusstsein stellt Kölbl insbesondere die Gruppendiskussion sowie das narrativ angelegte Interview heraus.

Auf das skizzierte Forschungsdesign greift der Autor für die im 6. Kapitel vorgestellte eigene Stichprobenuntersuchung zurück. Kölbl untersucht mittels Gruppendiskussionen und Einzelinterviews das Geschichtsbewusstsein von 36 SchülerInnen (anteilig aus sechsten, achten und zehnten Klassen eines Gymnasiums bzw. einer Hauptschule). Drei Stichprobenergebnisse seien exemplarisch vorgestellt: Die interpretative Durcharbeitung des empirischen Materials lässt für Kölbl (S. 346f.) zunächst die spezifische Modernität des adoleszenten Geschichtsbewusstseins hervortreten. Im Zentrum der Bemühungen der Jugendlichen um historisches Verstehen ständen zweitens Analogiebildungen, die ihren Ausgang von etwas Vertrautem nähmen („reflektierende Nostrifizierung“ (S. 352)). Komplementär dazu werde bei historischen Erklärungsversuchen insbesondere auf alltägliches Akteurswissen und eher selten auf überpersonale Strukturen abgestellt. Die Erklärungsversuche der Forschungspartner unterschieden sich zudem darin, inwiefern kurze Verweisungsketten (anthropologische Grundkonstanten) oder elaborierte multifaktorielle Begründungen Verwendung fänden (Verzeichnung schulformenpezifischer Differenzen).

Weiterhin werde drittens deutlich, dass das Unterrichtskonzept einer „greifbaren Vergangenheit“ (historische Artefakte, filmische Repräsentationen u.a.) historische Lernprozesse entscheidend befördere.

„Entgegen weitverbreiteten Lamenti in der Geschichtsdidaktik sowie in Teilen der weiteren Öffentlichkeit“ bezüglich der Defizite des Geschichtswissens von Schülern, pointiert Kölbl (S. 355) abschließend in Kapitel 7 seine Arbeitsergebnisse in unterrichtspraktischer Hinsicht, „kann das geschichtliche Denken einiger der hier zu Wort gekommenen Jugendlichen als außerordentlich komplex angesehen werden“. Ferner sei bei den befragten Jugendlichen eine „Reihe zum Teil brennender historischer Interessen“ (S. 354) zu beobachten, die zukünftig im Vordergrund eines lebendigen Geschichtsunterrichts („greifbare Vergangenheit“) stehen müssten. Im Hinblick auf die wissenschaftlichen Konsequenzen betont Kölbl die Vorläufigkeit der vorgelegten Studie sowie die Dringlichkeit von Längsschnittuntersuchungen, interkulturellen Analysen sowie einer durchdachteren Verschränkung qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden.

Kölbl bringt im Vorwort seiner Studie die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Lektüre sich für unterschiedliche Leserinteressen lohnen möge. Diese Hoffnung darf durchaus bestätigt werden. Die Stärken der kenntnisreichen und informativen Arbeit liegen im theoretisch-konzeptionellen Bereich. Dies betrifft die argumentativ differenziert vorgetragenen begrifflichen Reflexionen, die Ausführungen zu einer Entwicklungspsychologie historischer Sinnbildung sowie – ungeachtet einiger Längen – die eng damit zusammenhängende methodologisch-methodische Grundlagenreflexion. Auch der Forschungsüberblick bietet insbesondere wegen der disziplinenübergreifenden Ausrichtung eine anregende und gewinnbringende Lektüre, wobei einzelne pointierte Bewertungen die kritische Urteilsbildung des Lesers herausfordern. Allerdings überrascht angesichts der umfänglichen theoretisch-konzeptionellen Anlage der – laut Verlagsankündigung – empirischen Studie deren schmale empirische Basis. Dies mag zunächst mit dem Hinweis auf die Eigenart qualitativer Sozialforschung konzeptionell zu rechtfertigen sein. Eine gewisse Unzufriedenheit stellt sich allerdings spätestens dann ein, wenn der Leser die empirischen Forschungsergebnisse und unterrichtspraktischen Konsequenzen genauer in den Blick nimmt. Deren Gehalt ist, vor dem Hintergrund unterrichtspraktischer Erfahrungen, als begrenzt zu qualifizieren.

Anmerkung:
1 Borries, Bodo von, Genese und Entwicklung, Lern- und Lebensalter als Forschungsproblem der Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 44-58, hier S. 50, 54. Für eine übergreifende Einordnung des rezensierten Beitrags in das Themenfeld „Jugendliches Geschichtsbewusstsein“ vgl. den dem internationalen Forschungsprojekt „Fuer Geschichtsbewusstsein“ gewidmeten Jahresband 2003 der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik. Zugang auch unter: http://www1.ku-eichstaett.de/GGF/Didaktik/Projekt/FUER.html

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