: Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz 1945 bis 1972. München 2004 : Oldenbourg Verlag, ISBN 3-486-56598-2 584 S. € 39,80

Schlemmer, Thomas; Woller, Hans (Hrsg.): Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973. . München 2002 : Oldenbourg Verlag, ISBN 3-486-56595-8 484 S. € 39,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Wagner-Kyora, Historisches Seminar, Universität Hannover

Die Fortsetzung des „Bayern-Projektes“1 in Form der Reihe „Bayern im Bund“ macht neugierig darauf, wie die Autoren das methodische Konzept Martin Broszats, eine auf regionalgeschichtlichen Zugängen basierende politische Sozialgeschichte, für die Bundesrepublik Deutschland weiterführen. Je nach Erwartung des Lesers mag es befriedigend oder eher etwas enttäuschend sein, dass kulturwissenschaftliche Ansätze hierbei weder rezipiert noch eigenständig entwickelt werden. Doch ist es für die Bearbeiter aus dem Münchner Institut für Zeitgeschichte legitim, den dort dominierenden politikgeschichtlichen Zugang konsequent fortzuführen, weil sich die methodische und institutionelle Ausrichtung in München bewährt und ihren festen Platz in der Historiografie gewonnen hat.

Eine gewisse Nachdenklichkeit ist jedoch angebracht, wenn man die Transparenz und auch die Reichweite der Fragestellungen und Erklärungsangebote überprüft, die im Abstand von mehr als zwei Jahrzehnten im Institut für Zeitgeschichte entwickelt worden sind.2 Das beginnt schon beim Titelbild des von Thomas Schlemmer und Hans Woller herausgegebenen Bandes über die „Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973“. Dort sind drei Doppel-Porträts aus unterschiedlichen Zeitphasen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgebildet, jeweils zwei- bis vierfach wiederholt. Das zeigt, dass in dem Sammelband eine sozialgeschichtliche Perspektive von oben eingenommen wird, als Blickwinkel der bürgerlichen politischen Eliten. Ein Perspektivwechsel, wie er gegenwärtig mit einer Kulturgeschichte der Politik intendiert ist, lässt sich daraus nicht ableiten und ist auch nicht intendiert, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung dezidiert klarstellen (S. 13f.). Sie wünschen eine „offenere Form“ der Darstellung, als begriffsgeschichtliche Definitionen und Konzeptualisierungen sie bieten könnten. Das jedoch wirft die Frage auf, wie Schlemmer und Woller ihren Fokus auf wichtige Erwerbsklassen der bundesdeutschen Gesellschaft analysieren wollen. Diese Erwerbsklassen seien durch den Strukturwandel der 1950er und 1960er-Jahre in besonderer Weise verändert worden. Aus der Perspektive des (auf der Landesebene allerdings bloß ausführenden) Sozialpolitikers gesehen, wird dieser Wandel oft als eine Erfolgsgeschichte des Sozialstaates dargestellt. Auch im vorliegenden Sammelband wird auf die politischen und wirtschaftlichen Eliten fokussiert, wobei die Ministerialbürokratie nicht im Band vertreten ist.

Grundsätzlich nähern sich die Autoren in der strukturgeschichtlich intendierten Auswahl der von ihnen analysierten Bevölkerungsgruppen dem Konzept einer Gesellschaftsgeschichte Bielefelder Prägung an. Allerdings wollen sie nicht deren konzeptionelle Prämissen einer theorieorientierten historischen Sozialwissenschaft teilen, die sich in den vergangenen 20 Jahren überdies sehr stark verändert haben. Abgesehen von der Institutionengeschichte der Parteien, Parlamente und Verbände wird in Wollers und Schlemmers Sammelband eine von der chronologischen Darstellungsform abgelöste Systematisierung vermieden. Es ist jedoch vielfach mühselig, unter den akribisch recherchierten politik- und sozialgeschichtlichen Ereignissen und biografischen Elite-Zusammenhängen den analytischen Blick noch auf die Objekte der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu richten. Im Mittelpunkt stehen die Arbeiterbauern (Andreas Eichmüller), die „Gastarbeiter“ (Wilfried Rudloff) und die Handwerker (Christoph Boyer und Thomas Schlemmer). Aber von diesen sozialen Gruppen können außerhalb der Mechanismen sozialstaatlicher Intervention nur schemenhafte Umrisse gezeichnet werden: in den Rahmendaten der Sozialstatistik.

Die in dem Band versammelten fünf großen Aufsätze verzichten auf Einleitungen und Zusammenfassungen sowie auf Inhaltsverzeichnisse. Überdies fehlt eine Gesamtzusammenfassung. So bleibt der Zusammenhang von wirtschaftlicher „Modernisierung“ des platten Landes mit der politischen Stabilisierung in einer lang anhaltenden Demokratisierung, die in Bayern unter CSU-Führung stattfand, wenig reflektiert. Von diesem langsamen Strukturwandel profitierten zuerst die „Randgruppen“, und er strahlte dann auf die „Kerngesellschaft“ aus. Der Arbeitsalltag wurde in traditioneller geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung organisiert. Ansätze für eine künftige Erforschung der Erfahrungswelt der ArbeiterInnen sind hier deutlich erkennbar.

Noch wesentlich detaillierter kann Jaromir Balcar in seiner umfangreichen Monografie über die „Politik auf dem Land“ das Münchner Eliten- und Sozialpolitik-Konzept des neuen „Bayern-Projektes“ vorführen. Eine äußerst schwierige Quellenlage war hier das Haupthindernis. Denn auf den Gemeindeämtern wurde wenig verschriftlicht, und Aktenbestände wurden oftmals entsorgt.

Zentral ist für Balcar die „Frage nach der Steuerung und Steuerbarkeit wirtschaftlichen und sozialen Wandels“ (S. 17), die er durch eine Nahsicht auf die unteren politischen Elite-Angehörigen des Landes, d.h. auf die Landräte und Gemeindevorsteher, beantworten will. Er wertet Fallstudien aus einzelnen Landkreisen in sechs (von sieben) bayerischen Regierungsbezirken für generalisierbare Aussagen aus. Damit kann der ländliche Mikro-Kosmos des Politischen vergleichend erfasst werden.

Hervorzuheben ist, dass die Spezifik einer Verbindung von politischer Biografie und politischem Handeln der Amtsträger weitgehend über deren persönliche Bereitschaft zu neuen Kooperationsformen bestimmt wurde. Selbst noch in den Tücken des Modernisierungsschubes vom ländlichen Honoratioren zum professionell agierenden Politiker gefangen, gelang es jedoch nur einem dieser Gemeinde-Politiker, dem als „Realtyp“ dargestellten Franz Sackmann, die Anforderungen an eine zukunftsweisende Infrastrukturpolitik mit den Chancen zu verbinden, die sich aus der Interdependenz von Landratsamt und Landtagsmandat ergaben, und ein innovativer Polit-Profi zu werden. Die übrigen Landräte und Gemeindevorsteher blieben in einem vormodern anmutenden Anweisungsdenken befangen; das war der „typische Fall“ (S. 454). Erst im Generationswechsel änderte sich das politische Profil der vielen lokalen Amtsträger.

Balcar gelingt es, in Anlehnung an das Idealtyp-Konzept von Max Weber sechs Voraussetzungen für den politischen Karierreerfolg in der ländlichen Spitzenposition des Politikers zu bestimmen (S. 437), womit seine Studie eine Typisierung des Kommunal- und Gemeindepolitikers in der Bundesrepublik ermöglicht. Diese Pionierleistung wird in seiner Darstellung durch eine Fülle von akribisch recherchierten Politikfeldern belegt, die entlang der Chronologie von Wahlen dargestellt werden. Phasen wie die „Zeit der großen Pläne“ (S. 420) werden kenntnisreich beschrieben.

Die Dominanz des lokalen Parteiensystems setzte erst mit der Gebietsreform der Jahre 1971/72 ein (S. 493). Vorher bestimmten die Bauern-Honoratioren das Geschehen – und zwar eher amateurhaft und vielfach nachlässig. Die diesbezüglichen Passagen verknüpft Balcar mit großartigen Einblicken in den biografischen Alltag der Amtsträger. In welcher Weise in den 1950er und 1960er-Jahren allerdings noch Parallelstrukturen der lokalen Öffentlichkeit in Brauchtum, Festen und Gewohnheiten bestanden, genossenschaftlicher Art und lebensweltlich noch sehr stark der langen Kontinuität des Landlebens verhaftet – über solche Erfahrungsräume, Sinndeutungen und nachhängende politische Vorstellungen in der bayerischen Gesellschaft der Landkreise, die auch von Klassenerfahrungen geprägt waren, erfahren wir mit seinem institutionengeschichtlichen Ansatz leider zu wenig. Balcar kann diese Traditionen des flachen Landes lediglich registrieren und als Forschungsauftrag weitergeben.

Die Fortsetzung des „Bayern-Projektes“ kann wichtige Forschungsergebnisse für zentrale sozialgeschichtliche Prozesse des Strukturwandels der 1950er und 1960er-Jahre in ihrem politikgeschichtlichen Umfeld vorlegen, wobei der Blickwinkel auf die politischen Eliten und die wichtigen Erwerbsklassen wie auch auf einige „Randgruppen“ gerichtet ist. Damit hat das Institut für Zeitgeschichte erneut Leitlinien für die regionalgeschichtliche Forschung gesetzt, diesmal zur Zeitgeschichte der Bundesrepublik.

Anmerkungen:
1 Broszat, Martin u.a. (Hgg.), Bayern in der NS-Zeit, 6 Bde., München 1977-1983.
2 Neben den hier besprochenen Bänden 2 und 5 von "Bayern im Bund" siehe auch Schlemmer, Thomas; Woller, Hans (Hgg.), Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973 (Bayern im Bund 1), München 2001; Dies. (Hgg.), Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973 (Bayern im Bund 3), München 2004; Süß, Dietmar, Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft, Betrieb und Sozialdemokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945 bis 1976 (Bayern im Bund 4), München 2003.

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