Villigster Forschungsforum (Hg.): Unbehagen in der ‚dritten Generation'

Cover
Titel
Das Unbehagen in der 'dritten Generation'. Reflexionen des Holocaust, Antisemitismus und Nationalsozialismus


Herausgeber
Villigster Foschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus
Reihe
Villigst Profile 3
Erschienen
Münster 2003: LIT Verlag
Anzahl Seiten
XIX, 129 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Waltraud Sennebogen, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust ist durch das allmähliche Sterben der Zeitzeugen einem Transformationsprozess von der unmittelbaren hin zur vermittelten Erinnerung unterworfen. Die Enkel der ehemaligen Täter und Opfer sind die letzten, denen noch ein direkter Kontakt zu „Mitlebenden“ 1 des „Dritten Reiches“ möglich ist.2 In Forschung und Öffentlichkeit rückte diese „dritte Generation“ in den letzten Jahren stärker in den Blickpunkt.3 Immer häufiger meldet sie sich auch selbst zu Wort, wie es die Mitglieder des „Villigster Forschungsforums zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus“ mit dem vorliegenden Sammelband tun.4

Dabei verwahren sich die BeiträgerInnen bereits in ihren einleitenden Bemerkungen gegen eine unreflektierte Übernahme des Begriffs „dritte Generation“. Sie verweisen darauf, dass es sich ursprünglich um eine „Selbstbezeichnung jüdischer Generationenfolge“ handelt, die unter den Überlebenden der Shoah die „erste“, unter deren Kindern die „zweite“ und unter deren Enkeln die „dritte Generation“ versteht (S. X). Daher setzen die AutorInnen den Begriff in Anführungszeichen und grenzen sich von jener Selbstverständlichkeit ab, mit der etwa Jens Fabian Pyper, der Herausgeber des Buches „Uns hat keiner gefragt“, ihn gebraucht.5 Alle Beiträge stammen von zwischen 1965 und 1977 geborenen Mitgliedern des Villigster Forschungsforums; das Spektrum reicht über Geschichte, Jura, Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie bis zu Psychologie und Soziologie.

Hans-Joachim Hahns „Von den Nachgeborenen. Zur aktuellen Rede von der ‚dritten Generation’ und deren Konstruktion im literarischen Diskurs um das Gedenken an Auschwitz“ eröffnet den Band (S. 1-16). Nach einer einführenden Problematisierung des Generationsphänomens analysiert Hahn die Werke zweier junger deutscher Autoren im Hinblick auf ihre Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Er wählt Florian Illies Bücher „Generation Golf“ und „Anleitung zum Unschuldigsein“ sowie David Wagners Veröffentlichungen „Geschichte einer Bürste“ und „Schöne deutsche Schuldgefühle“. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, dass bei beiden Autoren „die Hypothek von Nationalsozialismus und Holocaust [...] fast ausschließlich als Grund für die kuriose Ausprägung von falschen Schuldgefühlen interpretiert wird“ (S. 15).

Danach stellt Kathrin Meyer „Die Sekretärin des ‚bloody butcher of Poland’“ vor (S. 17-29): Am Beispiel Helene Kraffczyks, der Privatsekretärin von Hans Frank, thematisiert sie die „typisch weibliche Entlastungsstrategie“ des Rückzugs auf die „menschliche Ebene“ (S. 22). Kraffczyk betonte ihre Unwissenheit und entzog sich jeglicher politischer Verantwortung, so dass sich viele Ermittler und auch die Nachwelt von dieser vorgetäuschten Naivität beeindrucken ließen: „Die Sekretärinnen hatten dem nationalsozialistischen System [...] freiwillig gedient und wurden trotzdem nicht als das gesehen, was sie waren: Profiteurinnen und Unterstützerinnen des Nationalsozialismus.“ (S. 29)

Anschließend reflektiert Heidi Salaverría explizit über die „Dritte Generation? Das Dilemma des Wir“ (S. 30-43). Sie setzt sich dabei auch mit den in Pypers Sammelband vertretenen Positionen auseinander (S. 35ff.). Salaverría widersetzt sich „einer Universalisierung, welche die perspektivische Begrenztheit der Wir-Position auf Kosten Anderer unterschlägt [..]“ und fordert, dass „die Begrenztheit der eigenen Stellung greifbar und damit angreifbar sein“ muss (S. 43).

Es folgt Mathias Lehmanns „Musik über den Holocaust. Zu einem Seitenthema der deutschen Musikgeschichte nach 1945“ (S. 44-56). Lehmann unterscheidet die „explizite“ und die „implizite“ Thematisierung des Holocaust. Während der explizite Typus stark dokumentarischen Charakter hat und einen nahezu wissenschaftlichen Authentizitätsanspruch verfolgt, prägt die „Entkonkretisierung des Geschehens“ den impliziten Typus (S. 45). In den letzten Jahren hat der explizite Typus an Bedeutung verloren (S. 56).

In „Fluchtpunkt Auschwitz. Strategien der Aneignung des Holocaust“ (S. 57-66) skizziert Ole Frahm die Veränderung des bundesdeutschen Holocaust-Diskurses. Er zeichnet sie am Beispiel Martin Walsers und Aleida Assmanns nach. Seine Reflexionen münden in den etwas überzogenen Vorwurf, die „Gestalt deutscher Identität“ setze sich heute „offenbar in eine historische Distanz, die schamlos ist“ (S. 66).

Nicht der Distanz, sondern der historischen Kontinuität geht Michael Wagner-Kern in „Kontinuität und NS-Recht“ nach (S. 67-82). Er untersucht darin allerdings weniger konkrete Einzelbeispiele für das Fortbestehen nationalsozialistischen Rechtes in der Bundesrepublik, die sich dem „Grundsatz der Rechtsfortgeltung“ verpflichtet hatte (Art. 123, Abs. 1 GG). Vielmehr entwickelt Wagner-Kern die Kennzeichen der Teildisziplin „Kritisch-Juristische Zeitgeschichte“, die er am Ende in neun Thesen zusammenfasst (S. 81f.).

Wenig pointiert erscheint im Gegensatz zu Wagner-Kerns präzisen Ausführungen der folgende Beitrag. In „’Menschen sind kein Säuberungspotential’?“ deutet Astrid Kirchhof eine - keineswegs gerechtfertigte - Parallelisierung nationalsozialistischer und bundesrepublikanischer Gegebenheiten am Beispiel der Bahnhofsmission an (S. 83-93). Dies lässt schon der ermüdend lange Untertitel „Zur Positionierung der Bahnhofsmission gegenüber nationalsozialistischen Verfolgungsstrategien, bundesrepublikanischer Fürsorgepolitik und aktuellen Ausgrenzungsversuchen“ vermuten. Kirchhof bietet lediglich einen historischen Abriss mit fragwürdigen Aktualisierungsversuchen.

Zurück ins thematische Zentrum führt Frank Michael Schusters „Das Reden über Juden. Sekundärer Antisemitismus in aktuellen Feuilletondebatten“ (S. 94-108). Insbesondere anhand des Streits um Martin Walsers 2002 erschienenen Roman „Tod eines Kritikers“ 6 macht sich Schuster auf die Suche nach einem „Antisemitismus ohne Antisemiten“ (S. 98ff.). Instruktiv ist, dass Schuster diese Diskussion in Bezug zu Reaktionen aus der „dritten Generation“ setzt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das „Bild der Nazis von ‚den Juden’ [...] in vielen Köpfen nicht ersetzt sondern weitergegeben worden“ ist denn das „Bild des Juden“ sei auch heute noch „von antisemitischen Klischees geprägt“ (S. 108).

In „Deutschtum im Heute nach Auschwitz“ bezieht sich Michael G. von Dufving auf den jüdischen Philosophen Leonhard H. Ehrlich. (S. 109-119). Geschickt, provokant und sprachlich überzeugend lotet er die Möglichkeiten und Grenzen des Deutsch- und/oder Jüdischseins aus und überwindet dabei manches festgefahrene Denkschema. Er fragt nicht nur nach dem „Deutsch-Sein im Heute nach Auschwitz“, sondern auch nach den „Juden als Juden“ und zieht eine überraschende, parallelisierende Schlussfolgerung: „Leonhard Ehrlich, ‚der Jude’, wählt die Deutschen aus: die Deutschen ‚in dem Heute nach Auschwitz’. Nach Auschwitz sind auch sie nicht mehr zu Hause, am wenigsten bei sich.“ (S. 119)

Den Sammelband rundet ein Erfahrungsbericht von Claudia Appelius und Birgit Schreiber ab: „Ein Stammtisch in New York: Dialog der Generationen und Brücke zur alten Heimat“ (S. 120-126). Hier, wo junge Deutsche mit ehemaligen, jüdischen Flüchtlingen aus NS-Deutschland zusammentreffen, sind Begegnungen möglich, die es in Deutschland so nicht geben könnte: „Anders als in Deutschland können [...] die jungen Deutschen der Kinder- und Enkelgeneration mit den einstigen Opfern der Nazis in entspannter Atmosphäre zusammenkommen.“ (S. 124)

Die Beiträge des Sammelbandes sind sehr heterogen doch sind sie - abgesehen von der bereits angesprochenen Ausnahme - auch als Gesamtleistung gelungen. Die verschiedenen Aufsätze zeigen die vielfältigen Möglichkeiten, sich heute mit dem Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Theoretische Reflexionen (Salaverría, Frahm, Schuster, von Dufving) und praxisorientierte Forschungsansätze (Hahn, Meyer, Lehmann, Wagner-Kern) wechseln einander ab. Wohltuend ist der Mut der AutorInnen, sich kritisch zu positionieren, konsequent einen eigenen Standpunkt zu beziehen und mitunter auch gegen den scheinbar breiten öffentlichen Konsens anzuschreiben.

Anmerkungen:
1 Die Bezeichnung „Mitlebende“ geht auf die bekannte Definition der Zeitgeschichte von Hans Rothfels (1953) zurück.
2 Vgl. etwa die Dokumentation der Beiträge und Workshops des „Nürnberger Erinnerungsparlaments“ 2002 im Internet unter: <http://www.erinnerungsparlament.de/ep2002/index.html> [Zugriff am 11. März 2005].
3 Vgl. Jensen, Olaf, Geschichte machen. Strukturmerkmale des intergenerationellen Sprechens über die NS-Vergangenheit in deutschen Familien, Tübingen 2004 (rezensiert von Nina Leonhard: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-164>) sowie Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline (Hgg.), Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002 (rezensiert von Isabel Heinemann: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-127> [Zugriffe jeweils am 11. März 2005]).
4 Das Forschungsforum existiert seit September 2000. Vgl. <http://www.evstudienwerk.de/index.php?action=portrait&sub=forschungsforumorum> [Zugriff am 11. März 2005].
5 Pyper, Jens Fabian (Hg.), „Uns hat keiner gefragt.“ Positionen der dritten Generation zur Bedeutung des Holocaust, Berlin 2002 (rezensiert von Miriam Rürup: Die Generation der Unbefangenheit? In: <http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Ruerup3825702472_661.html> [Zugriff am 11. März 2005]).
6 Walser, Martin, Tod eines Kritikers, Frankfurt am Main 2002. Vgl. Körte, Mona, Erlkönigs Kinder. Überlegungen zu Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 11 (2002), S. 295-310.

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