B. Guthmueller, W. Kuehlmann: Renaissancekultur

Titel
Renaissancekultur und antike Mythologie.


Herausgeber
Guthmueller, Bodo; Kuehlmann, Wilhelm
Reihe
Frühe Neuzeit 50
Erschienen
Tübingen 1999: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 86,00
Gersmann, Gudrun

Der fachlichen Ausrichtung nach werden im anzuzeigenden Sammelband vor allem die verschiedenen Literaturwissenschaften und die Kunstgeschichte beruecksichtigt. Die (mit Ausnahme Juliusz Domanskis) ausschliesslich deutschen Autoren behandeln in ihren Arbeiten ein Panorama, das seine Schwerpunkte in Italien, Frankreich, England und dem Reich hat. Wenngleich nicht davon auszugehen ist, dass derartige Sammelbaende - ausser von den Rezensenten - besonders haeufig in Gaenze gelesen werden, die Frage nach dem 'Gesamtbild', das ein solches Werk insgesamt von seinem Gegenstand zeichnet, also kaum dem ueblichen Leserzugriff entspricht, so sollen die vielfaeltigen Erkenntnisse des Bandes unter einigen Gesichtspunkten gebuendelt werden. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den zahlreichen Details der einzelnen Studien muss ohnehin zukuenftiger Spezialliteratur ueberlassen bleiben. Vorweg sei gesagt, dass die reichen Anregungen, die der Band ganz entsprechend seiner Ankuendigung (VI) bietet, fuer weitere Forschungen bietet, hier auf keinen Fall umfassend referiert werden koennen.

Eine kaum mehr ueberraschende, wenngleich fundamentale Einsicht in die Prozesse humanistischer Antikenrezeption ist, dass es sich dabei immer um eine produktive Anverwandlung des antiken Bildungsgutes an aktuelle Beduerfnisse, Vorgaben und Kontexte handelte. Dass dies auch und besonders fuer den Bereich der antiken Mythologie galt, zeigen viele Beitraege nachdruecklich. An einem Fallbeispiel behandelt dies Anne Neuschaefer im Rahmen zeitgenoessischer Dichtungsvorstellungen ('Poema festoso' und 'lucido specchio'. Die Gestaltung des Amphytrion-Mythos in der italienischen Renaissance-Komoedie am Beispiel von Lodovico Dolces Marito (1545)). Dazu passt der Nachweis Bodo Guthmuellers ("Mythologisches Gedicht und Ritterroman im fruehen Cinquecento"), dass und wie die Gattung mythologischer Dichtung und damit die Darbietung der Mythologie insgesamt literarischen Modetendenzen unterworfen war. Trotz eines partiellen Aufschwungs und trotz Adaption von Thematiken und Erzaehltechniken des beliebten Ritterromans (65) war der epischen Umsetzung mythologischer Stoffe um 1500 keine Zukunft beschieden. Ebenfalls klar sichtbar wird die aktualisierende und polemisch instrumentalisierte Aneignung antiker Mythologien in Thomas Stauders Artikel ueber "Italienische Mythenburleske des 16. Jahrhunderts: Girolamo Amelonghis Gigantea und ihre Fortsetzungen". Wenngleich in verschiedenen Kontexten, ging es in den drei untersuchten Texten hintergruendig um "antitraditionalistische" Tendenzen (78), die der Autor in die Vorgeschichte der 'Querelle des Anciens et des Modernes' integrieren will (82).

Auf einen zweiten, grundsaetzlichen Aspekt weist ebenfalls Stauder hin (75): Wird ein antiker Mythos neu erzaehlt, so handelt es sich dabei immer um eine mit einer "gewisse[n] Willkuer" vorgenommene "Auswahl und Kompilation" der aus der Antike ueberlieferten Details. Auch fuer die politische Nutzbarmachung der Mythologie laesst sich diese allgemeine Formulierung anwenden, was besonders der Aufsatz von Elisabeth Klecker ueber "Auster und Abspurge. Ein 'Habsburg'-Mythos des 16. Jahrhunderts" verdeutlicht. Er kann zeigen, dass und wie zum Zweck politischer Panegyrik eine eigene Mythologie geradezu konstruiert wird, die sich allenfalls in Teilen an antike Quellen anlehnt, etliche Aspekte, Figuren und Handlungen aber selbst erfindet. Dieser haeufig freie, bisweilen quellenharmonisierende und immer auch konstruierende Umgang mit den ueberlieferten antiken Mythologien verdient, als wichtiger Grundzug vieler Ausfuehrungen in diesem Sammelband hervorgehoben zu werden. Unmittelbar anschliessen laesst sich hier eine weitere Beobachtung: die Wichtigkeit 'sekundaerer' Ueberlieferung der Mythologien durch spaetantike und/oder mittelalterliche Texte sowie durch volkstuemliche Bearbeitungen und Zusammenstellungen. An etlichen Beispielen wird dieser bekannte Sachverhalt nochmals verdeutlicht, so in Ulrich Rehms Deutung von Botticellis 'Primavera'. Das Bildprogramm des haeufig diskutierten Gemaeldes ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund des spaetantiken Textes "De nuptiis Philologiae et Mercurii" des Martianus Capella und einer anschliessenden mittelalterlichen Tradition. Daneben wird die Rolle Boccaccios als Vermittler antiker Mythologien auch hier betont (269, vergleiche dazu Domanski, 9 f.). Es ist also keinesfalls das Textcorpus der 'klassischen Antike' als solches, das einfach aufgenommen und - im hiesigen Fall - malerisch umgesetzt wird (279). Dass es dichtungstheoretisch nicht mehr unumstrittenes Ideal war, in mythologischen Dichtungen einfach 'der Antike zu folgen', verdeutlicht auch der Beitrag Neuschaefers (49 f.).

Die vielleicht entschiedenste konstruktiv-selektive Aneignung antiker Mythologie ist deren "Entpaganisierung" (Neuschaefer, 44) im Rahmen verschiedener christianisierender Deutungen. Einen etwas bruchstueckhaften Abriss dieses Vorgangs seit der Spaetantike bietet der eroeffnende Beitrag von Juliusz Domanski, der sich besonders der Bienenmetaphorik zuwendet, die er als wichtiges Sinnbild eben dieser selektiv-kritischen Aufnahme der antiken Goetter- und Heroengeschichten aufweist. Grundsaetzlich sei eine kompromisslose Verwerfung gar nicht moeglich und wohl kaum beabsichtigt gewesen (7 f.). Statt dessen habe immer das Prinzip der "Umarbeitung" geherrscht. An dieser Stelle ist auch das Problem der allegorisierenden Umdeutung anzuschliessen, das im besprochenen Sammelband allerdings nur en passant eingefuehrt wird. Zumindest angesprochen wird es in Wolfgang G. Muellers hilfreicher Abhandlung ueber "Das Exemplum in der englischen Renaissance", die sich besonders an Shakespeare orientiert. Ausgehend von theoretischen Stellungsnahmen zum (mythologischen) Exemplum zeigt er, wie verschieden sich die Autoren zur Allegorisierung der Mythologie stellten.

Kuehlmanns Beitrag "Pagane Froemmigkeit und lyrische Erlebnisfiktion. Praesenz und Funktion des antiken Mythos in Petrus Lotichius' Secundus Elegie Ad lundam" zeigt demgegenueber freilich, dass auch unter den Vorzeichen eines konfessionalisierten Weltbildes eine christliche Ausdeutung mythologischer Versatzstuecke "verweigert" werden konnte (155). Fuer einige Dichter war - wenngleich Lotichius Text eine Ausnahme darstellt (162) - die (poetische) Deutung der Welt mittels heidnisch-mythologischer Vorstellungen offenbar geeigneter, persoenliche Froemmigkeit (in womoeglich haeretisch-magischer Form) zu spiegeln und eine Projektionsflaeche inneren Erlebens abzugeben. Auch Heidi Marek zeigt in "Die Figur des Ixion in den Erreurs amoureuses von Pontus de Tyard", wie eine mythologische Person in der Artikulation eines lyrischen Ichs integriert wird.

Deutlich wird im Rahmen des Sammelbandes mehrfach, dass mythologische Referenzen haeufig moralisch-didaktische Zwecke verfolgten (besonders bei Mueller), und zwar in affirmativer wie kontrastiver Funktion. Affirmative Instrumentalisierungen finden sich nicht zuletzt in der politischen Indienstnahme mythischer Konstruktionen, wie neben dem Beitrag Susanne Tichys ("Die Funktion der antiken Mythologie in der mumaria") besonders Uwe Baumann ("Politik, Propaganda und Mythologie. Zur politischen Mythologiendeutung in der englischen Renaissance") und Katia Murano ("Apoll und Marsyas. Ein Mythos als Exemplum des Zivilisationsprozesses") zeigen. Baumann fuehrt (neben dem Hinweis auf die Antikenbegeisterung der Renaissance) zwei Gruende fuer die ausgepraegte politische Deutung der Mythologie an: zum einen habe dies der zeitgenoessischen Mythentheorie entsprochen, die die Mythen selbst als grundsaetzlich politisch verstanden habe (Bacon). Weitergehend ist seine zweite These: Die Parallelisierung der Fuersten mit unsterblichen Goettern und Heroen habe die Herrschaftstheologie der 'king's two bodies' versinnbildlicht und breiteren Kreisen nahegebracht.

Walther Ludwig ("Klassische Mythologie in Druckersigneten und Dichterwappen") und Gunther Schweickhart ("Mythologische Elemente in Kuenstlerportraets") schliesslich behandeln nichttextliche Rezeptionen antiker Mythologien. Beide sind zurueckhaltend, was die Praesenz antiker Mythen in ihren Quellen angeht. Deutlich wird jedoch, gerade auch durch Ludwigs Beschaeftigung mit der vernachlaessigten Gattung des "Wappengedichts" (134 ff.), dass derartige Symbole einerseits gut Aufschluss ueber das humanistische Selbstverstaendnis, andererseits die sozialen Ansprueche und Absichten ihrer Traeger geben koennen.

Ein wenig schade ist, dass die Frage nach der Rezeption mythologischer Konzepte auch im vorliegenden Sammelband nicht weiter thematisiert wird. Einzig Tichy aeussert sich hierzu. Ihr Beitrag koennte von daher Anregung sein, diesem Problem weiterhin nachzugehen. Sie belegt an ihrem Beispiel venezianischer Festlichkeiten, dass selbst bei sozial hochgestellten Personen nicht von einer umfassenden Entzifferung mythologischer Darbietungen auszugehen ist. Entsprechend erfreuten sich auch diese Personen am blossen Spektakel der Auffuehrungen.

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