N. Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft

Titel
Das Erziehungssystem der Gesellschaft.


Autor(en)
Luhmann, Niklas
Herausgeber
Lenzen, Dieter
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

In der kaum überschaubaren Fülle von Publikationen Niklas Luhmanns lassen sich nach der Ausarbeitung einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme (Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984) noch wenigstens zwei große Forschungsschwerpunkte deutlich ausmachen: Das eine, mehr historische Projekt „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ stellt den Umbruch zur „modernen“, durch Ausdifferenzierung diverser Funktionssysteme gekennzeichneten Gesellschaft im Wandel ihrer Semantik fest. Das andere, mehr systematische Projekt beschreibt die einzelnen, „autopoietisch“ operierenden Funktionssysteme der modernen Gesellschaft. Der systematische Durchgang durch die Funktionssysteme Wirtschaft (1988), Wissenschaft (1990), Recht (1993), Kunst (1995), Religion, Erziehung, Politik sollte dabei in der Studie „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ einen theoretischen Abschluss finden. Angesichts seiner Erkrankung zog Luhmann dieses Schlusswerk aber vor und hinterließ 1998 bei seinem Tod – neben zahlreichen anderen Texten - noch einige, mehr oder weniger abgeschlossene Manuskripte. 2000 erschienen u. a. „Die Politik der Gesellschaft“ und „Die Religion der Gesellschaft“. 2002 erschien „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“, das sich auf zahlreiche frühere Publikationen Luhmanns zum Thema stützen konnte.

Der Herausgeber Dieter Lenzen nennt es in der kurzen editorischen Notiz „die summa seiner systemtheoretischen Reflexionen zum Erziehungssystem“ und meint: „Das Manuskript sollte noch erweitert werden, allerdings wohl nicht um weitere Kapitel, sondern um Ergänzungen in dem als Ganzem komponierten Text.“ (S. 7) Der Text gliedert sich in sieben Kapitel: Mensch und Gesellschaft; Sozialisation und Erziehung; Medium und Form; Interaktionssystem Unterricht; Ausdifferenzierung des Erziehungssystems; Respezifikation: Organisation und Professionalisierung; Selbstbeschreibungen. Einige Kapitelüberschriften entsprechen allgemeinen systemtheoretischen Termini und spiegeln damit den exemplarischen Charakter der Untersuchung, dass jede Beschreibung eines „ausdifferenzierten“ Funktionssystems zugleich eine Hinführung zur allgemeinen Systemtheorie ist. Die ersten beiden Kapitel „Mensch und Gesellschaft“ und „Sozialisation und Erziehung“ dienen der begrifflichen Sicherung des Gegenstandes: Nicht der Mensch als solcher, sondern die soziale „Konstruktion“ der „Person“ (S. 28 ff.) ist Gegenstand der soziologischen Betrachtung. „Menschen werden geboren“, meint Luhmann. „Personen entstehen durch Sozialisation und Erziehung. Wenn man diesen Unterschied vor Augen hat, liegt es nahe, die Funktion der Erziehung auf das Personwerden von Menschen zu beziehen. Besonders in komplexen Gesellschaften kann man dies nicht nur der Sozialisation überlassen.“ (S. 38) Das antike Konzept der Adelserziehung sei ebenso antiquiert wie der Neuhumanismus, der vom transzendentalen Begriff des Subjekts ausging und über keinen empirischen Begriff vom Menschen verfügte, der die gesellschaftliche Funktion von Erziehung angemessen erfassen ließe. Luhmann geht also von der soziologischen Auffassung des Menschen als Person aus und fragt in diesem Rahmen: „wie ist [....] Erziehung möglich?“ (S. 42)

Er skizziert dafür zunächst einen Vorbegriff von der erzieherischen „Vermittlung von Wissen und Können“ (S. 43), die dem Lehrer „Vertrauen in die eigene Handlungskompetenz“ (S. 45) und den Schülern einen gesellschaftlich aussichtsreichen „Lebenslauf“ gibt. Im nächsten Kapitel kennzeichnet er die Erziehung dann abgrenzend von „Sozialisation“ als absichtsvollen Prozess. Von der „guten Absicht“ des Lehrers spricht er dabei (S. 54 ff., 69, 75 ff.) zwar ähnlich ironisch wie einst Hegel (in der „Phänomenologie des Geistes“) von der „Tugend“, zeichnet die Grenzen der Organisation und Planbarkeit des Interaktionssystems Unterricht dann aber nüchtern und einfühlsam. Luhmann nimmt Erziehung als wichtige Funktion moderner Gesellschaften ernst. Persönliche Erinnerungen als Schüler und akademischer Lehrer gehen in die Analyse ein und geben ihr einen ebenso ironischen wie nachdenklichen und freundlichen Ton. Erziehung zielt nach Luhmann auf die „Selektion“ (S. 62 ff.) und „Trivialisierung“ (S. 77 ff.) der Schüler: auf deren Einpassung in gesellschaftliche Chancen und günstige „Ausgangslagen für eine spätere Karriere“ (S. 71). Der selbstverständliche Sinn und Zweck von Erziehung sei die „Karriere“. Das Erziehungssystem habe die Aufgabe, Lebensläufe und Karrieren zu ermöglichen. In der modernen Gesellschaft erfüllt es sie in Abgrenzung von der familiären Herkunft. Es neutralisiert Herkunftsdifferenzen und verpflichtet sich auf die Herstellung von „Chancengleichheit“, um dann erzieherisch neu zu selektieren. Luhmann spricht von einem „Umbau des Modus der sozialen Integration von Herkunft auf Karrieren, also auf Zukunft“ (S. 70): „Der Legitimitätsverlust von Herkunft (und damit: von Sozialisation in den guten Familien oder in der guten Gesellschaft) ist durch die Umstellung des Gesellschaftssystems auf einen Primat funktionaler Differenzierung bedingt“ (S. 70 f).

Nach diesem Vorbegriff von Erziehung – in der Absetzung von „Sozialisation“ – schiebt Luhmann eine Unterscheidung von „Medium und Form“ ein und führt aus, dass der Begriff „Kind“ durch den „Lebenslauf“ abgelöst werde. Erziehung erfolgt heute nicht als ein normativ und teleologisch klar fixierter Schritt vom „Kind“ zum „Erwachsenen“, sondern als offener, wissensbasierter Prozess, der einen Lebenslauf als soziale Karriere disponieren möchte.

Die nähere Beschreibung des Erziehungsprozesses fällt knapp aus. Das entsprechende Kapitel „Interaktionssystem Unterricht“ ist das kürzeste des ganzen Textes. Ausdrücklich wählt Luhmann einen „makrosoziologischen“ Ansatz (S. 13), der nur den begrifflichen Rahmen entwickelt, in dem eine „Mikrosoziologie des Unterrichts“ (S. 105) zu schreiben wäre. Das zentrale Kapitel „Interaktionssystem Unterricht“ klärt deshalb nur den zuvor beiläufig formulierten Befund, dass die gute Absicht des Lehrers im Unterrichtsgeschehen oft scheitert, durch den Grundbegriff vom „Interaktionssystem“, in dem auch Schüler ihre Absichten haben. Nirgendwo sonst ist der fragmentarische Charakter des Textes so greifbar. Luhmann entwickelt nur einen allgemeinen makrosoziologischen Begriff vom Interaktionssystem und stellt die Anschlussfähigkeit an die allgemeine Systemtheorie her, ohne eine Mikrosoziologie des Unterrichts liefern und den Pädagogen die Aufgabe einer Selbstbeschreibung ihrer Praxis abnehmen zu wollen.

Statt der Mikrosoziologie fixiert das nächste Kapitel als Zwischenertrag die „Ausdifferenzierung des Erziehungssystems“, die sich schon aus der ersten Abgrenzung des Interaktionssystems ergibt. Die moderne Schule konstituiert sich als chancengleiches, wissensbasiertes Interaktionssystem in der Abgrenzung von den Familien. „Die Ideologie der Freiheit und Gleichheit besagt, dass jeder Zugang zu allen Funktionssystemen haben sollte.“ (S. 136) Luhmann deutet dieses „normative Postulat der Chancengleichheit“ – einen Schlüsselbegriff der sozialdemokratischen Bildungspolitik der alten Bundesrepublik, die Luhmann reflektiert – als letzte Konsequenz der funktionalen Ausdifferenzierung. Scharf arbeitet er dabei die pädagogische Paradoxie heraus, die sich aus der „Homogenisierung der Eintrittspopulation“ um der „Fiktion der Startgleichheit“ (S. 127) willen ergibt: „Vor allem tritt die Losung, alle Schüler gleichermaßen zu fördern, in Widerspruch zu der ebenfalls unbestrittenen Forderung nach dem größtmöglichen Ertrag pädagogischer Bemühung.“ (S. 128)

Neben der Chancengleichheit betont Luhmann die Wissensbasiertheit staatlicher Erziehung: „Die Wissenschaft ist die vielleicht wichtigste Ressource der Erziehung, denn die gute Absicht, richtig zu erziehen, kann sich am besten auf wahres Wissen stützen, und für Wahrheit ist in der modernen Welt die Wissenschaft zuständig.“ (S. 132) Stabilisiert wird diese Ausdifferenzierung durch bürokratische „Organisation“. So strikt Luhmann intentionale Erziehung von beiläufiger Sozialisation abgrenzt, so scharf unterscheidet er das Interaktionssystem von seiner bürokratischen Organisation. Organisation schafft zwar den institutionellen Rahmen. Schulen sind Anstalten. Ihre juristische Beschreibung „verdeckt aber die operative Eigenständigkeit des Interaktionssystems Unterricht“ (S. 146). Die zeigt sich auch in der Professionalisierung der Lehrer, die Unterrichten in der Praxis lernen. Der Lehrer reift an der Erfahrung. Seine Person ist „wichtiger als Methodik und Raffinement“ (S. 150). Seine Interaktion bedarf zwar des organisatorischen Rahmens: „Aber sobald die Interaktion Unterricht beginnt, sind Lehrer wie Schüler deren Dynamik ausgeliefert. Sie müssen auf das reagieren, was gerade geschehen ist“ (S. 160). Organisation kann Interaktion letztlich nicht steuern, sondern nur ermöglichen. Alle „Euphoriewellen der Reformbewegungen“ (S. 167) scheitern an dieser Differenz von Organisation und Interaktion.

Im Schlusskapitel „Selbstbeschreibungen“ kritisiert Luhmann erneut die Inadäquanz aller älteren pädagogischen Selbstbeschreibungen der Praxis: insbesondere die Semantik der „Bildung“ (S. 167 ff.): „Das Wort Bildung stellt der Kontingenzformel des Erziehungssystems einen unbestreitbar schönen Wortkörper zur Verfügung. Es fließt leicht von der Zunge“ (S. 187), sei aber viel zu vage, um den funktionalen Sinn des Erziehungssystems, die Ermöglichung von Karrieren, adäquat zu erfassen. Luhmann meint: „Tatsächlich hat die humanistische Pädagogik nie das ganze Erziehungssystem, auch nie alle Schulen erfassen können. Weder die Ideen zu einer sozialen Pädagogik (einer Volkspädagogik) noch die Ideen zu einer Arbeitspädagogik haben sich durch sie beeinflussen lassen. Um auf das ganze Erziehungssystem anwendbar zu sein, musste der Begriff der Bildung daher von allen Inhalten entleert werden. Er wird seitdem nur noch floskelhaft und vor allem politisch gebraucht.“ (S. 191) Die Reformpolitik der alten Bundesrepublik deutet Luhmann so als Abgesang auf die alte Bildung: „Wenn man Bildung als reformbedürftig ansieht und die Reform als Curriculumrevision fordert, löst das den Orientierungswert der Bildungsidee auf.“ (S. 195) Luhmann zweifelt deshalb, „ob das Erziehungssystem aus eigenen Beständen neue Reflexionsideen generieren kann“ (S. 196), und deutet systemtheoretische Korrekturen an: „Die Konsequenz wäre, dass das Lernen von Wissen weitgehend ersetzt werden müsste durch das Lernen des Entscheidens, das heißt: des Ausnutzens von Nichtwissen.“ (S. 198, vgl. 195, 200).

Luhmann endet mit dem Zweifel, ob seine Beschreibung des Erziehungssystems in die Selbstbeschreibungen der Pädagogik aufgenommen und verarbeitet werden wird, und mit der Erwartung neuer bildungspolitischer Entscheidungen. Das gibt seiner Darstellung einen ironischen und auch polemischen Ton. Durchgängig korrigiert er die neuhumanistische Bildungsideologie. Historisch reflektiert er den Epochenumbruch zur Formierung des modernen Erziehungssystems um 1800 einerseits und die Reformpädagogik der alten Bundesrepublik andererseits. Man könnte auch sagen: die Epoche Humboldts. Dabei konzentriert sich Luhmann auf das staatliche Schulwesen, ohne die Familien und Universitäten als Erziehungsanstalten oder neuere Tendenzen zur Reprivatisierung des staatlichen Unterrichtswesens näher zu berücksichtigen. Ist die Reformpolitik der alten Bundesrepublik aber wirklich das letzte Ende des Neuhumanismus? Trifft Luhmanns Verhältnisbestimmung von Interaktion und Organisation heute noch zu? Idealisiert Luhmann nicht das überlieferte staatliche Erziehungssystem, das heute erodiert? Das Anregungspotential seines unvollendeten, gleichwohl konzeptionell geschlossenen Manuskriptes liegt in der Korrektur der humanistischen Selbstbeschreibungen. Luhmann verteidigt den Begriff der Erziehung gegen die Inflation der Rede von „Sozialisation“, die die „emanzipatorische“ Pädagogik nach 1968 pflegte, ohne ihn konservativ mit autoritativer „Organisation“ gleichzusetzen. Er formuliert den begrifflichen Idealtyp des modernen Erziehungssystems, ohne ihn historisch näher zu fassen, und eine innere Geschichte des modernen Erziehungssystems schreiben zu wollen.

Seine Abgrenzung der pädagogischen Interaktion von Sozialisation und Organisation ist deskriptiv brauchbar. Luhmann sagt allerdings nicht viel über die einzelnen Akteure, sondern belässt es bei der allgemeinen Feststellung des sozialen Eigensinns und beiläufig treffenden Bemerkungen zur Riskanz der pädagogischen Interaktion. Eine Selbstbeschreibung der pädagogischen Praxis erfordert genauere Analysen. „Karriere“ allein genügt nicht. Was sind Schüler für Akteure? Was können und wollen sie? Und was sollen sie in der Gesellschaft können und wollen? Was lehrt die Interaktion der Schüler über die Gesellschaft, in der sie sozialisiert sind? In welcher Form und mit welcher Dynamik tritt ihr Eigensinn auf? Luhmanns Erkenntnisinteresse, das sich auf den Nachweis der modernen Ausdifferenzierung weitgehend beschränkt, verdunkelt hier den Begriff vom Interaktionssystem wieder. Es stellen sich weitere empirische Fragen für eine Soziologie der Erziehung, die der Pädagogik anschlussfähig wäre. Luhmann weiß um diese Fragen, klammert sie aber mit der Mikrosoziologie des Unterrichts bewusst aus. Deshalb ist seine makrosoziologische Analyse nur ein Wink an die Pädagogen.

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