A. Schirrmeister: Triumph des Dichters

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Titel
Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert


Autor(en)
Schirrmeister, Albert
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Caspar Hirschi, Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit, Universität Freiburg/Schweiz

Will man die europäische Humanismusforschung der letzten Jahrzehnte auf den Punkt bringen, bietet sich folgende Formel an: Blüte der Philologie und der Biografie, Dürre der sozialgeschichtlichen Theorie. Diese Entwicklung ist eine der langfristigen Folgen der Burckhardt-Rezeption. Die Attraktivität von Burckhardts Renaissancetheorie beruhte wesentlich auf einem prägnanten Elitenmodell, mit dem er eine eigentliche „Archäologie“ der Moderne entwarf. Zugleich boten der hohe Erkenntnisanspruch und einige blinde Flecken der Theorie aber offene Flanken für Kritik. Dabei war es für den Fortgang der Humanismusforschung entscheidend, dass Burckhardt am überzeugendsten von Seiten der Philologie widerlegt wurde. Namentlich Paul Oskar Kristeller und seine Schüler deckten auf der Basis einer breiten Quellenkenntnis die Unzulänglichkeiten von Burckhardts „modernistischem“ Verständnis des Humanismus auf. An die Stelle von Burckhardts grandiosem Epochengemälde setzten sie allerdings nur eine Reihe kleinformatiger Bilder. 1 Nahm die philologische Forschung auf diese Weise einen nachhaltigen Aufschwung, so blieben sozialgeschichtliche Theorien, wie jene Hans Barons und Alfred von Martins, dem Burckhardtschen Topos von der Geburt des modernen Intellektuellen in der Renaissance verhaftet – mit dem Resultat, dass die Welt der Humanisten zur Projektionsfläche der Welt ihrer Erforscher wurde. Vor diesem Hintergrund sieht sich die Humanismusforschung heute vor die Herausforderung gestellt, neue sozialgeschichtliche Theorien aufzustellen, die unter Einbeziehung der philologischen Forschung eigene Erklärungsansätze zu Nährböden und Funktionen des Humanismus liefern.

Zu dieser Aufgabe leistet Alfred Schirrmeister mit seiner Studie über gekrönte Dichter im Römisch-deutschen Reich von Friedrich III. bis Karl V. einen bedeutenden Beitrag. Er integriert einen Quellenkorpus aus literarischen, bildlichen, urkundlichen und brieflichen Dokumenten in ein theoretisches Modell, das die Sozialisierung und das Selbstverständnis der Humanisten differenzierter beschreibt als herkömmliche Modelle. Die Studie beruht dabei auf der These, dass die sozialen Praktiken der poetae laureati den wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des humanistischen Habitus und damit zur „Identität der Humanisten“ darstellen (S. 9). Im Zentrum der Betrachtung steht der „weitere Hof“ der habsburgischen Kaiser, die die Poetenkrönungen vornahmen. Von besonderem Interesse sind hier die herrschaftsnahen gelehrten Funktionseliten, die bei vielen Krönungen eine Vermittlerrolle übernahmen und die Bedeutung und den Rang des Dichterlorbeers mitdefinierten.

Schirrmeister beschreibt die intellektuelle Sozialisierung deutscher Humanisten hauptsächlich mit Kategorien, die Pierre Bourdieu auf die Konstruktion des „literarischen Feldes“ im 19. Jahrhundert bezogen hat. 2 Ihre Übertragung auf das 16. Jahrhundert biete sich an, weil in der sozialen Praxis der gekrönten Dichter Tendenzen einer Autonomisierung des literarischen Feldes festzustellen seien. So habe das aus dem „Feld der Macht“ erhaltene kulturelle Kapital der Dichterkrönung dazu gedient, Konkurrenten im literarischen Feld auszustechen. Vor allem habe sich unter den Humanisten eine eigentümliche Praxis der „Kapital“-Investition und -akkumulation herausgebildet, die im Feld der Macht nicht funktionierte: Edition und Imitation von Klassikern, Suche nach unbekannten Handschriften der Nationalgeschichte, halböffentliche Korrespondenzen mit ruhmvollen Literaten wie Erasmus oder Reuchlin. An einer Fülle von Einzelbeispielen beschreibt Schirrmeister die Konkurrenzmechanismen im literarischen Feld.

Die anschließende Analyse des Spannungs- und Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Herrschaftsträgern und Humanisten führt zum Ergebnis, dass die Autonomisierung des literarischen Feldes nicht nur von König und Fürsten, sondern auch von Literaten gebremst wurde. Humanisten integrierten ihre auf dem Feld der Macht agierenden Patrone wiederholt ins literarische Feld, sei es in Buchwidmungen, Korrespondenzen oder durch Formen gelehrter Geselligkeit. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert gab es für Gelehrte ohne geerbtes Vermögen kaum Existenzmöglichkeiten außerhalb klientelärer Netzwerke nicht-literarischer Art. Gerade in der Dichterkrönung manifestiert sich der Spagat zwischen literarischem Unabhängigkeitswillen einerseits und Geltungsbedürfnis bei den Machteliten andererseits: In der Nachfolge von Konrad Celtis verpflichtete sich der poeta laureatus, das Lob des Kaisers zu singen, um im Gegenzug monarchische Protektion zu erhalten. Das eröffnete ihm die Chance, im offiziellen Gewand des Panegyrikers den Herrschern Lektionen zu halten, also im Feld der Macht zu intervenieren, und gleichzeitig im literarischen Feld als „Dichterkaiser“ aufzutreten. In der Realisierung dieser Doppelrolle als relativ dominante Akteure im Literaturbetrieb und als Ratgeber auf der Herrschaftsbühne verankert Schirrmeister den „Triumph des Dichters und mit ihm die Geburt des neuzeitlichen Intellektuellen“ (S. 272). Allerdings barg diese Doppelrolle auch die Gefahr, den Gewinn in einem Feld als Verlust im anderen abbuchen zu müssen, wenn die jeweiligen Regeln der Kapital-Akkumulation nicht zusammenpassten. Diese Gefahr bestand von Beginn an, da an Universitäten der Wert des Dichterlorbeers im Vergleich zu hergebrachten Bildungstiteln umstritten war, zumal dann, wenn er hofnahem Personal ohne entsprechende literarische Leistungen verliehen wurde.

Schirrmeister kommt das Verdienst zu, die etablierten Schranken der Humanismusforschung durchbrochen und die von der Kristeller-Schule verworfene Frage nach der Modernität des Humanismus neu gestellt zu haben. Damit entgeht er dem Dilemma der philologischen Forschung, die Modernität des Humanismus zwar explizit zu verneinen, sie aber aufgrund ihres literaturimmanenten Ansatzes implizit zu bejahen. Indem er konsequent nach den sozialen Bedingungen und habituellen Praktiken fragt, die humanistische Literaturproduktion möglich machten, gräbt er eine Schicht tiefer als seine Vorgänger. Zu den Ergebnissen gehört der überzeugende Beweis, dass der Topos vom Humanisten als apolitischem Büchernarr, der nur an Seinesgleichen interessiert war, nicht haltbar ist. Schirrmeister stellt die gekrönten Dichter zu Recht als politisierte Intellektuelle dar, die den vormodernen Spielraum für „Gelehrtenpolitik“ ausloteten.

Mit ihrem umfassenden Erklärungsanspruch bietet die Studie auch Stoff für Kritik und Diskussionen, die neue Dynamik in die Humanismusforschung bringen könnten. Folgende Streitfragen können aufgeworfen werden: Ist die Behauptung haltbar, dass die poetae laureati der humanistischen „Identität“ Gestalt geben und im Zentrum der Bewegung stehen, angesichts des Befunds, dass viele von ihnen gar keine oder nur wenige Schriften hinterlassen und damit eher zu den ‚Minores‘ der humanistischen Literaten gehören? Kann ein signifikanter Einfluss der gekrönten Dichter im Feld der Macht angenommen werden, wenn sie ihre Reden oft nicht einmal halten durften und nur in schriftlicher Form einem Publikum übergaben, das mit ihrem gestelzten Latein kaum vertraut war? Besaßen die Praktiken der gekrönten Dichter eine konkrete Nachwirkung in der Neuzeit, oder sind sie nur in typologischer Hinsicht für die Konstruktion des modernen Intellektuellen von Relevanz? Schließlich: Ist bei einer Übertragung von Bourdieus Konzept des literarischen Feldes auf den Humanismus der Erkenntnisgewinn höher als das Risiko anachronistischer Missverständnisse?

Zur letzten Frage abschließend ein paar Überlegungen. Für Bourdieu setzte die Autonomisierung des literarischen Feldes erst ein, nachdem das Mäzenatentum des Ancien Régime verdrängt worden war. Er verstand den Mäzen als Komplizen des Künstlers, der die Anerkennung der Werke in elitären Kreisen sicherstellte, von ihrem kulturellen Kapital profitierte und damit gleichzeitig die Heteronomie der Kunst zementierte, ohne diese zu überspannen. Denn gerade die berühmtesten Künstler gingen an der langen Leine und brauchten keinen Anspruch auf ein Feld mit eigenen Regeln zu stellen. Letzteres konstituierte sich erst unter Napoleon III., und zwar gegen ein Machtfeld, das von Parvenüs mit ostentativer Kunstverachtung dominiert wurde. Die literarische Avantgarde gestaltete ihre Domäne als verkehrte ökonomische Welt: „Auf symbolischem Terrain vermag der Künstler nur zu gewinnen, wenn er auf wirtschaftlichem Terrain verliert (zumindest kurzfristig), und umgekehrt (zumindest langfristig).“ 3 Solche Gesetzmäßigkeiten lassen sich in den von Schirrmeister angeführten Quellen kaum nachweisen. Bourdieus Kategorien verdecken hier vielmehr die Kluft zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert, auch weil Schirrmeister weder Vergleiche zur Epoche Flauberts und Baudelaires zieht noch Bourdieus (eindimensionale) Vorstellung vom Ancien Régime problematisiert. Um von einem literarischen Feld im Humanismus zu sprechen, das sich bereits gegenüber dem Feld der Macht autonomisiert, muss Schirrmeister sein Belegmaterial teilweise überstrapazieren, wie bei der Einordnung der Sodalitäten als „unabhängig intendierte Gemeinschaften von Gelehrten und Dichtern […], die sich gegenseitig ihrer Zugehörigkeit und ihres Ranges innerhalb des intellektuellen Feldes versichern“ (S. 133). Dass Celtis einem seiner wichtigsten Patrone, dem mächtigen Bischof von Worms, der zwar gelehrt, literarisch aber inaktiv war, den Vorsitz in der Sodalitas Rhenana antrug und sogar Kaiser Maximilian in seine virtuelle nationale Sodalitas aufnimmt, passt schlecht in dieses Bild.

Ins Allgemeine gewendet, zeigt Schirrmeisters Buch erneut, dass die Humanisten, diese janusköpfigen Schwellengestalten, weder allein von der Moderne, noch allein vom Mittelalter her zu begreifen sind. Sein theoretischer Ansatz eröffnet aber Perspektiven, die für die Humanismusforschung inner- und außerhalb Deutschlands eine Herausforderung darstellen. Man sollte sich von der oftmals mäandrierenden Argumentation und der z.T. umständlichen Sprache nicht abhalten lassen, diese anzunehmen.

Anmerkungen:
1 Kristeller, Paul Oskar, Humanismus und Renaissance, 2 Bde, München 1974/76; Black, Robert, Humanism, in: The New Cambridge Medieval History, Bd. 7, Cambridge 1998, S. 243-277.
2 Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 1999.
3 Ebd. S. 136.

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