S. Rüther: Prestige und Herrschaft

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Titel
Prestige und Herrschaft. Zur Repräsentation der Lübecker Ratsherren in Mittelalter und früher Neuzeit


Autor(en)
Rüther, Stefanie
Reihe
Norm und Struktur 16
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philip R. Hoffmann, Fachbereich Geschichte, SFB 485 "Norm und Symbol", Universität Konstanz

Wie kam es in zahlreichen mittelalterlichen Städten bald nach ihrer Gründung zur Ausbildung einer bürgerlichen Herrschaftsordnung? Und wie gelang es den sich etablierenden städtischen Führungsschichten, ihrem Herrschaftsanspruch legitime Geltung zu verleihen, obgleich es sich bei den Städten um Gemeinschaften handelte, in denen die Bürger auf der Grundlage von Freiheit und Gleichheit über Eide verbunden waren? Dieses Problem, das die Historiografie zur vormodernen Stadt seit jeher umtreibt, bildet auch den Ausgangspunkt dieser Untersuchung, die im Jahr 2000 an der Universität Münster als Dissertation angenommen wurde. Die Autorin, Stefanie Rüther, geht dieser Frage nach, indem sie die sozialen Praktiken der politischen Führungsschicht Lübecks im religiösen Bereich und insbesondere ihr Stiftungsverhalten untersucht, wie es sich aus den seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in großer Zahl überlieferten Testamenten, der Hauptquelle der Arbeit, ableiten lässt. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich bis weit in die Frühe Neuzeit, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Reformation und die dadurch hervorgerufenen längerfristigen Veränderungen gelegt wird. Rüther beschränkt sich auf den Kreis der Ratsherren als einer in ihren Augen distinkten sozialen Gruppe, die sich durch einen spezifischen Habitus im Sinne Bourdieus auszeichnete. Mit der Analyse ihres Stiftungsverhaltens als Teil dieses Habitus geht es Rüther darum, „spezifische Handlungs- und Deutungsmuster der Ratsherren herauszuarbeiten und diese auf ihre Funktion für Gewinn und Erhalt der Herrschaft in der Stadt“ respektive „für die Legitimation und Repräsentation bürgerlicher Herrschaft“ hin zu befragen“ (S. 7, 10).

Die Untersuchung ordnet sich in den Kontext der „Neuen Politikgeschichte“ ein, die sich durch ihre Konzentration auf die Erforschung performativer, symbolisch-ritueller und diskursiver Praxen auszeichnet und sich mit ihrer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung von traditionellen institutionen- und ideengeschichtlichen Ansätzen abhebt. 1 An Bourdieu anschließend, weist Rüther dem religiösen Feld eine zentrale Bedeutung für Legitimation und Repräsentation vormoderner Herrschaft zu, da dieses aufgrund seiner engen Verflechtung mit dem politischen Raum den bevorzugten Ort bildete, an dem die Mitglieder der politischen Führungsschicht gerade durch religiöse Stiftungen die Übereinstimmung ihrer Herrschaftsausübung mit dem christlichen Wertesystem demonstrieren konnten. Aufgrund der sich damit bietenden Möglichkeiten, ökonomisches in symbolisches Kapital zu transformieren, verfügten sie über eine bedeutsame Ressource, um ihre Herrschaftsstellung zu legitimieren und auf Dauer zu stellen.

Ausgeführt wird dieses Programm in drei Kapiteln. Zunächst wendet Rüther sich in einem längeren Kapitel dem Handlungsfeld der Kirchen zu. Bevor die kirchliche Stiftungspraxis der Ratsherren untersucht wird, wird zunächst auf den Bau und die Verwaltung der Lübecker Kirchen eingegangen und aufgezeigt, wie es Bürgerschaft und Rat im Konflikt mit Bischof und Domkapitel während des 13. und 14. Jahrhunderts gelang, über ehrgeizige Kirchenbauprojekte ihren innerstädtischen Führungsanspruch zu festigen. Im folgenden Kapitel werden die Klöster als zweites wichtiges Handlungsfeld in den Blick genommen. Schließlich wird in einem kürzeren Kapitel anhand ausgewählter Beispiele aufgezeigt, wie einzelne Ratsfamilien versuchten, ihrer sozialen und politischen Stellung über individuelle Formen der Memoria im kirchlichen Raum in repräsentativer Weise Ausdruck zu verleihen. Pointiert zusammengefasst werden die Ergebnisse in einer Schlussbetrachtung.

Einer der zentralen Befunde der Untersuchung ist die ausgeprägte Konstanz im Stiftungsverhalten der bürgerlichen Führungsschicht bis zur Reformation. In der Regel bedachten die Ratsherren alle kirchlichen Einrichtungen der Stadt, auch wenn die Höhe der Zuwendungen variierte. Einzelne Ratsherren bzw. Ratsfamilien waren damit in aller Regel an mehreren, über die ganze Stadt verstreuten Orten mit ihren Stiftungen präsent. Dieses Stiftungsmuster zeigt, dass die städtischen Kirchen und Klöster von den Ratsherren als ein einheitlicher und integrierter sakraler Raum wahrgenommen wurden (es ist von daher auch nicht recht einsichtig, warum Kirchen und Klöster in separaten Kapiteln und nicht im Zusammenhang behandelt werden, zumal dies bei der Darstellung zu Redundanzen führt). Indem es aber auch möglich und üblich war, einzelne kirchliche Einrichtungen besonders zu bedenken, blieben für den einzelnen Ratsherren Spielräume, um „Distinktionszeichen“ zu setzen und seine individuelle Frömmigkeit zu demonstrieren (S. 221).

Durch die Reformation kam es zunächst zu einer Störung des ratsherrlichen Stiftungsverhaltens und längerfristig zu dessen Umgestaltung. Rüther erklärt dies damit, dass sich mit der Reformation Struktur und Spielregeln des religiösen Feldes veränderten, vor allem die Möglichkeiten der Ratsherren, religiöses Kapital zu gewinnen und dieses in symbolisches Kapital zu transformieren, um es so für die Darstellung und Legitimation ihrer Herrschaft zu nutzen. So gingen die Zuwendungen für den Kirchenbau markant zurück, zumal dies nicht mehr als religiöse Pflicht der einzelnen Ratsherren, sondern als Teil der Amtsgeschäfte des Rates und damit als eine allgemeine politische Aufgabe verstanden wurde. Hingegen rückte im 17. Jahrhundert das Repräsentationsbedürfnis der einzelnen Ratsherren und ihrer Familien und die individuelle Memoria in den Vordergrund, insbesondere durch die Aufrichtung von repräsentativen Erinnerungsmälern in den Kirchen. Kirchliche Stiftungen wurden zunehmend an diesen Zweck geknüpft. Jedoch bestanden auch Teile der vorreformatorischen Stiftungspraxis fort. So wurden die ehemaligen Klöster in ihrer neuen Funktion als karitative Einrichtungen von den Ratsherren weiterhin bedacht, da dies als besonders geeignet angesehen wurde, um „ihre Sorge für das Wohl der Stadt“ und „ihr Selbstverständnis als christliche Obrigkeit“ demonstrieren zu können (S. 223).

Rüther gelingt es in überzeugender Weise aufzuzeigen, wie sich das Verhältnis von Frömmigkeitspraxis und politischer Herrschaftsausübung in der vormodernen Stadt gestaltete und welchen Veränderungen es langfristig unterworfen war, welche zentrale Bedeutung den Formen der symbolischen Kommunikation und gerade den religiösen Stiftungen für die Repräsentation und Absicherung innerstädtischer Herrschaftsverhältnisse zukam und welche ambivalenten Auswirkungen die Reformation hierauf hatte. Nun provoziert ihre Untersuchung aber auch Widerspruch und kritische Nachfragen. Auf zwei Aspekte soll hier etwas genauer eingegangen werden. Zum einen postuliert Rüther in Anschluss an Bourdieu, dass die von ihr untersuchten symbolisch-materiellen Formen der Frömmigkeit als Medien anzusehen sind, mittels derer sich die Akteure „analog zu ihrer Stellung im sozialen Raum der Stadt im realen physischen Raum [insbesondere der Kirchen] positionieren. Sie können daher als geeigneter Indikator für die soziale Stellung der einzelnen Ratsherren gelten“ (S. 14; vgl. auch S. 178). Die hier von Rüther postulierte Indikatorfunktion symbolischer Kommunikation ist jedoch problematisch, da sich diese und die hierüber konstituierten „symbolischen Wirklichkeiten“ (Alfred Schütz) durch eine spezifische Eigenlogik auszeichnen, die nur lose an den „objektiven“ Raum sozialer Positionen gekoppelt ist und somit nur sehr bedingt aus diesem abgeleitet werden kann. 2

Zum anderen erscheint die Konzeptionalisierung der Lübecker Ratsherren als einer distinkten Gruppe, die sich durch einen einheitlichen und relativ fest gefügten Habitus auszeichnete, als problematisch, denn bei den Ratsherren handelte es sich weder um einen sozial homogenen Personenkreis, noch war dieser in kultureller Hinsicht gegenüber anderen Personen und Gruppen der Bürgerschaft und der Oberschichten klar abgegrenzt. Nun wäre es schon allein zur Klärung dieses Punkts wichtig gewesen, wenn die Struktur und Entwicklung des politischen Raums im vormodernen Lübeck in differenzierter Form beschrieben worden wäre. Dies unterbleibt jedoch weitgehend. Rüther beschränkt sich vielmehr darauf, die Sichtweise der älteren Geschichtsschreibung zu referieren, nach der sich die wesentlichen Grundlagen der Lübecker Verfassung, vor allem aber die stark ausgeprägte herrschaftliche Stellung des Rates, bereits im 13. Jahrhundert ausbildete und bis zum Ende des Ancien Régimes weitgehend erhalten blieb. Neuere Forschungen insbesondere von Ernst Pitz legen dagegen nahe, dass sich die Strukturen des politischen Raums im 15. und 16. Jahrhundert grundlegend wandelten. 3 Während die politische Macht im mittelalterlichen Lübeck in der Gemeinde verankert war und es deswegen weder notwendig noch sinnvoll war, einen eigenständigen Herrschaftsanspruch des Rates zu legitimieren oder zu repräsentieren, so wurde letzteres im Laufe der Frühen Neuzeit zu einem zunehmend wichtiger werdenden Erfordernis für die Reproduktion der politischen Ordnung, da die Ratsherren nun eine deutlich abgehobene Position inne hatten. Aus dieser Perspektive erscheinen neben den Wandlungen des religiösen Felds, auf die sich Rüther vornehmlich konzentriert, die Veränderungen der politischen Strukturen gerade während und im Gefolge der Reformation als zentral, um zu erklären, warum sich im nachreformatorischen Lübeck die ratsherrliche Stiftungspraxis im Speziellen und die symbolischen Formen der Repräsentation und Legitimation der politischen Ordnung im Allgemeinen wandelten.

Anmerkungen:
1 Frevert, Ute, Haupt, Heinz-Gerhard (Hgg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main 2005.
2 Vgl. hierzu Schütz, Alfred, Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 331-411.
3 Pitz, Ernst, Bürgereinung und Städteeinung. Studien zur Verfassungsgeschichte der Hansestädte und der deutschen Hanse, Köln 2001.