Titel
Death in the Tiergarten. Murder and Criminal Justice in the Kaiser's Berlin


Autor(en)
Hett, Benjamin Carter
Erschienen
Cambridge/Mass. 2004: Harvard University Press
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Bösch, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Im späten 19. Jahrhundert hörte man in der gesamten westlichen Welt von spektakulären Strafprozessen und Verbrechen. Was die Zeitgenossen als Folge des Großstadtlebens, des moralischen Verfalls oder der sozialen Ungleichheit deuteten, war vor allem das Ergebnis einer veränderten öffentlichen Kommunikation. Die neu etablierte Massenpresse veränderte öffentliche Aufmerksamkeiten und prägte durch ihre ausführlichen, reaktionsschnellen und mitunter investigativen Berichte die polizeilichen und gerichtlichen Ermittlungen. Dieses Zusammenspiel von Verbrechen und Öffentlichkeit hat in letzter Zeit verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. Wie Perry Curtis am Beispiel von Jack the Ripper zeigte, etablierten die Medien dabei nicht nur Narrative über die Großstadt, sondern lenkten die Ermittlung und prägten die Organisationsform der Polizei. Dass die Medienberichte auch die Zeitungsleser aktiv in die Verbrechersuche einbanden, verdeutlichte jüngst Philipp Müller mit Blick auf Berlin. 1

Auch in Benjamin Carter Hetts überarbeiteter Dissertation, die David Blackbourn in Harvard betreute, bildet diese Transformation der Presse eine entscheidende Einflussgröße. Der Titel ‚Death in the Tiergarten’ verweist bereits auf die sensationellen Schlagzeilen, die gerade aus der Verortung des Mordes in die vertraute Großstadttopografie ihre Spannung zogen. Im Unterschied zu den vorliegenden Arbeiten wählt Hett jedoch einen anderen Fokus. Er will anhand der um 1900 verhandelten Prozesse des Moabiter Gerichtes die Interaktion zwischen allen Prozessbeteiligten analysieren und so den Wandel der „culture of the criminal courtroom“ aufzeigen. Sein Hauptargument ist dabei, dass man die wilhelminische Justiz nicht allein von ihrer ideologischen Prägung her betrachten dürfe. Vielmehr müsse die Rolle der restlichen Gesellschaft einbezogen werden, also etwa die Anwälte, Interessengruppen, Experten, Schöffen und vor allem die öffentliche Meinung, da durch deren Partizipation das Recht im Gerichtsraum immer wieder neu erfunden worden sei. Neben Presseartikeln dienen ihm dabei vor allem die Akten des Justizministeriums als Quellengrundlage.

Herausgekommen ist dabei eine spannend verfasste Studie, der es vorzüglich gelingt, einzelne exemplarische Fallstudien mit generellen Überlegungen zur Gerichtspraxis zu verbinden. Hett führt seine Leser/innen zunächst sehr anschaulich in die Topografie Berlins, den Moabiter Gerichtsalltag und die Spezifika des deutschen Justizwesens ein. Sein zweites Kapitel zeigt anhand des Heinze-Prozesses (also dem wichtigsten Mordfall der 1890er-Jahre), welche unterschiedlichen Narrative der Fall aufwarf. So schuf er Vorstellungen über den Berliner Norden, der von Verbrechen, sozialen Problemen und miserablen Lebensbedingungen gekennzeichnet gewesen sei. Er machte die Arbeitsweise und verspätete Professionalisierung der Polizei deutlich, die ihre Mordermittlungen bisher vornehmlich auf Vigilanten stützte, zu denen auch die Täterin zählte. Ebenso verhandelte die Öffentlichkeit im Zuge des Prozesses den Verhaltenskodex von Anwälten, da die Verteidiger Heinzes in der Pause Champagner tranken und freundschaftlich mit den Beschuldigten umgingen. Ohnehin weist das Buch umfangreiche Passagen über die Rolle von Anwälten auf, die der formalen Dominanz der Staatsanwaltschaft zunehmend entgegenstanden. Die Konflikte zwischen den Anwälten, deren Zahl um 1900 in Berlin rasant anstieg, und den Staatsanwälten und Richtern waren dabei bereits durch die unterschiedlichen Sozialprofile angelegt, wie Hett unterstreicht; etwa durch die liberalere Einstellung der Anwälte, ihren häufig jüdischen Hintergrund und die mitunter höheren Einkommen.

Um 1900 sei einerseits eine Kritik an Fehlurteilen der Justiz aufgekommen, andererseits habe sich die Vorstellung etabliert, dass sowohl der Einfluss der ‚Masse’ als auch der des Kapitals eine Gefahr für die unabhängige Justiz seien. Dies wurde an spektakulären Fällen ausgemacht, die Hett skizziert. Die Angst vor der Bestechung etablierte den Prozess gegen den Bankier Sternberg, dem die Verführung Minderjähriger vorgeworfen wurde und der daraufhin Polizei und Zeugen Bestechungsgelder anbot. Die Angst vor dem unheilvollen Einfluss der Massen verdeutlicht Hett vor allem mit Verweis auf den angeblichen Ritualmord in Konitz, der bereits durch zwei neuere Monografien gut erschlossen ist. 2 Das letzte Kapitel des Buches argumentiert schließlich, dass sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg das deutsche Gerichtswesen gegenüber den 1890er-Jahren stark gewandelt habe. Insbesondere den hier herausgestellten Fall des Hauptmanns von Köpenick sieht Hett als einen Wendepunkt in der Gerichtsgeschichte. Bei den Urteilen habe sich eine größere Milde etabliert, psychologische und soziale Erklärungen hätten an Gewicht gewonnen und die öffentliche Meinung an Bedeutung. Insbesondere die Wahlgewinne der SPD und des Freisinns seien für diesen Klimawechsel und die Liberalisierung verantwortlich gewesen. Man könnte auch umgekehrt argumentieren, dass auch die Wahlgewinne Ausdruck einer breiteren öffentlichen Kritik am konservativen Kurs waren.

Hetts Studie hat damit viele Vorzüge. Sie zeigt, wie die wachsende Macht der Medienöffentlichkeit zur Transformation des Justizwesens beitrug, und sie bietet einen Beitrag zur Kriminalitätsgeschichte, der Praktiken und Diskurse integriert. Ebenso vermittelt sie Erkenntnisse über das legendäre Moabiter Gericht als Ort der Sensation. Angesichts der Vorzüge seien aber auch einige Schwächen und Grenzen des Buches angedeutet. Etwas ausführlich geraten sind sicherlich die Passagen über die Anwälte, die zudem vielfach auf deren eigenen Erinnerungsschriften beruhen, wohingegen man über die Techniken der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen weniger erfährt. Ob die Veränderungen in der Justiz generell so stark waren, wie an den ausgewählten exzeptionellen Fällen belegt, hätte ein Blick auf weniger spektakuläre Prozesse zeigen können. Diskussionswürdig sind einige Einschätzungen zur Struktur der untersuchten Öffentlichkeit. Auch wenn die Berliner Zeitungen von der Auflagenzahl her, wie der Autor mehrfach betont, überwiegend linksliberal und sozialdemokratisch waren, gab es dennoch zahlreiche konservative Blätter, die gerade für die Justiz immer noch im hohen Maße handlungsleitend waren und die Selbstwahrnehmung maßgeblich prägten. Die Abschnitte über die ‚Angst vor Massen’ im Zuge der angeblichen Ritualmorde geben etwa ein Beispiel dafür, das die Auflagenhöhe alleine nicht entscheidend war, um öffentliche Handlungen zu beeinflussen. Denn im Konitzer Fall war es vor allem die auflagenschwache antisemitische Staatsbürgerzeitung, die trotz der starken liberalen Massenpresse Handlungen prägen konnte. Auch den von Hett oft zitierten Maximilian Harden wird man sicherlich nicht als „a Social Democratic sympathizer“ (S. 111) fassen können, da er trotz seiner berühmten Angriffe auf Wilhelm II. ein Monarchist war, der SPD-Positionen immer wieder attackierte. Eher gestärkt hätte Hett seine Argumentation, wenn er zumindest in Seitenblicken auf die vorliegende Literatur über Verbrechen und Öffentlichkeit in anderen Metropolen wie Paris, London oder New York herangezogen hätte, auch wenn die Justizsysteme dort andere sind. Insgesamt hat Hett aber zweifelsohne eine lesenswerte Studie zur Sozial- und Kulturgeschichte des Gerichtsraumes vorgelegt.

Anmerkungen:
1 Curtis, L. Perry, Jack the Ripper and the London Press, London 2002; Müller, Philipp, Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs, Frankfurt 2005.
2 Nonn, Christoph, Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002; Walser Smith, Helmut, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002.