K. Marxen u.a. (Hgg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht

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Titel
Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation. Bd. 4/1: Spionage


Herausgeber
Marxen, Klaus; Werle, Gerhard
Erschienen
Berlin 2004: de Gruyter
Anzahl Seiten
LVI, 617 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Raschka, Berlin

Die bundesdeutsche Justiz, die nach der Wiedervereinigung in erheblichem Umfang Ermittlungen gegen Verantwortliche der DDR aufnahm, sah sich angesichts der Ergebnisse ihrer Arbeit auf der einen Seite dem Vorwurf ausgesetzt, zu milde mit den Tätern der SED-Diktatur verfahren zu sein. Dagegen wurde ihr von anderer Seite vorgehalten, nichts anderes als Siegerjustiz betrieben zu haben. Diese Unterstellung mag besonders nahe liegen angesichts der Spionage-Verfahren gegen frühere DDR-Bürger vor bundesdeutschen Gerichten, nahmen die Angeklagten doch für sich in Anspruch, in den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges nur ihrem Staat gedient zu haben.

Diesen Prozessen sowie ausgewählten Verfahren gegen Bundesbürger, die für die DDR spioniert hatten, widmet sich der vierte Band der von Klaus Marxen und Gerhard Werle herausgegebenen Dokumentation zu Strafjustiz und DDR-Unrecht.1 Im Vordergrund stehen Verfahren gegen führende Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der DDR-Staatssicherheit, darunter mit Markus Wolf und Werner Großmann gegen die Leiter der HVA. Außerdem führt der Band Prozesse gegen Angehörige anderer nachrichtendienstlicher Einheiten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowie ein Strafverfahren gegen einen Offizier des Bereichs Aufklärung der Nationalen Volksarmee (NVA) auf. Den Abschluss bilden die Fälle der nach der Wiedervereinigung enttarnten West-Spione Rainer Rupp, der unter dem Decknamen „Topas“ geheime Nato-Dokumente an die DDR verriet, sowie Gabriele Gast, die als „Maulwurf“ für die HVA beim Bundesnachrichtendienst spionierte.

Ergänzt werden die Dokumente durch eine Auswahlbibliografie, eine Verfahrensübersicht und mehrere Register. Eine ausführliche Einleitung stellt die Grundsätze der Dokumentation vor und bietet einen Überblick über die Geschichte der Strafverfolgung von DDR-Bürgern nach 1990 wegen Spionage. Es ist durchaus berechtigt, von einem abgeschlossenen Kapitel bundesdeutscher Rechtsgeschichte zu sprechen, da Mitte 1997 annähernd 98 Prozent der ursprünglich angestrengten Ermittlungsverfahren erledigt waren, davon 93,5 Prozent durch Einstellung.

Mit elf dokumentierten Verfahren, davon neun gegen ehemalige DDR-Bürger, deckt die Edition einen signifikanten Prozentsatz der insgesamt zur Anklage gebrachten Spionage-Fälle ab: Nach der Wiedervereinigung hatte die Generalbundesanwaltschaft Ermittlungen gegen 4.171 frühere DDR-Bürger wegen Spionage eingeleitet (sowie gegen 2.928 Westdeutsche). Gegen 14 von ihnen erhob der Generalbundesanwalt schließlich Anklage; 64 weitere wurden nach Abgabe der Ermittlungsverfahren an die Staatsanwaltschaften der Länder von diesen angeklagt.

Die rechtlichen Grundlagen von Verurteilungen ehemaliger DDR-Bürger wegen Spionage gegen die Bundesrepublik waren zunächst auch in der gerichtlichen Praxis umstritten. Der Bundesgerichtshof (BGH) und die Mehrheit der Oberlandesgerichte bejahten die Strafbarkeit von DDR-Bürgern wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit: Mitarbeiter des MfS oder der NVA, die von der DDR geheimdienstliche Handlungen gegen die Bundesrepublik steuerten, müssten sich durch die Tätigkeit ihrer Agenten im Westen als Mittäter oder Teilnehmer zurechnen lassen; im Übrigen sei über § 5 Nr. 4 Strafgesetzbuch das Recht der Bundesrepublik anwendbar, da nach dieser Vorschrift das bundesdeutsche Strafrecht in bestimmten Fällen unabhängig vom Recht des Tatorts gilt, so bei Landesverrat. Dagegen machten einige Oberlandesgerichte verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Aburteilung von früheren DDR-Bürgern unter dem Vorwurf der Spionage gegen die Bundesrepublik geltend.

Allerdings war die Bundesanwaltschaft früh zu der Einschätzung gelangt, dass die DDR-Auslandsaufklärung untrennbar mit den anderen Aktivitäten der Staatssicherheit – insbesondere politischen Verfolgungsmaßnahmen in der DDR – verknüpft und somit „vom typischen Systemunrecht geprägt“ (S. LIII) gewesen sei.

Das Bundesverfassungsgericht zog der Strafverfolgung wegen Spionage schließlich mit einer Entscheidung vom 15. Mai 1995 enge Grenzen. Dabei entwickelte das oberste deutsche Gericht eine juristische Argumentationsfigur, die dem rechtswissenschaftlichen Laien nur mit einiger Mühe verständlich wird: Zwar sei das Bundesverfassungsgericht über weite Strecken der Rechtsprechung des BGH gefolgt, wie in der Einleitung der Dokumentation dargelegt wird, die Ausweitung der bundesdeutschen Jurisdiktion nach der Wiedervereinigung, so die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts, sei jedoch am Rechtsstaatsprinzip zu messen. Der dort verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werde verletzt, wenn der Strafanspruch in der einzigartigen Situation der Wiedervereinigung gegen solche DDR-Bürger durchgesetzt werde, die allein von der DDR oder von solchen Staaten aus gehandelt hätten, in denen sie vor Auslieferung oder Bestrafung sicher gewesen seien. Insofern bestehe für diese Personen ein unmittelbar verfassungsrechtlich begründetes Verfolgungshindernis.

In der Folge dieses Urteils kam es nur noch zu wenigen rechtskräftigen Urteilen wegen Spionage. Gegen Markus Wolf etwa, der 1993 zunächst in der Hauptsache wegen Landesverrat verurteilt worden war, verhängte das zuständige Oberlandesgericht Düsseldorf 1997 nach Zurückverweisung des Falles schließlich eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Nötigung und Körperverletzung.

Der Quellenwert der vorgelegten Dokumentation, der für andere Bände der Reihe bezweifelt worden ist2, erscheint durchaus erheblich. Das gilt insbesondere für die so genannten Strukturverfahren, die auf eine möglichst vollständige Erfassung und Darstellung der Organisationszusammenhänge zielten, in denen die Angeklagten agierten, und die somit einen weiten Überblick speziell über die Tätigkeit der HVA geben.

Diesen Dokumenten kommt besonderes Gewicht zu, denn originäres MfS-Material fehlt weitgehend, da der größte Teil der HVA-Akten bekanntlich während der Wende vernichtet worden ist. Ob die „Rosenholz“-Bestände geeignet sind, in erkennbarem Umfang Lücken zu schließen, muss sich noch erweisen. Daher werden zukünftige Darstellungen der Außenaufklärung der DDR die vorgelegte Dokumentation nicht außer Acht lassen können.

Anmerkung:
1 Die Reihe ist im Rahmen von Rezensionen zu vorangegangenen Bänden auf diesen Seiten bereits ausführlich vorgestellt worden: Mouralis, Guillaume, Rezension zu: Marxen, Klaus; Werle, Gerhard (Hgg.), Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Berlin 2002, in: H-Soz-u-Kult, 20.01.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-1-031>; Wentker, Hermann, Rezension zu: Marxen, Klaus; Werle, Gerhard (Hgg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Band 3: Amtsmissbrauch und Korruption, Berlin 2002, in: H-Soz-u-Kult, 14.10.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1688>.
2 Wentker, Rezension zu Band 3 (wie Anm. 1).

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