A. Erll u.a. (Hgg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses

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Titel
Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität - Historizität - Kulturspezifität


Herausgeber
Erll, Astrid; Nünning, Ansgar
Reihe
Media and Cultural Memory / Medien und kulturelle Erinnerung 1
Erschienen
Berlin 2004: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 310 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sören Philipps, Institut für Politische Wissenschaften/European Studies, Universität Hannover

Erinnerung und Gedächtnis als Grundkategorien der kulturwissenschaftlichen Forschung haben Konjunktur, worauf neben dem Großwerk „Deutsche Erinnerungsorte“1 eine Vielzahl neuerer Veröffentlichungen hinweisen. Dem Anteil der Medien an den Transformationsprozessen von Erinnerung in kollektive Gedächtnisinhalte aber wurde bislang wenig Beachtung geschenkt. Die diesbezügliche konzeptionelle Unklarheit ist bereits bei den klassischen Theoretikern des kollektiven Gedächtnisses wie Maurice Halbwachs, Pierre Nora und Aby Warburg festzustellen und macht die theoretisch-methodische Systematisierung ihrer heterogenen und inhaltlich oft vage bleibenden Medienbegriffe zu einem Forschungsdesiderat ersten Ranges.

Der von Astrid Erll und Ansgar Nünning herausgegebene Band mit dem Titel „Medien des kollektiven Gedächtnisses“ nimmt sich dieser Aufgabe an und rückt die Medialität programmatisch ins Zentrum. Hervorgegangen aus Diskussionen des SFB „Erinnerungskulturen“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen, bildet diese Veröffentlichung den Auftakt zu der neuen, ebenfalls interdisziplinär ausgerichteten Reihe „Media and Cultural Memory / Medien und kulturelle Erinnerung“.

Erll erläutert einleitend die forschungsleitende Perspektive unter den Hauptaspekten „Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität“ (S. 3ff.): Medien sind nicht einfach Speicher für kollektive Gedächtnisinhalte; häufig wird das zu Speichernde durch sie überhaupt erst hergestellt. Dieser Prozess findet unter konkreten historischen und kulturellen Rahmenbedingungen statt, die ihrerseits Einfluss auf die Formung der Inhalte haben. In bewusster Abgrenzung von medientheoretischen und kommunikationswissenschaftlichen Konzepten plädiert Erll für eine kulturwissenschaftliche Perspektive, die einen weiten Medienbegriff unter Einbeziehung der genannten Aspekte erfordere. Sie orientiert sich dabei an Siegfried J. Schmidts Mehrkomponentenmodell von Medien2, das Kommunikationsmittel wie Schrift und Sprache ebenso umfasst wie Medientechnologien zur Verbreitung von Gedächtnisinhalten sowie konkrete kulturelle Erscheinungsformen (z.B. Archive, Fotos) und ihren sozialen Funktionskontext. Der Schwerpunkt liegt auf der theoretisch-methodischen Selbstreflexion – mit dem Ziel, Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb bestehender Konzepte vom kollektiven Gedächtnis aufzuzeigen und weiterführende Forschungsperspektiven zu skizzieren.

Die Aufsätze sind in vier Hauptbereiche gegliedert: Ein erster Abschnitt widmet sich der theoretischen und methodischen Dimension; ein geschichtswissenschaftlich und kulturanthropologisch ausgerichtetes Kapitel schließt sich an. Kapitel drei und vier vervollständigen den Blickwinkel mit Beiträgen aus literatur- bzw. politikwissenschaftlicher Sicht. Die bis zu vier Fallstudien jeder Sektion sollen dazu dienen, „zentrale Ansätze zur Untersuchung von kollektivem Gedächtnis [...] auf ihren je spezifischen Beitrag zur Modellierung des Verhältnisses von Medium und Gedächtnis hin [zu] [be]fragen“ (S. V). Dabei sind es vor allem die Beiträge der theoretischen Sektion, die den programmatischen Anspruch der Herausgeber erfüllen.

Patrick Schmidt kritisiert das lieux de mémoire-Konzept von Pierre Nora als zu vage. Die Breite des Ansatzes habe zwar zu seinem Erfolg beigetragen, berge in sich aber die Gefahr der Beliebigkeit. Schmidt plädiert für eine bewusstere Unterscheidung zwischen Topoi und Medien des kulturellen Gedächtnisses und nennt dessen „Plurimedialität“ (S. 38), das Zusammenspiel mehrerer Medien bei der Konstituierung kollektiver Inhalte, als weitere Differenzierungsebene. Damit verweist er abschließend auf die fehlende soziologische Trennschärfe, die über unterschiedliche Mediennutzungen zum Beispiel von politischen oder intellektuellen Eliten hinweggeht.

Aleida Assmann expliziert ihre schon in früheren Veröffentlichungen erläuterte Unterscheidung zwischen „Funktions- und Speichergedächtnis“ an historischen Beispielen. Sie weist auf das Problem neuerlicher „Überschneidungen und Überlappungen“ hin (S. 59), die sowohl begrifflicher als auch inhaltlicher Art seien. Während um das Jahr 1800 eine museale Institutionalisierung des Speichergedächtnisses vorherrschte, habe die geschichtliche Entwicklung durch das Anwachsen wissenschaftlicher Erkenntnis eine stärkere Trennung von Funktions- und Speichergedächtnis herbeigeführt. Die digitalen Medien schickten sich nun an, das Verhältnis zwischen beiden Gedächtnisformen völlig neu zu ordnen.

Gerald Echterhoffs Beitrag basiert auf einem prozessuralen Verständnis von Medien und unterscheidet zwischen internen und externen Vermittlungsinstanzen einerseits sowie zwischen episodischen und semantischen Gedächtnissystemen. Das unpersönliche Wissen von der Welt, das Echterhoff als „kollektiv-semantisch“ definiert (S. 77ff.), sei abhängig vom expliziten Bezug auf vergangene historische Ereignisse sowie von der Relevanz für gegenwärtiges Handeln. Desiderate sieht Echterhoff auf der gedächtnispsychologischen Seite sozialer Interaktionsvorgänge, da ihr Beitrag zur Schaffung eines überindividuellen Gedächtnisses noch genauer identifiziert werden müsse.

Jens Ruchatz untersucht die Fotografie als Gedächtnismedium am Beispiel der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht“ und verdeutlicht, dass dieses Medium in der Bezugnahme auf das kollektive Gedächtnis zwischen den Modi „Externalisierung“ und „Spur“ changiert (S. 86ff.). Stärker als bisher müsse der Unterschied zwischen absichtlichen und zufälligen Verweisungsformen auf Vergangenes herausgearbeitet werden, analog zur kontextabhängigen Entscheidung, die der Historiker über den Charakter seiner Quelle als intendierte Tradition oder unbewussten Überrest trifft. Ruchatz fordert damit zu Recht, den sozialen Nutzungskontext von Medien mehr zu berücksichtigen, da ihre Materialität allein noch keine hinreichende Erklärung für ihren Gedächtnischarakter bieten könne.

Die Breite des gewählten Medienbegriffs ermöglicht in den nachfolgenden Sektionen die Behandlung eines großen Themenspektrums, das von politischen Balladen und Revolutionsgrafiken über fiktionale Literatur bis zu Architektur, virtuellen Räumen und Exotika wie der alevitischen Langhalslaute oder schwer eingrenzbaren, da abstrakten Gegenstandsfeldern wie dem 11. September reicht. Diese Heterogenität erweist sich jedoch nicht als grundsätzliches Problem, auch wenn das zum Teil wahrnehmbare Übergewicht des Deskriptiven bisweilen den theoretisch-methodischen Zugewinn einschränkt und den betreffenden Beiträgen eher illustrativen Charakter verleiht. Angesichts des Zwangs zur Ausbalancierung von thematischer Engführung und interdisziplinärer Offenheit erscheint die Berücksichtigung neuerer Gegenstandsbereiche wie der von Angela M. Sumner untersuchten Internet-Gedenkstätte „Virtual Wall“ (S. 255ff.) durch den Kontext eher gerechtfertigt als traditionellere Themen, da hier zusätzliches Differenzierungspotenzial wohl in noch größerem Umfang zu erwarten ist (und in der Tat weist die Autorin mit dem Ineinsfallen von Speicherungs- und Verbreitungsfunktion auf ein interessantes Novum hin).

Wünschenswert wäre es gewesen, hätten die AutorInen die im theoretischen Teil aufgezeigten Differenzierungsmöglichkeiten noch stärker für die Fallstudien genutzt. Auch bleibt die soziale Dimension von Medien trotz der ihr zugeschriebenen hohen Relevanz inhaltlich etwas unscharf, was die Notwendigkeit weiterer Forschung anzeigt (zum Beispiel bezüglich gesellschaftlicher Selektionspräferenzen oder „Erinnerungskonkurrenzen“). Das Bemühen der Autoren, keine selbstgenügsame Einzelfallstudie zu betreiben und das Hauptthema des Sammelbands zu beachten, ist aber deutlich erkennbar.

Trotz kleinerer Einwände fällt das Gesamtfazit positiv aus. Die Leitperspektive mit ihrem Fokus auf das Mediale erweist sich in der Praxis als sinnvoll und sollte von der künftigen Forschung stärker berücksichtigt werden, da sie zu größerer Differenziertheit kollektiver Gedächtniskonzepte beiträgt. Die vorliegende Publikation benennt vorhandene Forschungsdesiderate und zeigt an aktuellen Beispielen zugleich Perspektiven für die konzeptionelle Weiterentwicklung auf. Sie ist daher ein wichtiger Beitrag zur Methodendiskussion und kann allen in diesem Bereich Arbeitenden zur Lektüre empfohlen werden. Zu ihren Stärken zählt auch die gute Lesbarkeit: Selbst komplexe Sachverhalte werden verständlich präsentiert, was bei einer interdisziplinären Öffnung des Themas von besonderer Bedeutung ist. Gerade weil er manche Fragen offen lässt, weckt dieser Band die Neugier auf Folgepublikationen der Schriftenreihe.

Anmerkungen:
1 Francois, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.
2 Schmidt, Siegfried J., Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist 2000.

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