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Titel
Was ist Antisemitismus?.


Autor(en)
Benz, Wolfgang
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Samuel Salzborn, Graduiertenkolleg „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, Institut für Politikwissenschaft, Justus-Liebig-Universität Giessen

Angesichts der spätestens mit der Paulskirchen-Rede von Martin Walser (1998) wieder in größerem Maße zunehmenden Bereitschaft zur öffentlichen Artikulation von antisemitischen Ressentiments in der bundesdeutschen Gesellschaft ergibt sich die herausgehobene wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz des Buches „Was ist Antisemitismus?“ von Wolfgang Benz fast von selbst, so dass eine explizite Betonung derselben beinahe redundant wirken könnte. Da die antisemitischen Invektiven prominenter Persönlichkeiten (wie etwa von Walser, Norman Finkelstein, Jürgen Möllemann oder Martin Hohmann) aber eine nachhaltig mobilisierende und geradezu katalytische Funktion für antisemitische Ressentiments in der deutschen Bevölkerung gehabt haben, und insofern die Klärung der Frage, was Antisemitismus ist, notwendig jeder Form von dessen Bekämpfung vorausgeht, hat der Historiker und Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung Benz mit seiner Darstellung in der Tat ein eminent wichtiges Buch vorgelegt. Gerade die durch empirische Studien jüngst nachgewiesenen Zustimmungen zu antizionistischen Artikulationsformen des Antisemitismus belegen dies überdeutlich: mehr als die Hälfte der Deutschen stimmt demnach dem direkten Vergleich Israels mit dem NS-Regime zu, wobei sogar fast 70 Prozent glauben, Israel führe einen „Vernichtungskrieg“ gegen die Palästinenser.1

Benz will mit seiner Einführung Einsichten in Ursachen, Funktionen und Wirkungen des Antisemitismus ermöglichen. Er unterscheidet dabei mit dem christlichen Antijudaismus, dem rassistischen, dem sekundären und dem antizionistischen Antisemitismus vier Grundphänomene der Judenfeindschaft, wobei es ihm wichtig ist zu betonen, dass sich zwar die Argumentationsweisen des Antisemitismus unterscheiden und auch historisch wandeln, aber letztlich alle vier Formen gleichermaßen Ausdruck des antisemitischen Ressentiments sind: „Judenfeindschaft gilt als das älteste soziale, kulturelle, religiöse, politische Vorurteil der Menschheit; Judenfeindschaft äußert sich, lange bevor Diskriminierung und brachiale Gewalt das Ressentiment öffentlich machen, in ausgrenzenden und stigmatisierenden Stereotypen, d.h. in überlieferten Vorstellungen der Mehrheit von der Minderheit, die unreflektiert von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das ist ein Argument gegen die Vermutung, es gäbe derzeit einen ‚neuen Antisemitismus’, der sich in seinen Inhalten oder in der Radikalität vom ‚alten Antisemitismus’ unterscheide.“ (S. 7f.)

Benz untersucht in seiner Darstellung eine Reihe von antisemitischen Stereotypen und Ressentiments, oft entlang der Darstellung konkreter gesellschaftspolitischer Debatten, historischer wie aktueller Provenienz. Dabei verknüpft er theoretische Erkenntnisse mit historischen Fakten und empirischem Datenmaterial, was insofern besonders bemerkenswert ist, als seine Darstellung somit eine Kritik der Judenfeindschaft nicht nur theoretisch vornimmt, sondern überdies anhand verschiedener antisemitischer Stereotype (beispielsweise des gegenwärtig wieder zunehmend Relevanz entfaltenden Konstrukts einer „jüdischen Weltverschwörung“) zeigt, dass die zentrale theoretische Erkenntnis über den Antisemitismus – das dieser seine Ursache ebenso wenig in der jüdischen Religion wie im realen Verhalten von JüdInnen hat, sondern dem Wahn der AntisemitInnen entspringt – auch historisch fundiert werden kann.

Die Auseinandersetzung mit empirischen Studien zum Thema wie auch mit der Struktur aktueller Debatten führt Benz nicht nur zu der Erkenntnis, dass „entgleisende öffentliche Solidaritätsbekundungen [...] zum Standardrepertoire antisemitischer Skandale“ (S. 11) gehören, sondern auch, dass es fließende Übergänge vom latenten zum manifesten Antisemitismus gibt, besonders bei der „von Rechtsradikalen offen geäußerte[n]“ und auf „konservativ-bürgerlicher Seite weithin geteilte[n], aber so nicht ausgesprochene[n]Unterstellung, die Juden benutzten den Holocaust zur Erpressung und Ausbeutung“ (S. 119). Insofern ist auch von einer „Brückenfunktion der Judenfeindschaft zwischen der Mitte der Gesellschaft und dem Rechtsextremismus“ (S. 116) zu sprechen.

Besondere Hervorhebung verdient in diesem Zusammenhang ein Abschnitt des Buches, in dem Benz sehr aufschlussreiche, in ihrer Radikalität aber auch überaus erschreckende „Zuschriften aus dem Publikum“ an den Zentralrat der Juden als Quellenmaterial auswertet. Dabei handelt es sich um Briefe und Emails, die im Zeitraum November 2000 bis Anfang 2003 an den Zentralrat bzw. einige seiner RepräsentantInnen geschickt wurden. Am Ende eines solchen Briefes schrieb beispielsweise eine 1937 im damaligen Königsberg geborene und heute in Braunschweig lebende Frau, die sich ausführlich als politisch unverdächtig vorstellt, an den Präsidenten des Zentralrates der Juden: „Ich bitte Sie inständig, nicht dauernd durch Ihre Äußerungen und Reden uns Deutschen auf ewig ein schlechtes Gewissen beibringen zu wollen. Denn dieses Verhalten von Ihnen sehe ich als sehr gefährlich an; denn niemand möchte, dass die Meinung über die Juden wieder umschlägt und die Deutschen sich nur ausgenützt fühlen.“ (zit. n. S. 36) Und ein 19-Jähriger Gymnasiast, nach eigenem Bekunden SPD-Mitglied, Christ und demokratisch orientiert, äußerte sich per Email folgendermaßen: „Ich fühle mich von Ihrer Organisation ein wenig in meiner Ehre verletzt. Ich habe das Gefühl, dass der deutsche Staat, mit seinen Mitbürgern immer noch dafür büßen und Rechenschaft ablegen muss, was vor mehr als 50 Jahren passiert ist. Ich verdamme alles, was in dieser Zeit geschehen ist, aber ich sehe es nicht ein, dass ich für diese Taten in der Verantwortung stehe. Ich bin jetzt die zweite Nachkriegsgeneration und habe nicht das geringste damit zu tun. Außerdem bin ich schwerbehindert, wäre also sowieso im Euthanasieprogramm untergegangen.“ (zit. n. S. 49)

Beide Aussagen dokumentieren ein – offenbar generationenübergreifend wirksames – Bedürfnis nach (Selbst-)Vergewisserung der eigenen Unverdächtigkeit in Bezug auf Antisemitismus bei gleichzeitiger Artikulation zahlreicher antisemitischer Stereotype. Unter Wirkung der psychischen Muster von Abwehr und Projektion werden Anspielungen und Chiffren genutzt, die in geradezu idealtypischer Weise antisemitische Ressentiments reproduzieren: Es erfolgt der verbale Ausschluss der Minderheit aus dem Wir-Gefühl der Mehrheit, eine Täter-Opfer-Umkehr wird verknüpft mit einer gereizten Reaktion auf die Erwähnung von Verbrechen des Nationalsozialismus (die oft nicht nur mit Relativierungs- und Marginalisierungsversuchen wie bei dem zitierten Gymnasiasten einhergeht, sondern auch mit dem Versuch der Aufrechnung), es werden Ängste und Bedrohungsgefühle artikuliert, eine Stärkung des Wir-Bewusstseins angestrebt und die Sicherung der Solidarität durch Schuldzuweisung nach „Außen“ erwirkt.

Damit hat Antisemitismus eine selbstbestärkende Wirkung für die AntisemitInnen: „Der Antisemit weiß, was er glaubt, und nimmt das Gegenargument als Beweis für seine Glaubensinhalte.“ (S. 237) Benz formuliert deshalb auch die These, dass Antisemitismus oft „vielleicht weniger Angriff als Verteidigung ist und Rechtfertigung gegen befürchtete und vermutete moralische Bedrohungen des Selbstwertgefühls und der nationalen Identität durch die Schatten der Vergangenheit, an die Juden sowohl durch ihre Existenz als auch durch die Forderung des Eingedenkens (die wiederum zur Selbstreflexion jüdischer Existenz in Deutschland unabdingbar ist) mahnen.“ (S. 12f.) Dies verweist auf das von Benz als „Konstruktcharakter der Judenfeindschaft“ charakterisierte Phänomen, bei dem AntisemitInnen „gegen imaginäre Feinde“ kämpfen, aber „wirkliche Juden als Projektionsflächen“ benutzen (S. 25): „Die Beliebigkeit des Ressentiments, das ‚den Juden’ Eigenschaften, Absichten, Handlungen zuordnet, die mit realer jüdischer Existenz nichts oder wenig oder nur Missverstandenes zu tun haben, ist ein wesentliches Kennzeichen judenfeindlicher Haltung. Ein anderes ist die Verwendung von Stereotypen, die eine Pseudorealität jüdischer Existenz zu beschreiben und zu erklären vorgeben. Ein weiteres Charakteristikum ist die Absurdität und Irrationalität der Zuschreibungen an die Juden. Schließlich ist auch die hoch emotionale Einstellung zu Juden ein wesentliches Merkmal des Antisemitismus.“ (S. 234)

Antisemitische Ablehnung gründet sich dabei nicht auf Fakten, sondern auf Traditionen und Emotionen, die als Fakten unterstellt werden, weshalb Benz auch völlig zu Recht betont, dass sich Judenfeindschaft grundsätzlich jeder rationalen Diskussion entzieht, da Antisemitismus als „hermetisches System“ (S. 236) funktioniert: „Antisemitismus ist deshalb auch weitgehend gegen Aufklärung resistent. Diese Feststellung ist kein Plädoyer zur Resignation, vielmehr zur Prävention und Prophylaxe.“ (S. 10)

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist das Buch von Benz deshalb so bemerkenswert gut, weil es profunde historische Kenntnisse mit sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen verknüpft und insofern praktisch eine Interdisziplinarität am Gegenstand der Antisemitismusforschung umsetzt, die vielerorts vollmundig proklamiert, aber nur selten wirklich realisiert wird. Die Einordnung von Antisemitismus als irrationales Gefühl, als – wie Theodor W. Adorno es nannte – „Gerücht über die Juden“ 2, wirft jedoch die Frage auf, ob die von Benz ebenfalls vorgenommene Klassifizierung des Antisemitismus als Vorurteil tatsächlich treffend ist. Denn ungeachtet der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung der Vorurteilsforschung legt die Verwendung des Begriffs „Vorurteil“ die Vermutung nahe, es handele sich bei dem in Rede stehenden um etwas Ungeprüftes, das durch Informationen revidierbar wäre. Da auch Benz um die weitgehende Aufklärungsresistenz von AntisemitInnen weiß, läge alternativ die Stärkung psychoanalytischer Erklärungsansätze nahe. Benz spricht Psychologie und Psychoanalyse als für die Antisemitismusforschung wichtige Erklärungsansätze zwar an, jedoch werden die im gesamten Buch verstreut verwendeten psychoanalytischen Kategorien bedauerlicherweise nicht weiter in einen theoretischen Kontext eingeordnet. Denn würden psychische Mechanismen wie insbesondere Projektion, Abwehr und Verdrängung als Grundstrukturen des Antisemitismus systematisch in Bezug zueinander gesetzt, würde dies auch einen breiteren Interpretationsrahmen für die emotional-irrationale, wahnhafte Struktur des Antisemitismus eröffnen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Heyder, Aribert; Iser, Julia; Schmidt, Peter, Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 3, Frankfurt am Main 2005, S. 144ff.
2 Adorno, Theodor W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 4 (herausgegeben von Rolf Tiedemann), Frankfurt am Main 1980, S. 123.

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