R. Gabriel u.a. (Hgg.): Lagersystem und Repräsentation

Titel
Lagersystem und Repräsentation. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Konzentrationslager


Herausgeber
Gabriel, Ralph; Mailänder-Koslov, Elissa; Neuhofer, Monika; Rieger, Else
Erschienen
Tübingen 2004: edition diskord
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 14,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexa Stiller, Historisches Seminar, Universität Hannover

Dieser Tagungsband versammelt Projektskizzen und erste Forschungsergebnisse gegenwärtig laufender Forschungsvorhaben zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager und des Umgangs mit Erinnerung und Gedenken.

Der Sammelband geht zurück auf den „Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager“ im November 2003 in Ebensee in Österreich. Die jährlich stattfindende Tagung von und für DoktorandInnen hat sich zur Aufgabe gesetzt, den wissenschaftlichen Austausch, die Diskussion und die Netzwerkbildung von noch nicht etablierten NachwuchswissenschaftlerInnen zu fördern sowie neue wissenschaftliche Projekte in diesem Themenbereich einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.1

Im Titel deutet sich bereits an, dass die HerausgeberInnen (Ralph Gabriel, Elissa Mailänder Koslov, Monika Neuhofer und Else Rieger) den Band in zwei Teile gegliedert haben: Im ersten Teil sind sieben Beiträge aufgenommen, die die Handlungsfelder verschiedener Akteure und Gruppen im KZ analysieren, während der zweite Teil fünf Aufsätze umfasst, bei denen “Repräsentationsformen der Konzentrationslager“ interdisziplinär untersucht werden (S. 9). So finden sich hier neben historischen und politologischen auch ein literaturwissenschaftlicher, ein ethnologischer und ein sozialpsychologischer Ansatz. Erfreulich ist die einheitliche formale Strukturierung der einzelnen Aufsätze durch die HerausgeberInnen, die von den AutorInnen Zwischenüberschriften und ein explizites Schlusswort verlangten. Dadurch ist der Band durchgängig gut lesbar.

Eine Definition des Begriffes “Repräsentation” sucht man jedoch vergeblich. Dies scheint mir aber unerlässlich, handelt es sich doch hier um einen Fachterminus, der bislang primär im amerikanischen Diskurs Verwendung fand, wo er für die Vergegenwärtigung und Darstellung des Holocaust als etwas eigentlich Unvorstellbares und Unbeschreibliches steht. Ob dieses Konzept sinnvoll auf das Lagersystem insgesamt ausgedehnt werden kann, halte ich für erörterungswürdig. Auch wünscht man sich insgesamt eine ausführlichere Einleitung, in der beispielsweise auf die Probleme hingewiesen wird, die grundsätzlich aus interdisziplinären Herangehensweisen erwachsen.

Einen hochinteressanten und produktiven Aspekt des Sammelbandes stellen die methodischen Reflexionen der AutorInnen vor allem im Bereich der Aufbereitung der mündlichen und schriftlichen Zeugenaussagen und Erinnerungsberichte dar. Diesen Punkt will ich im Folgenden exemplarisch an einigen Beiträgen des Bandes verdeutlichen.2

Andreas Kilian untersucht die Handlungsräume und Möglichkeiten zur Selbstbehauptung des Sonderkommandos in Auschwitz. Seine langjährige Auseinandersetzung mit dem Thema und seine Tätigkeit als Interviewer von 18 ehemaligen Sonderkommando-Häftlingen und 190 weiteren Auschwitz-Überlebenden sowie von SS-Männern und anderen Augenzeugen kommen der Darstellung zugute. Er zweifelt zwar nicht am Wahrheitsgehalt der Aussagen der ehemaligen Sonderkommando-Häftlinge, behält aber trotz seiner Nähe zu den Befragten doch die notwendige kritische Distanz, um überformte Erinnerungen und Ungenauigkeiten erkennen zu können. Die in den 1990er-Jahren aufgezeichneten Aussagen der Zeitzeugen ergänzt er mit Tagebuchaufzeichnungen, die von Sonderkommando-Häftlingen während der Lagerzeit angefertigt wurden. Deutlich wird aus diesem Beitrag vor allem auch, dass ohne die Zeugenschaft der Häftlinge eine Untersuchung bestimmter Aspekte der Geschichte einfach nicht möglich wäre. Die Verhältnisse im Sonderkommando enthüllen sich nicht über das Studium nationalsozialistischer Verwaltungsakten. Kilian gelingt damit ein überzeugendes Plädoyer für die Methode der Oral History.

In dem Beitrag „Historische Realität versus subjektive Erinnerungstradierung? Überlegungen anhand von Zeugenaussagen des >Majdanek-Prozesses<“ schildert Thomas Köhler die von ihm gemeinsam mit Dieter Ambach, einem der am damaligen Verfahren beteiligten Staatsanwälte, vorgenommene Editierung eben dieser Aussagen.3 Die Edition umfasst nicht nur Aussagen von überlebenden ehemaligen Häftlingen, sondern auch von Kapos und SS-Männern und fokussiert die Vergasungen und Massenerschießungen (“Aktion Erntefest”) im Bereich des Konzentrationslagers Lublin/Majdanek. Ausführlich diskutiert Köhler die Schwierigkeiten mit den in einem juristischen Kontext generierten Quellen. Trotz des auf den Zweck der Beweisbarkeit von Straftatbeständen reduzierten Blicks, was die Aussagen grundlegend von lebensgeschichtlichen Interviews unterscheidet, sind die Ermittlungs- und Prozessakten Köhler zufolge für die Geschichtswissenschaft durchaus von Nutzen. An einem konkreten Beispiel, der Erhängung eines weiblichen Häftlings in Majdanek, kann er aufzeigen, dass, auch wenn die juristische Ermittlung keinen eindeutigen Beweis aus den Aussagen ziehen konnte und das Verfahren einstellte, die historiografische Analyse dennoch einen Erkenntnisgewinn aus den Prozessakten ziehen kann. Dieser besteht einerseits in der Annäherung an die Praxis der Gewalt im konkreten, andererseits in der Verdeutlichung des unterschiedlichen Erinnerns an die letzten Worte der Hingerichteten, die bei einigen Zeuginnen national-polnisch, bei anderen anti-faschistisch oder bei manchen gar nicht existent waren. Die Tatsache, dass die Zeuginnen in ihren Aussagen unterschiedliche Personen für den Mord verantwortlich machten, wie auch die Ermordete selbst sehr unterschiedlich wahrgenommen und charakterisiert wurde, verdeutlicht exemplarisch die Fallstricke bei der Arbeit mit Zeugenaussagen wie Erinnerungen.

Andreas Mix setzt in seinem Beitrag diese theoretischen und methodischen Zugänge zu den Prozessmaterialien adäquat um. In diesem Aufsatz, der einen Teilbereich seiner Dissertation darstellt, lotet er einen Aspekt des KZ Warschau aus, der allein durch die SS-Akten nicht darstellbar wäre. Um den Schwarzhandel mit übrig gebliebenen Wertgegenständen aus dem Warschauer Ghetto zu rekonstruieren, benutzt er unter anderem Aussagen ehemaliger Häftlinge und polnischer Zivilarbeiter. Er geht der These nach, dass sich in diesem sehr speziellen Konzentrationslager, welches auf dem Boden des geräumten Ghettos zum Zweck der Aufräumarbeiten errichtet wurde, eine besondere Konstellation von Tauschbeziehungen zwischen den zumeist nicht-jüdischen Funktionshäftlingen, den polnischen Zivilarbeitern und den SS-Wachmänner (unter ihnen viele “Volksdeutsche”) herausbildete. Die jüdischen Häftlinge des KZ Warschau, die vor allem aus Ungarn und Griechenland kamen, waren in diese Austauschstrukturen kaum einbezogen, während diejenigen Juden, die die Räumung des Ghettos überlebt hatten und sich immer noch versteckt hielten, im Prinzip allen anderen Gruppen schutzlos ausgeliefert waren. Mix' Beitrag ist ein gutes Beispiel für die gelungene Verknüpfung von Ermittlungs- und Prozessakten und hierunter speziell Aussagen von Zeugen mit der traditionellen Benutzung der behördlichen Archivalien.

Bei den Quellen, die Anette Storeide für ihr Dissertationsprojekt auswertet, handelt es sich um selbst produzierte schriftliche Zeugnisse von norwegischen Sachsenhausen-Häftlingen aus den Jahren 1945 bis 2002. Sie erläutert aus literaturwissenschaftlicher Perspektive sehr anschaulich die verschiedenen Arten von autobiografischen Zeugnissen und die von ihr vorgenommene Auswahl. Storeide stellt klar, das diese Texte genauso quellenkritisch zu lesen seien wie andere Quellen auch, und weist darauf hin, dass die Auslassung eines Erlebnisses in dem autobiografischen Werk nicht zwangsläufig einen psychologischen Grund, sondern auch einen literarischen haben kann. “Die Überlebenden vermitteln also ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse sowie deren Interpretation.” (S. 162) Es geht ihr in ihrer Dissertation aber nicht nur um die “persönlichen” Erinnerungen der ehemaligen norwegischen Sachsenhausen-Häftlinge, sondern auch um die “offizielle” Erinnerung in Norwegen. Diese ziele in erster Linie auf die Hervorhebung der Widerstandshandlung der Norweger gegen die deutschen Besatzer ab, während weder Kollaboration, die Ermordung von osteuropäischen Kriegsgefangenen, die Deportation eines Teils der jüdischen Norweger und jüdischer EmigrantInnen oder eben die Lagerhaft von Norwegern thematisiert werde, so ihr Fazit.

Ein weiterer Beitrag, den ich vorstellen möchte, hat nichts mit mündlichen und schriftlichen Quellen der Zeitzeugen zu tun, sondern mit der Form des Gedenkens, vor allem, aber nicht nur, der ehemaligen Häftlinge. Alexander Prenninger beschäftigt sich vergleichend mit den Kommemorationsriten in KZ-Gedenkstätten in Österreich, West- und Ostdeutschland und Polen. Dazu stützt er sich, was die Analyse der heutigen Befreiungsfeiern angeht, auf die ethnologische Methode der teilnehmenden Beobachtung (S. 188).Seine Fragestellung zielt darauf ab, ob es bei den Gedenkfeiern am Jahrestag der Befreiung des Lagers um die Zelebrierung eines “Gedächtnisortes” oder einer “Gedächtnisgesellschaft” (nach Pierre Nora) gehe. (S. 185).Am Beispiel Mauthausen erläutert er den Ablauf einer Befreiungsfeier und die Ausbildung von Riten. Er stellt erste Thesen zu den Wurzeln dieser Kommemorationsriten auf: Sehr interessant ist seine Feststellung der Ähnlichkeit mit den Riten, die sich in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg ausbildeten und in “Pilgerfahrten” zu den Schlachtfeldern bestanden. Man kann in dieser Hinsicht auf weitere Ergebnisse gespannt sein. Prenninger weist zudem darauf hin, dass die Riten bei den Gedenkfeiern in den Konzentrationslagern eben nicht der viel beschworenen “internationalen Solidarität” entsprechen, sondern vielmehr als “patriotische Erinnerung” (S. 203) zelebriert werden, wobei dieser nationale Gestus Verfolgtengruppen wie die Homosexuellen, Sinti und Roma u.a. ausgrenzt. Für das Beispiel Mauthausen kommt Prenninger zu dem Schluss, dass die Verbände der Überlebenden eine “Gedächtnisgesellschaft” darstellen, die lange Zeit das “Erinnern” kontrolliert haben. Gleichzeitig wurde das ehemalige KZ von der österreichischen Regierung seit Ende der 1940er-Jahre als “Gedächtnisort” gesehen – zu Beginn im Sinne der österreichischen “Opferthese”, was sich mittlerweile aber im Zuge der verstärkten Auseinandersetzung mit der eigenen Täterschaft in Österreich gewandelt hat.

Diese Beispiele sollten hinreichend deutlich machen, auf welch hohem Niveau sich die Beiträge in der Regel bewegen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es erfreulich ist, derart viele anregende und instruktive Aufsätze von jungen WissenschaftlerInnen versammelt zu finden. Es werden neue Forschungsperspektiven eröffnet, weiterführende Fragen gestellt, bestehende Lehrmeinungen überdacht, neue Quellen vorgestellt oder bekannte Quellen neu gelesen. Für alle, die an dem Themenbereich und an den hier diskutierten methodischen Fragen und Zugängen interessiert sind, ist dieser Sammelband ein Muss.

Anmerkungen:
1 Tagungsbände erscheinen regelmäßig seit dem Workshop im Herbst 2000: Vgl. Haustein, Petra; Schmolling, Rolf; Skriebeleit, Jörg (Hgg.), Konzentrationslager – Geschichte und Erinnerung. Neue Studien zum KZ-System und zur Gedenkkultur, Ulm 2001; Moller, Sabine; Rürup, Miriam; Trouvé, Christel (Hgg.), Abgeschlossene Kapitel? Zur Geschichte der Konzentrationslager und der NS-Prozesse, Tübingen 2002; Fritz, Ulrich; Kavcic, Silvija; Warmbold, Nicole (Hgg.), Tatort KZ. Neue Beiträge zur Geschichte der Konzentrationslager, Ulm 2003.
2 Aus diesem Grund können hier folgende – allesamt gute und interessante Aufsätze – nicht weiter berücksichtigt werden: Christoph Kopke “Das KZ als Experimentierfeld: Ernst Günther Schenck und die Plantage in Dachau”, Christine Wolters “>Zur ‘Belohnung’ wurde ich der Malaria-Versuchsstation zugeteilt…< Die Karriere des Dr. Rudolf Brachtel”, Franka Bindernagel und Tobias Bütow “Ingenieure als Täter. Die >Geilenberg-Lager< und die Delegation der Macht”, Klaus-Dieter Mulley “Zum NS-Lagersystem im Reichsgau Niederdonau 1938 bis 1945. Regionalgeschichtliche Annäherungen”, John Cramer „Selbstbehauptung oder Kollaboration? Die >Gerichtskommission< des Konzentrationslagers Bergen-Belsen“, Martina Gugglberger “>…und hat mir eine Nachricht zukommen lassen…< Frauen im Widerstand”, Christian Gudehus “Methodische Überlegungen zu einer Wirkungsforschung in Gedenkstätten”. Verwiesen sei an dieser Stelle auf den Tagungsbericht von Christine Wolters vom 23.10.2003: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=308
3 Ambach, Dieter; Köhler, Thomas (Hgg.), Lublin-Majdanek. Das Konzentrations- und Vernichtungslager im Spiegel von Zeugenaussagen, Düsseldorf 2003.

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