U. Bröckling u.a. (Hgg.): Glossar der Gegenwart

Cover
Titel
Glossar der Gegenwart.


Herausgeber
Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Maibaum, Institut für Soziologie, Universität Oldenbourg

Vor vier Jahren hat sich das soziologische Autoren- und Herausgeberteam Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke bereits mit dem Buch „Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen“ um eine längst überfällige deutschsprachige Rezeption Michel Foucaults – außerhalb der Philosophie – verdient gemacht. Jetzt bieten sie einen nicht minder anspruchsvollen Beitrag zur Kritik an gegenwärtigen Schlüsselbegriffen (post-)moderner Lebensentwürfe an.

Insgesamt werden 44 Begriffe vor dem Hintergrund der Gouvernementalitäts-Diskussion analysiert. Mithilfe von Foucaults Werkzeugkiste werden jene vielfältigen Denkweisen und Praktiken unter die Lupe genommen, deren Resultat – aber nicht ihr Ausgangspunkt – die Gesellschaft ist. Dabei sind die Begriffe weder genuin in der Gegenwart entstanden noch bezeichnen sie nur gegenwärtige Zustände und/oder Prozesse. Sie verweisen auf diskontinuierliche Semantiken innerhalb unterschiedlichster Diskurse, der in dem Glossar nachgespürt werden soll. Der durch das Buch gesponnene rote Faden setzt eine zentrale Annahme Michel Foucaults bei den LeserInnen voraus: Macht und Wissen bedingen sich gegenseitig und beanspruchen Wahrheit. Allerdings denkt Foucault nicht von einem Herrschaftszentrum aus, vielmehr glaubt er an die mannigfachen Verästelungen von Machtverhältnissen innerhalb der gesamten Gesellschaft. Daher sollen die Stichworte des Glossars der Dechiffrierung gesellschaftlicher Praktiken, der „Macht von unten“ dienen. Sie richten sich „auf das den Praktiken immanente Wissen, auf die Systematisierung und »Rationalisierung« einer Pragmatik der Führung“ (S. 10). Das Glossar versucht im Weiteren gegenwärtig inflationär gebrauchten Begriffen ihre scheinbare Beliebigkeit abzuringen, indem es sich auf die Darlegung der produktiven Seite von Macht konzentriert und ihrer Ambivalenz nachspürt. „Nicht warum oder wozu, sondern wie heißt die Leitfrage.“ (S. 12, Hervorhebungen im Original) unter der die Schlüsselbegriffe analysiert werden.

Ins Blickfeld geraten konjunktivische Handlungsanleitungen und Zielvorgaben, die zu Imperativen mutieren, wie etwa der Beitrag zu dem Begriff „Lebenslanges Lernen“ zeigt. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind die nötige Voraussetzung eines scheinbar libertären Programms. Hier wird auf Kosten des Selbstregierens sich aus einer Unmündigkeit befreit, indem das Subjekt Kompetenzen zur Wissensverwaltung erwirbt. Der Anspruch auf allumfassend gebildete BürgerInnen wird innerhalb des Konzeptes Lebenslanges Lernen verkürzt auf einen hochflexiblen Menschen, der dem ewigen Wechsel von Wissensbeständen standhalten muss. Für neoliberale Gouvernementalität bedeutet der Erwerb von Schlüsselqualifikationen nicht nur die Möglichkeit sich anzupassen, sondern es ist gleichsam ein Zwang: „Freiheit von der Forderung, lernen zu müssen, gibt es erst mit dem Tod.“ (S. 157)

An diesem Konzept lässt sich auch die Vernetzung mit strategischen Begriffen wie beispielsweise Flexibilisierung und Kreativität aufzeigen. Die beiden Stichworte benennen nötige Eigenschaften, um sich stetig zu verändern und anzupassen. Ihre Fallstricke werden den sich selbst modellierenden und zu optimierenden Individuen zugeworfen, indem entstandene Handlungsroutinen ständig durchbrochen, infrage gestellt werden. Wer sich nicht auf dieses Spiel einlässt, bereits erlernte Schemata über Bord zu werfen und keine Bereitschaft zeigt ständig “nach neuen Zahlen zu malen“, der trägt selbst Schuld an seinen Ängsten, verzerrten Selbstbildern und Misserfolgen.

Die bisher besprochenen Begriffe bezogen sich auf die Ebene der Selbstmodellierung von Subjekten. Es gibt im Weiteren auch Programme, die diesen Technologien als Grundlage dienen. Begrifflich kann man sie unter Test, Evaluation und Monitoring fassen. Bereitgestellt werden Indikatoren zur Messung und Beurteilung von gesellschaftlichen Normalitäten, die zugleich Risiken darstellen. Sie beinhalten jenes Durchschnittswissen, an dem sich alle Individuen, aber auch Institutionen vergleichen und messen müssen. Evaluationen und Testverfahren produzieren Wahrheitsansprüche, indem sie mit aufklärerischem Anspruch gesellschaftliche Werte und Normen reproduzieren, aber auch spezifische Wirklichkeitsfelder voraussetzen (S. 267). Es kann sich demnach ohne eine Vorstellung von Normalität an keiner solchen gemessen werden. Anhand von pränataler Diagnostik wird deutlich, dass Testverfahren nicht nur positives bewirken oder gar Entscheidungen erleichtern.

Auch wenn ein wesentlicher Unterschied zwischen Test und Evaluation darin läge, dass Testverfahren sich auf Experimente beziehen und Evaluierungen auf tatsächliche Fähigkeiten von Probanden zurückgreifen, so bleibt beiden gemein, dass sie Kontrollstrategien implizieren. Inzwischen ist nicht mehr von Kontrolle, Überwachung oder Überprüfung die Rede, sondern von Monitoring. Dieses Stichwort benennt direkt im Anschluss an etwaige Erhebungen die Probleme, die es zu regulieren vorgibt: „Unter dem Imperativ, Fehlentwicklungen rechtzeitig zu identifizieren, wird die Gegenwart permanent mit zukünftigen Erwartungen, mit Spekulationen konfrontiert.“ (S. 168) Ein Beispiel für Monitoring stelle die Videoüberwachung dar, die mit der Selbstjustierung von Menschen permanent arbeite. Das gelingt ihr, weil immer wieder der Status quo in Frage gestellt werden kann und Selbstoptimierung ein nie zu erreichendes Ergebnis darstellt, welches aber zu wünschen wäre.

Alle Begriffe implizieren spezifische Wirklichkeitsproduktionen, die anhand von Diskursanalyse und/oder historischen und etymologischen Verweisen ihre „fraglose Plausibilität“ verlieren. Sie werden als Herrschaftstechnologien transparenter denn je.

Die Stärke des Buches liegt in diesem Aufzeigen der etlichen ambivalenten Deutungsschemata, die sich als handlungsstrukturierend erweisen. Auch wenn es nicht immer gelingt, alle Begriffe gleichermaßen sinnvoll auf historische Praktiken und Technologien im Sinne Foucaults zu untersuchen, so werden doch ihre Metamorphosen überdeutlich. Deutlich wird außerdem, dass Passivität jeglichen Optimierungsabsichten im Wege steht. Aktiv sein stellt keinen Garant für gesellschaftlichen oder persönlichen Erfolg dar, zumal auch die Art der Freiheit, die hinter dem aktiven Individuum steckt zuallererst wohl immer Unterwerfung bedeutet.

Während der Lektüre kommen einem weitere Begriffe wie etwa Freiheit, Reform oder Öffentlichkeit in den Sinn, die in dem Glossar nicht enthalten sind. Dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit in vergleichbaren Gesellschaften („Begriffe mittlerer Reichweite“) würden sie sicherlich gerecht werden, unabhängig von ihrem eher alltäglichen, politischen oder wissenschaftlichen Gebrauch. Vielleicht müsste in einem weiteren Buch auch das Stichwort Parallelgesellschaft auftauchen. Gerade in solchen Zeiten, wo „Kritik [...] selbst zum integralen Bestandteil einer gesellschaftlichen Modernisierung geworden, welche die Abweichung von der Norm propagiert - die damit selbst zur Norm wird“ (S. 14), ist es dem methodischen Zugriff und seiner Umsetzung zu verdanken, dass den LeserInnen Kritikoptionen aufgezeigt werden. Das Glossar schifft uns durch die unwegsamen Wissens-Flüsse unserer Zeit.

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