K.C. Führer u.a. (Hgg.): Eliten im Wandel

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Titel
Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert. Für Klaus Saul zum 65. Geburtstag


Autor(en)
Führer, Karl Christian; Hagemann, Karen; Kundrus, Birthe
Erschienen
Anzahl Seiten
433 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd-A. Rusinek, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Festschriften stellen den Rezensenten vor zwei Probleme: Es gilt als unfein, sie kritisch zu beleuchten; und sie enthalten oft weit auseinander liegende Beiträge. „Eliten im Wandel“ ist kein Sammelsurium – den einleitend begründeten Forschungsthemen und Desiderata fügen sich die meisten Aufsätze. Sie sind in vier Themenblöcke unterteilt: „Konzepte der historischen Elitenforschung“, „Selbstdeutungen und Handeln gesellschaftlicher Führungsschichten“, „Lebens-Geschichte – Lebensgeschichten“ (worunter wir kurze Biografien zu verstehen haben), „Administration zwischen Restauration und Reform“. In dieser Rezension kann natürlich nur eine Auswahl von Beiträgen erwähnt werden.

Birgit-Katharina Seemanns Aufsatz „Das Konzept der ‚Elite(n)’. Theorie und Anwendbarkeit in der Geschichtsschreibung“ ist programmatisch gemeint. Seemann sieht in Deutschland um 1900 eine Ablösungs- und Übergangsphase von Elite-Formationen (S. 25). Es wird – zu Unrecht 1 – kritisiert, dass dieser Umbruch in der Forschung weitgehend übersehen oder unterschätzt worden sei. Den Eliten-Ablösungsprozess um 1900 stellt die Autorin exemplarisch am Großherzogtum Oldenburg dar. Führungspersonal aus Gewerkschaften und Sozialdemokratie konnte sich dort an die Spitze schieben, nachdem es lange Zeit als Gegen-Elite fungiert und eine mediale Gegen-Öffentlichkeit inszeniert hatte.

Ulrich Prehns Beitrag „Deutungseliten – Wissenseliten. Zur historischen Analyse intellektueller Prozesse“ schließt an Seemann an. Prehn fragt nach Möglichkeiten einer modernen Ideengeschichte und dem Platz von intellektuellen Eliten als „Wissens-, Kultur- und Deutungsproduzenten“ darin (S. 42). Wissenschaftler, die sich mit entsprechenden Studien befassten, hätten wenig bis gar nichts zu der Frage zu sagen, „wie Ideen in das Bewusstsein des Menschen einsickern und wie sie von ihnen angeeignet werden“. Stattdessen werde unbeholfen mit Begriffen wie „höchst einflussreich“ und „bedeutender Denker“ hantiert (S. 48).

Beide Aufsätze fundieren den Band theoretisch und methodologisch; die weiteren können als Umsetzungen angesehen werden. So schreibt Karen Hagemann über „Die Perthes im Krieg. Kriegserfahrungen und -erinnerungen einer Hamburger Bürgerfamilie in der ‚Franzosenzeit’“. Der nationale Gedanke, der die älteren wie die jüngeren Perthes für den Krieg und gegen die Franzosenherrschaft angetrieben hat, erscheint Hagemann nicht als hinreichender Erklärungsansatz. Sie vermutet Karrieregründe als Antrieb, weil die Franzosenherrschaft Karrieren der Hamburger bürgerlichen Eliten gebremst habe (S. 87). Ebenso sozialhistorisch-materialistisch nähert sich Birthe Kundrus in „Skandal und Literatur. Zum Krisengefühl um 1900 in Theodor Fontanes ‚Effie Briest’“ dem prominenten Ehebruchs- und Duell-Epos. Sie spricht so nachdrücklich von „rigiden Rollenzuweisungen an Frauen aus höheren Ständen“ (S. 109), dass man fragen möchte, ob diese nicht auch an Männer gerichtet waren. Für Kundrus ist das Duell ein Zentrum und Garant königlich-preußischer und wilhelminischer Gesellschaftsbejahung. Wo Hagemann den Nationalismus aus bürgerlicher Karrieresucht erklärt, legt Kundrus dem Leser nahe, hinter Formulierungen wie jener, dass Mann und Frau einander „gehören“, stecke die Eigentumsvorstellung des Kartoffelhändlers im Hinblick auf seine Kartoffeln – eine Vorstellung, die allenfalls für Sophie von Hatzfeld zutreffen mag, deren Biografie Arno Herzig in seinem kurzen Beitrag nachzeichnet: Aus Besitzarrondierungsrücksichten zwangsweise mit einem Wüstling verkuppelt, musste sie eine der berüchtigtsten Terror-Ehen des 19. Jahrhunderts aushalten.

Eine wirklich gelungene Kombination von Sozial- und Kulturgeschichte bietet Karl Christian Führers Aufsatz „‚Kulturkrise’ und Nationalbewusstsein. Der Niedergang des Theaters in der späten Weimarer Republik als bürgerliche Identitätskrise“. Es werden interessante und aufschlussreiche Einzelheiten über das Theater in der Weimarer Republik als Teil bürgerlich-elitärer Kultur-Identität präsentiert. Spätestens 1929 setzte auf dem kulturellen Sektor die Kaputtspar-Politik ein (S. 166), und Streichungen in Kombination mit Operettenwelle, Lach- und Flachkultur trugen zum weiteren Ansehensverlust der Republik bei – das umso mehr, als es den Nationalsozialisten gelang, sich erfolgreich als Kulturbewegung zu profilieren.

Michael Grüttner, verdienter Historiker der NS-Studentenschaft, muss in seinem Beitrag über die Hamburger Universität in der Weimarer Republik den schönen Eindruck einer republiktreuen, jedenfalls nicht rechtsradikal-nationalistischen Studentenmehrheit an der Universität Hamburg enttäuschen: Die Hegemonie der Korporationen habe auch in der liberalen, England zugewandten Handelsstadt den Aufstieg der NS-Studenten nicht verhindern können (S. 183). Indirekte Auseinandersetzungen mit dem „Dritten Reich“ sind das Thema in Ulrike Jureits Aufsatz „’Höflichkeit ist erfolgreicher als Gewalt!’ Vom geregelten Miteinander im frühen Nachkriegsdeutschland“. Ausgangspunkt ist die Anstandsfibel „Man benimmt sich wieder“ Hans-Otto Meißners, Sohn des ewigen Staatssekretärs Otto Meißner. Die Fibel wird nicht nur als Teil einer roll-back-Anstrengung gegen die im „Totalen Krieg“ vollzogene unfreiwillige Frauenemanzipation gedeutet; ausgehend von ihr wird zudem die Kultur der Nachkriegszeit einschließlich der Verarbeitungs- und Rezeptionsgeschichte des Nationalsozialismus rekonstruiert. Populären Gesellschaftsmodellen der frühen Nachkriegszeit nimmt sich auch Axel Schildt in seinem Beitrag über „’Massengesellschaft’ und ‚Nivellierte Mittelschicht’“ an. Er untersucht die strategische Funktion der Nivellierungs-Theorie in den „wirtschaftswunderlichen Jahren“ (S. 201). Im Gegensatz zu einer ganzen Reihe seiner Mitautoren nimmt Schildt die Topoi von Masse, Massengesellschaft und modernem Massenmenschen probeweise ernst (S. 203, S. 205).

Zu den sechs Beiträgen des dritten Teils („Lebens-Geschichte – Lebensgeschichten“) seien Einzelbeobachtungen gestattet. Laut Cord Eberspächer und Gerhard Wiechmann stellt so gut wie kein deutscher Historiker den kaiserlichen Seeoffizieren ein gutes Zeugnis aus. Diese Auffassung wird für revisionsbedürftig gehalten und der internationale Vergleich gefordert, um endlich „ein ausgewogenes Urteil zu ermöglichen“ (S. 252). Eine ähnliche Differenzierungsanstrengung gegenüber den in diesem Band nicht seltenen Zerrbildern historischer Eliten enthält Hartwig Steins Beitrag über den „Bilse-Skandal“ von 1903. Stein argumentiert gegen ein vereinfachtes Bild des preußischen Leutnants im späten Kaiserreich. Die Beiträge von Dirk Stegmann und Volker Ullrich wenden sich wieder der Sozialdemokratie zu. In seiner etwas bemühten Auseinandersetzung mit Heinrich August Winkler beklagt Stegmann, dass Winkler den preußischen Landwirtschaftsstaatssekretär Hans Krüger (1884-1945) nicht erwähne (S. 279f.). Gegenüber dem Verfolgungsschicksal anderer Sozialdemokraten klingt es wie Hohn, wenn Stegmann schreibt: „Der 30. Januar 1933 traf auch Hans Krüger schwer; er musste seine Dienstvilla in Dahlem verlassen und sich auch persönlich einschränken.“ (S. 291) Ein größerer Unterschied als derjenige zwischen Krüger und dem aus der Sozialdemokratie hervorgegangenen Terroristen Karl Plättner, dessen wirres Kohlhaas-Leben Ullrich schildert, ist kaum denkbar – wenn man auch fragen könnte, ob hier moderne Sozialgeschichtsschreibung zuständig sei oder vielleicht eine andere Wissenschaft. Der Geschichte des Terrorismus wendet sich ebenfalls Johanna Meyer-Lenz zu, deren Beitrag im Kontext der gegenwärtigen Debatten um die RAF zu lesen ist. Wenn Ulrike Meinhof und einige ihrer Genossen bei arabischen Kämpfern in die Lehre gingen, die davon träumten, möglichst viele Juden zu ermorden (S. 325), dann sollte eine deutsche Zeithistorikerin dies allerdings anders pointieren denn als politische Diskursformation.

Im vierten Teil des Bandes dringt Patrick Wagner („Die Puttkamer’sche Säuberung auf dem Lande. Der administrative Feldzug gegen den ostpreußischen Gutsbesitzerliberalismus nach 1880“) in die „terra incognita“ (S. 339) einer Gruppe vor, die für all jene erstaunlich ist, deren Begriff vom Gutsbesitz stets mit „Krautjunkertum“ verbunden ist. Klaus Weinhauer befasst sich in „Die Lasten der Vergangenheit. Schutzpolizei in der Bundesrepublik zwischen NS-Vergangenheit und Weimarer Tradition“ mit den Diskussionen über die NS-Vergangenheit innerhalb der Polizei. Die – zumindest mentale – Denazifierung sei nicht Ergebnis von Kommunikation, sondern eine Folge technisch-organisatorischer Modernisierung gewesen, besonders der Entstehung moderner Großwachen, wo die kleinteiligen Netzwerke „alter Kameraden“ nicht weiter bestehen konnten.

Es versteht sich von selbst, dass Beiträge in einer Festschrift von unterschiedlicher Qualität sind: hier bereits Publiziertes, dort Neues auf Basis von Archivrecherchen; hier die am „Untertan“ geschulte Sicht des 19. Jahrhunderts, dort der hoch differenzierte Blick auf preußische Offiziere oder ostpreußische Gutsherren; hier der „klotzmaterialistische“ Umgang (wie Ernst Bloch gesagt hätte) mit dem nationalen Gedanken oder mit Oswald Spengler, dort das Ernstnehmen zivilisationskritischer Topoi. In den Beiträgen über die Alt-Oldenburger, die Familie Perthes im Krieg oder Effi Briest könnten Kernsätze ausgetauscht werden, ohne dass der Leser es merkte – eine unverhoffte Pointe der aktuellen Modul-Euphorie.

Das erste Medium der Geschichtswissenschaft ist die Sprache. Unangenehm ist der oberlehrerhaft-penetrante Correctness-Jargon: „StudentInnen, DoktorandInnen, HabilitandInnen“ (S. 8, S. 20), „der Absender oder die Absenderin“ (S. 78), „den angehörigen Briefpartner, der oder die […] informiert“ (ebd.), „HörerInnen“ von Radiosendungen (S. 323). Würde sich solche Sprachsensibilität doch auf anderen Feldern bemerkbar machen! Leider findet sich aber ein unbekümmerter Gebrauch der Händlersprache (Sozialgeschichte als „intensiv nachgefragtes Gebiet“ der Lehre, S. 17), Schnodderdeutsch („Fontane brauchte einen spannenden Aufhänger für sein Werk“, S. 103) oder ein so ohrfeigenmäßiges Satz-Ungeheuer wie dieses: „[...] Machteliten – ein Begriff, der jedoch in der für die 1950er bzw. frühen 1960er Jahre zeittypischen Dichotomie zur Massengesellschaft verhaftet geblieben und schwer aus ihr herauszulösen ist –, Leistungseliten oder auch – im Hinblick auf das hier zu verhandelnde Thema von besonderer Bedeutung – Weltanschauungs-, bzw. allgemeiner gesprochen: Deutungs- oder Reflexionseliten [...].“ (S. 49f.) Eine differenzierte Elitenforschung bleibt zweifellos notwendig, doch sie könnte und müsste überzeugender umgesetzt werden als in dieser Festschrift.

Anmerkung:
1 vom Bruch, Rüdiger; Kaderas, Brigitte (Hgg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahme zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002; Herbert, Ulrich, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 7-49.

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