F. Moeller: Buergerliche Herrschaft in Augsburg

Titel
Bürgerliche Herrschaft in Augsburg 1790-1880.


Autor(en)
Möller, Frank
Reihe
Stadt und Bürgertum 9
Erschienen
München 1998: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
474 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hettling, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Das Ding an sich ist nicht erkennbar. Diese kantische Erkenntnis gilt auch für Historiker. Aus der Unendlichkeit des vergangenen Geschehens greifen wir, geleitet durch unser Erkenntnisinteresse, bestimmte Gegenstände heraus und untersuchen sie auf eine spezifische Art und Weise. Vergangenheit "an sich" ist nicht erkennbar - selbst Ranke hat sein Postulat, zu zeigen, wie es gewesen sei, mit seinem berühmten "eigentlich" unter den Vorbehalt des auch Imaginären gestellt.

Dennoch aber existiert, als Mittel alles wissenschaftlichen Erkennens, der "Begriff" - zu verwenden als "logischer Schraubstock", wie Max Weber es genannt hat, um Erkenntnisse unabhängig vom Erkenntnisinteresse, unabhängig von leitenden Wertideen, überprüfbar zu machen.

Mit Hilfe einer exakten Begrifflichkeit kann man sich dann auch dem deutschen Bürger des 19. Jahrhunderts als lohnendem Forschungsobjekt zuwenden. In den letzten Jahren gab es in der Bundesrepublik zwei große Forschungsprojekte zur Geschichte des Bürgertums, einen Bielefelder Sonderforschungsbereich und eine Frankfurter Gruppe unter der Leitung von Lothar Gall. Letztere untersuchte eine Reihe von Städten mit einer jeweils analogen und vergleichbaren Fragestellung. Aus diesem Forschungsrahmen entstanden nicht nur einige Sammelbände, sondern erscheinen inzwischen auch die einzelnen Monographien. Diese untersuchen jeweils das Bürgertum in einer Stadt vom späten 18. Jahrhundert bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein. Für die Auswahl der Städte orientierte man sich an einer Stadttypologie und unterschied fünf verschiedene Typen. Frank Möller untersucht in seiner Arbeit Augsburg, die Stadt steht hier für das Beispiel einer frühindustriellen Gewerbestadt. Zugleich war sie auch, was sich im Verlauf der Untersuchung als mindestens ebenso prägend für das 19. Jahrhundert erweist, Reichsstadt gewesen.

Jede der Monographien, die innerhalb der Frankfurter Gruppe entstanden ist, arbeitet einerseits mit dem gemeinsamen konzeptionellen Vorgriff - Bürgertum wird analytisch gefaßt als rechtlich konstituiertes Stadtbürgertum - und verbindet damit jeweils eine zusätzliche individuelle Forschungsfrage. Für Möller ist es in seiner Studie die Frage nach der "bürgerlichen Herrschaft" und ihrer Ausprägung in Augsburg vom Ausgang des patrizischen Zeitalters im späten 18. Jahrhundert bis zur entwickelten Industriegesellschaft im neugeschaffenen Deutschen Reich nach 1871.

Seine Studie orientiert sich an vier Leitfragen: erstens, wie konstituierte sich das Bürgertum, welches Gewicht hatten rechtliche, soziale, ökonomische, kulturelle Faktoren für diesen Prozeß in Augsburg? Zweitens fragt er nach der Verfaßtheit der bürgerlichen Herrschaft, welche Gestalt hatte das politische Ordnungssystem in der Stadt? Drittens wird die "Elite" in Augsburg untersucht, er unterscheidet die stadtbürgerliche, die politische, die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Führungsschicht (welche jedoch alle als "bürgerlich" bezeichnet werden). Viertens schließlich fragt er nach den kulturellen Leitbildern des Augsburger Bürgertums. An welchen Werten und Normen orientierte es sich bei der Ausübung der - von Möller so genannten - Herrschaft in der Stadt?

Der Begriff "Herrschaft" bleibt bei ihm jedoch relativ unpräzise; so werden die Beherrschten kaum thematisiert, es scheint fast, als habe es sie in der Stadt nicht gegeben. Auch wird die städtische Selbstverwaltung als bürgerliche Herrschaft bezeichnet - was entweder impliziert, daß Nichtbürgerliche beherrscht würden, oder es erforderte, Selbstverwaltung als spezifische Ausprägungsform von Herrschaft theoretisch zu entwickeln.

Die Arbeit untersucht das Bürgertum einer Stadt, zur Präzisierung des Problems wäre es hilfreich gewesen, den Geltungsbereich des Ordnungsrahmens Stadt mehr auszuleuchten. Überzeugend und beeindruckend sind etwa die Angaben zur Entwicklung des städtischen Bürgerrechts. Daß im 18. Jahrhundert die große Mehrheit der männlichen volljährigen Einwohner das Bürgerrecht besaß (und dennoch das Patriziat "herrschte"), während im 19. Jahrhundert trotz der bürgerlichen Selbstverwaltung der Anteil der Bürgerrechtsinhaber sank, sagt vielleicht auch etwas aus über die abnehmende Bedeutung des politischen Gestaltungsverbandes Stadt (gegenüber dem Territorialstaat). Dieses Manko beeinträchtigt die Ergebnisse der Studie nicht, derartige Erörterungen hätte jedoch zu einer noch komplexeren Problemsicht führen können.

Die Arbeit präsentiert eine Fülle an empirischem Material und zeichnet detailliert den Wandel der Sozialstruktur und der politischen Topographie in der Stadt nach. Am Ende des 18. Jahrhunderts dominierte in Augsburg, wie in vielen Städten des Reiches, noch das alte Patriziat, abgesichert durch rechtliche Privilegien und durch die Macht der Gewohnheit. In und nach der napoleonischen Zeit, befördert durch die Mediatisierungspolitik Bayerns, kam der Kaufmannschaft in der Stadt die Führungsrolle zu. Die Topoi der Selbstverwaltung und der bürgerlichen Gleichberechtigung waren auch Kampfbegriffe des kaufmännischen Wirtschaftsbürgertums gegen die traditionelle städtische Vorherrschaft des Patriziats. In den 1850er Jahren dann wurde die Stadt vom politischen Liberalismus regiert. Schließlich bedeutete die scharfe innenpolitische Zäsur der späten 70er Jahre auch in Augsburg einen fundamentalen Bruch - sie markierte das Ende der liberalen Dominanz.

In der Arbeit tritt der Wechsel vom Patriziat zur Kaufmannschaft als politisch, sozial und kulturell dominierender Sozialformation in der Stadt in den zwei Jahrzehnten nach 1800 deutlich hervor. Die Ausbildung des parteipolitischen Liberalismus und seine Gestaltung der städtischen Politik nach 1848 bedeutet jedoch keinen einschneidenden Elitentransfer: nach wie vor dominierten die wirtschaftsbürgerlichen Kreise die städtische Politik. Das ist ein eindringliches und bemerkenswertes Ergebnis dieser Arbeit. Sie zeigt die Kontinuität und durchaus flexible Anpassungsbereitschaft des Augsburger Wirtschaftsbürgertums im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Von Beginn an bis in die ersten Jahre des Deutschen Kaiserreiches nach 1871 gestaltete sie die städtische Lebenswelt, prägte sie das städtische Leben sozial, kulturell und politisch. Die anderen bürgerlichen Teilformationen, die staatliche Beamtenschaft, das Bildungsbürgertum, die Freien Berufe, aber auch die Reste des Patriziats (die in Bayern im 19. Jahrhundert meist ein Refugium in der staatlichen Verwaltung fanden) traten demgegenüber zurück oder verbanden sich mit dieser Teilgruppe, welche das Erscheinungsbild des Bürgertums in Augsburg bestimmte.

Möller zeigt überdies überzeugend, daß es auch nach der Jahrhundertmitte, nach dem politischen Desaster des Liberalismus von 1848 und trotz des rapiden industriellen Wachstums seit den 1850er Jahren eine kontinuierlich bestehende Vorherrschaft der klassischen bürgerlich-liberalen Ordnungsvorstellungen gab. Ohne es explizit zu benennen schildert er damit Augsburg als Beispiel, das zeigt, daß für das dortige Bürgertum nicht 1848 ein "Epochenjahr" darstellte, sondern viel ausgeprägter die Zäsur der späten 70er Jahre war (in der Liberalismusforschung sind das seit 20 Jahren die konkurrierenden Interpretationsmuster für den Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Lothar Gall und Wolfgang J. Mommsen haben die jeweiligen Positionen damals pointiert formuliert).

Im Nebeneinander der verschiedenen Arbeiten, die innerhalb des Frankfurter Bürgertumsprojekts entstanden sind, wird inzwischen eine große Vielfalt von realen Ausgestaltungen von "Bürgertum" in den jeweils untersuchten Städten deutlich. Hierin liegt sicher ein bemerkenswerter Ertrag des Gesamtprojektes. Doch könnte dieser Ertrag noch größer sein, und noch deutlicher hervortreten, wenn nicht eine konzeptionelle Schwäche unverkennbar wäre. Die Skepsis, um nicht zu sagen Aversion, gegen eine analytische Begrifflichkeit, wie sie hier und auch in anderen Arbeiten formuliert wird, begrenzt an nicht wenigen Stellen die Aussagemöglichkeiten der Studie. Analytische Begrifflichkeit bedeutet keineswegs eine normative Aufladung, wie hier in der Einleitung unterstellt wird. Wenn Bürgertum statt dessen, wie es hier heißt, als "soziale Einheit begriffen" werden soll, wird ja zugestanden, daß diese Einheit wiederum nur "begrifflich" konstituiert wird.

Denn unverkennbar arbeitet auch das Frankfurter Bürgertumsprojekt mit einem idealtypischen Modell von Bürgertum und Bürgerlichkeit - dem von Lothar Gall so konzipierten und konstruierten Entwurf der "klassenlosen Bürgergesellschaft". Das verkörperte einerseits ein zeitgenössisches Selbstverständnis, das läßt sich aber auch als analytisches Erklärungsmodell fruchtbar nützen. In klassischer Weberscher Manier zeigen eigentlich die Einzelstudien des Frankfurter Projektes, welche Verkettung von Umständen jeweils dazu geführt hat, daß in Augsburg (oder Köln, oder Frankfurt - oder wo auch immer) bestimmte Abweichungen von diesem nur idealtypisch in Reinform existierenden Bürgertum bestanden. Den Idealtyp zu konstruieren (wie es ja mit dem Modell der "klassenlosen Bürgergesellschaft" gemacht wurde), und dann die Bedingungen zu analysieren, die jeweils die in der vergangenen Realität bestanden habenden Abweichungen hiervon hervorgebracht haben - das hätte den Städtevergleich analytisch stringenter und vergleichend fruchtbarer machen können. Statt dessen wird in den Studien leider zu oft versucht, die Unterschiede hinter der oft mehr beschworenen als empirisch belegten "sozialen Einheit" des Bürgertums verschwinden zu lassen. Ließen sich die einzelnen Arbeiten explizit auf dieses, ihnen implizit zu Grunde liegendes idealtypische Interpretationsmuster ein, wären die Ergebnisse noch überzeugender und transparenter (und mancher Unterschied zu anderen Varianten der Bürgertumsforschung geringer).

Manche Unstimmigkeiten ließen sich dann auch vermeiden. Denn das manchmal zwanghafte Bemühen, die Einheit eines real existierenden Bürgertum zeigen zu wollen, führt oft dazu, allzu leicht die Grenzen zwischen Leitbildern, Idealtypen und "Realgeschichte" zu verwischen. Ebenso werden ja durchaus deutliche Trennlinien zwischen den bürgerlichen Teilgruppen in der Stadt herausgearbeitet - die Organisierung in unterschiedlichen Vereinen, das kaum vorhandene Konnubium zwischen wirtschaftsbürgerlichen Fraktionen etwa. Das alles zeigt, das es verfehlt - zumindest übertrieben - wäre, von einer "sozialen Einheit" des Bürgertums zu sprechen ("Bürgertum" hier verstanden als Gesamtheit der durch das Bürgerrecht rechtlich abgegrenzten Einwohnerschaft).

Den Bürger an sich hat es im 19. Jahrhundert nicht gegeben. Jedoch bestand eine idealtypisch bestimmbare Zielutopie der bürgerlichen Gesellschaft. Die "klassenlose Bürgergesellschaft" war zeitweise ein wirkungsmächtiges Leitbild dieses Gesellschaftsentwurfs. Doch ohne einen analytischen "Leitfaden", um Kant abzuwandeln, verbliebe jede Bürgertumsstudie eine "eigentlich bloß empirisch abgefaßte Historie". Frank Möller hat zwar durchaus die "rühmliche Umständlichkeit" vermieden, welche Kant der Historiographie attestiert hat. Seine Studie ist jedoch mehr von analytischer Begrifflichkeit durchdrungen, als ihm selber lieb zu sein scheint. Das expliziter zu machen und begrifflich genauer zu definieren und zu trennen, hätte die gute Arbeit besser gemacht.

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