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Titel
Ludwig Kuhlenbeck - Ein Vertreter sozialdarwinistischen und rassentheoretischen Rechtsdenkens um 1900.


Autor(en)
Szemerédy, Julia
Reihe
Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 49
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 187 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens David Runge, Freiburg im Breisgau

Die Feststellung Christian Geulens 1, dass der moderne Rassendiskurs zu den wichtigsten, aber auch zu den am seltensten explizit untersuchten Aspekten der Vorgeschichte des „Dritten Reichs“ gehört, kann in gleicher Weise Gültigkeit beanspruchen für den Themenbereich des Einflusses der modernen Rassentheorien auf das Recht. Angesichts der Bezeichnung des 19. Jahrhunderts als „juristisches“ bzw. „naturwissenschaftliches“ verwundert es, dass gerade die Schnittmenge - das heisst der Einfluss der Naturwissenschaften auf das Recht - bislang ein Forschungsdesiderat darstellt.

Umso begrüßenswerter ist die bei Prof. Dr. Marcel Senn an der Universität Zürich entstandene Doktorarbeit von Julia Szemerédy, welche die Beeinflussung des juristischen Schrifttums um 1900 durch den Sozialdarwinismus und die aufkommenden Rassentheorien in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt und dieser Frage anhand einer Inhaltsanalyse der Schriften des deutschen Universitätsprofessors und Rechtsanwalts Ludwig Kuhlenbeck (1857-1920) nachgeht. Der Quellenkorpus, auf den sie sich dabei stützt, besteht jedoch hauptsächlich aus den monografischen Werken Kuhlenbecks; seine in Zeitschriften veröffentlichten Artikel bleiben bis auf Ausnahmen unberücksichtigt, was allerdings in erster Linie der Verstreutheit der auszuwertenden Zeitschriften in diversen Bibliotheksmagazinen geschuldet sein dürfte. Nachdenklicher stimmt es da schon, dass der stets selektiven Auswahl der Sekundärliteratur auch ebenso einschlägige wie aktuelle Forschungsliteratur zum Opfer gefallen ist, so vor allem die Standardwerke zur so genannten „völkischen Bewegung“ 2, in der auch Kuhlenbeck sich weltanschaulich heimisch fühlte.

Auf 167 Textseiten nimmt Szemerédy zwischen einer nur eine Seite umfassenden Einleitung und einer anderthalb Seiten langen Zusammenfassung in fünf Kapiteln am Beispiel Ludwig Kuhlenbecks den Einfluss der Deszendenztheorie auf das juristische Rechtsdenken unter die Lupe. Scharfsichtig wirft sie dabei einen Blick auf die Ausprägung rassetheoretischen und sozialdarwinistischen Denkens im Werk Kuhlenbecks, wobei sie stets den Bezug zu denjenigen geistigen Strömungen aus Rechts- und Naturwissenschaft herzustellen vermag, auf die Kuhlenbeck aufbaut, über die er hinaus geht oder von denen er sich abgrenzt. Häufig lässt sie dabei Kuhlenbeck selbst zu Wort kommen, wobei sie die Zitate nicht stichwort- oder phrasenweise und aus dem Zusammenhang gerissen präsentiert, sondern als den Gedankengang offen legendes Exzerpt. Unschärfen in der Analyse ergeben sich insbesondere aufgrund der bereits erwähnten selektiven Auswahl der Primär- und Sekundärliteratur. So führt die Nichtberücksichtigung der neueren Forschungsliteratur zur „völkischen Bewegung“ im Hinblick auf die Klassifizierung von Alldeutschem Verband und Deutschbund zu einer undifferenzierten Gleichsetzung von „völkischer Bewegung“ und radikalem Nationalismus. Und in Bezug auf Kuhlenbeck selbst ließe eine umfassendere Auswertung seiner Mitgliedschaften in „völkischen“ Organisationen (so z. B. auch im Deutschvölkischen Schriftstellerverband) und eine Berücksichtigung seiner in mehr als nur einer „völkischen“ Zeitschrift publizierten Artikel die von Szemerédy zu Recht konstatierte „völkische“ Haltung wohl deutlicher zu Tage treten. Nichtsdestotrotz: Insgesamt ist es Szemerédy im Rahmen ihrer Darstellung und Analyse gelungen, eine ausgewogene Balance zwischen rechtlichen und historischen Gesichtspunkten zu wahren, die für die weitere rechtshistorische Forschung zur so genannten „Bewegung für deutsches Recht“ befruchtend wirken wird.

Als Anknüpfungspunkt für ihre Untersuchung wählt Szemerédy im einleitenden ersten Kapitel das so genannte „Haeckel-Preisausschreiben“ aus dem Jahre 1900. Für die Beantwortung der Frage „Was lernen wir aus den Prinzipien der Descendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?“ setzte der anonym auftretende Friedrich Alfred Krupp ein Preisgeld von 30.000 Mark aus. Der Wettbewerb zielte insbesondere darauf ab, der angeblich zu Unrecht erfolgten Vereinnahmung des Evolutionismus durch die Sozialdemokraten ein hierarchisches Evolutionsmodell entgegenzustellen, mit dem die Entwicklung von Staat und Gesellschaft in kontrollierte Bahnen gelenkt werden könne. Sofern von den Teilnehmern die rechtliche Anwendung der Deszendenztheorie überhaupt befürwortet wurde, stimmten die Resultate überwiegend in der Notwendigkeit und Legitimierung von Selektion innerhalb der Gesellschaft überein. Kuhlenbeck, dessen Wettbewerbsbeitrag bei der Preisvergabe nicht berücksichtigt wurde, bezeichnete das Wettbewerbsergebnis kurzum als Fiasko und für die Rechtswissenschaft als von geringem Nutzen.

In seinem eigenen Wettbewerbsbeitrag, den er 1904 selbständig unter dem Titel „Die natürlichen Grundlagen des Rechts und der Politik – Ein Beitrag zur rechtsphilosophischen und kritischen Würdigung der sog. Deszendenztheorie“ veröffentlichte und dessen Inhaltsanalyse den ersten Teil des zweiten Kapitels ausfüllt, formulierte Kuhlenbeck laut Szemerédy auch die Hauptelemente seines Rechtsverständnisses, nämlich die Notwendigkeit, biologische Kenntnisse auf das Rechtsdenken zu übertragen und die Absage an den Gleichheitsgrundsatz. Überzeugend belegt sie, dass Kuhlenbeck eine dem Evolutionsbegriff entsprechende und sich an den Kategorien von Volk und Rasse orientierende Rechtsauffassung anstrebte, wobei er bei der konkreten Ausformulierung seiner darwinistischen Rechtsgeschichte an Jherings Darstellung der Gesellschafts- und Staatsentstehung anknüpfte, diese durch die darwinistischen Elemente der Anpassung und Auslese veränderte und durch den Perspektivwechsel von der Staats- zur Völkerentwicklung, von der Klassen- zur Rassenfrage, die Verbindung zwischen Rechtsgeschichte und Deszendenztheorie schuf. Im zweiten Teil des zweiten Kapitels untersucht Szemerédy Kuhlenbecks Positionierung innerhalb des politischen bzw. weltanschaulichen Spektrums des wilhelminischen Kaiserreichs anhand seiner Mitgliedschaften im Alldeutschen Verband und im Deutschbund. Bedeutung gewann hierbei sein Gegensatzpaar des historischen Begriffs der Nation und des naturwissenschaftlich-biologischen Begriffs der Rasse, welche in seinen Augen der alleinige Orientierungspunkt für die Staats- und Gesellschaftsverfassung bzw. -entwicklung darstellte. In diesem Sinne betrachtete er als Endziel zum einen eine in biologisch-rassischem Sinne einheitliche Volksmasse, zum anderen ein im kulturell-historiografischen Sinne einheitlich verstandenes Germanentum. Der Weg zur Erreichung dieses Zieles führte laut Kuhlenbeck über einen „Kulturkampf“ gegen die als störend empfundenen, die Entstehung der nationalen Einheit verhindernde jüdische Bevölkerung sowie durch die Schaffung einer nationalen „Sozial-Aristokratie“ als Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus mit ihren „nivellierenden Tendenzen“.

Im dritten Kapitel tritt Szemerédy in die Prüfung des Verhältnisses zwischen Rechts- und Naturwissenschaften um 1900 ein. Als Ausgangspunkt wählt sie die von darwinistischen Argumenten beeinflusste Auseinandersetzung Jherings mit Savigny und der „historischen Schule“, um dann anhand eines Vergleiches der Konzeption des Göttinger Amtsgerichtsrats Ernst Neukamp mit derjenigen Kuhlenbecks die unterschiedlich weit fortgeschrittene Übernahme der biologistischen Sichtweise auf die Gesellschaft und deren Einfluss auf das juristische Schrifttum zu verdeutlichen. Kuhlenbeck vollzog am weitgehendsten eine Anknüpfung an die zeitgenössische Evolutionstheorie, vermeinte er doch, eine zunehmende „Lebensfremdheit“ des Rechts wahrzunehmen und forderte infolgedessen ein „lebendiges“, „natürliches“ Recht. Dabei legte er äußersten Wert darauf, dass mit der Übernahme des Entwicklungsgedankens in das Recht gleichzeitig auch Postulat von der Ungleichheit der Menschenrassen anerkennt werde. Letzteres verwandelte dann den angeblich wertneutralen naturwissenschaftlichen Ansatz in einen werthaften, der auch der Legitimation der Kuhlenbeckschen Auffassung der „Sozial-Aristokratie“ dienen konnte.

Im vierten Kapitel untersucht Szemerédy Kuhlenbecks Rechtsdogmatik, wobei sie ihn innerhalb der juristischen Zeitströmungen (Bewegung für deutsches Recht, Freirechtslehre) als „deutsch-nationalen“ Romanisten verortet und die Auswirkung des Einflusses „völkischer“ Ideologie auf seine wissenschaftlichen Werke aufzeigt. Vertiefend widmet sie sich anschließend der Kuhlenbeckschen Behandlung ausgewählter Institute des Zivilrechts (Schuldrecht, Eigentumsrecht, Eherecht und Erbrecht). Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass sich Kuhlenbeck weitgehend auf die Verwendung darwinistischer Metaphern beschränkt habe und lediglich im Eherecht rassenhygienischen und sozialanthropologischen Argumenten gefolgt sei. Auch hier habe er sich jedoch ausdrücklich gegen einen konkreten Einbezug der Rassentheorie in die Gesetzgebung ausgesprochen; er sah die Lösung des Problems der Bevölkerungsdegeneration vielmehr in außerjuristischer Erziehungsarbeit.

Wie Julia Szemerédy im fünften Kapitel ausführt, das der Rezeption Kuhlenbecks durch die Nationalsozialisten, insbesondere der Dissertation Herbert Lemmels, vorbehalten ist, dürfte dies neben dem Umstand, dass es Kuhlenbeck genauso wenig wie den anderen „völkischen“ Juristen gelungen ist, ein Rechtssystem auf der rassetheoretischer oder sozialdarwinistischer Grundlage zu begründen, zu seinem schnellen Vergessen beigetragen haben.

Anmerkungen:
1 Geulen, Christian, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004, S. 368.
2 Puschner, Uwe, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt 2001; Breuer, Stefan, Ordnungen der Ungleichheit – Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945, Darmstadt 2001.

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