S. Conrad, J. Osterhammel: Das Kaiserreich transnational

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Titel
Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914


Herausgeber
Conrad, Sebastian; Osterhammel, Jürgen
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Alexander Nützenadel, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Dieser Sammelband macht deutlich, dass die „transnationale Geschichte“ längst aus dem Stadium der theoretischen Selbstverortung herausgewachsen ist und zentrale Probleme der deutschen Geschichte in eine neue Perspektive rückt. Gerade das Kaiserreich, welches lange Zeit als Höhepunkt und Vollendung der preußisch-deutschen Nationalgeschichte galt, steht neuerdings im Fokus transnationaler oder gar globalhistorischer Forschungen. Tatsächlich waren die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg eine Phase intensiver globaler Verflechtung, so dass sich für diese Epoche sogar die Bezeichnung „erste Globalisierung“ eingebürgert hat. Die Entgrenzung der Märkte, der sprunghafte Anstieg transkontinentaler Migration und die dramatische Verringerung „zeiträumlicher Distanz“ durch neue Kommunikationstechnologien veränderten auch die deutsche Gesellschaft nachhaltig. Dies zeigen Niels Petersons Reflektionen über „Das Kaiserreich in Prozessen ökonomischer Globalisierung“ ebenso wie Sven Beckerts globale Produktgeschichte der Baumwolle auf eindrückliche Weise. Globalisierung war jedoch, wie Michael Geyer am Beispiel Deutschlands und Japans skizziert, weit mehr als ein Projekt der europäischen Moderne. Trotz aller ideologischen Projektionen verweist Globalisierung auch im 19. Jahrhundert auf einen multizentrischen und vielfach gebrochenen Prozess, der keineswegs von Europa alleine ausging. So interpretiert Woodruff Smith die deutschen Debatten über „Lebensraum“ und „Weltpolitik“ als Versuch, „sich mit einer Welt auseinander zu setzen, in der Europa nicht mehr vollkommen dominant ist“ (S. 47).

Überdies hat unter dem Einfluss „postkolonialer“ Forschungen eine Neuinterpretation der wilhelminischen Zeit eingesetzt. Systematisch wird nun nach den Rückwirkungen kolonialer Herrschaft auf die Gesellschaft des Kaiserreichs gefragt. Dabei stehen, im Unterschied zur älteren Forschung, nicht so sehr die politischen Kolonialbewegungen im Zentrum des Interesses, sondern die vielfältigen Formen kolonialer Repräsentation – von den Kolonialausstellungen über die Produktwerbung „exotischer“ Konsumgüter bis hin zur Formierung wissenschaftlichen Disziplinen wie der Ethnologie, welche stark durch koloniale Rassendiskurse geprägt wurden. Während diese Themen durch neuere, überwiegend amerikanische Studien bereits gut erforscht sind, ist die Frage, wie sich die koloniale Herrschaft auf Rechtssystem, politische Ordnungsvorstellungen und soziale Praktiken in der „Metropole“ auswirkten, erst unzureichend geklärt. Zu Recht mahnen die Herausgeber des Sammelbandes in ihren Vorüberlegungen daher zu Vorsicht: Man dürfe die Bedeutung der vergleichsweise kurzen kolonialen Periode auf die deutsche Geschichte nicht überschätzen und vorschnell Kontinuitätslinien zur Rassen- und Vernichtungspolitik der NS-Zeit ziehen. Zugleich fordern sie einen stärker akteurszentrierten Zugang jenseits der reinen Transfer- und Perzeptionsforschung, die sich in der Vergangenheit allzu häufig auf eine „subjektlose Repräsentation von Alterität“ (S. 16) beschränkt habe.

Dieser Perspektivenwechsel wird überzeugend dargestellt: So kann Sebastian Conrad am Beispiel der Bodelschwinghschen Anstalten zeigen, wie sehr sich koloniale Zivilisierungsmission und heimische „Erziehung zur Arbeit“ wechselseitig beeinflussten. Andreas Eckert und Michael Pesek untersuchen die Praxis deutscher Kolonialbürokratie in Deutsch-Ostafrika. Da das rationale Verwaltungsprinzip der preußischen Bürokratie in den Kernregionen Afrikas schwer umzusetzen war, besaßen die Kolonialbeamten vor Ort erheblichen Handlungsspielraum, was schließlich auch zu einer Aufweichung bürokratischer Disziplin führte. Die Kolonialbeamten konstruierten ihre Tätigkeit vor Ort bewusst als Gegenentwurf zur bürokratisierten Schreibtischarbeit in Deutschland. Allerdings hatte die koloniale Erfahrung, wie Eckert und Pesek hervorheben, letztlich nur geringen Einfluss auf die Verwaltungsentwicklung im Kaiserreich. Auch Dirk van Laaks Beitrag zeigt, dass die deutschen Kolonien – im Unterschied zum britischen und französischen Imperiun – nur bedingt als „Laboratorien der [europäischen] Moderne“ dienten. Vielfach handelte es sich um ein sekundäres Experimentierfeld für solche Praktiken, die aus europäischer Sicht schon als überholt galten. Auch im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts kann, so Dieter Gosewinkel, von einem linearen Transfer von der Kolonie zur Metropole nicht die Rede sein. Das koloniale Rassenrecht prägte weder die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts von 1913 noch die späteren NS-Rassengesetze. Allerdings gab es, jenseits rassenpolitischer Intentionen durchaus Folgewirkungen, die weit über das Kaiserreich hinauswirkten, etwa was die Konstruktion des „Auslandsdeutschen“ im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht anbetrifft. Die koloniale Erfahrung wirkte somit keineswegs ungebrochen, sondern eher indirekt und auf Umwegen auf die deutsche Gesellschaft zurück.

Gab es einen Kolonialismus ohne überseeische Kolonien? Dies bejaht Phillip Ther, der mit Blick auf die polnischen Minderheiten enge Parallelen zwischen „maritimem“ und „kontinentalem“ Kolonialismus“ erkennt. Auch wenn das polnische Teilungsgebiet formal keine Kolonie war, trug die Herrschaftspraxis dort zutiefst koloniale Züge. Gerade die Polen seien in hohem Maße Gegenstand rassistischer Stereotypisierung gewesen. Ther schlägt daher vorher, das Kaiserreich nicht mehr als Nationalstaat zu interpretieren, sondern seine Selbststilisierung als „Reich“, das über viele Völker regierte, ernst zu nehmen. „Die Verzahnung und Überlagerung verschiedener Parallelgesellschaften gehört zu den strukturellen Merkmalen kontinentaleuropäischer Empires“ (S. 143). Diese Überlegungen verdienen es, weiterverfolgt zu werden. Denn das Kaiserreich war ein multiethnischer Staat, der – wie Helmut Walser Smith in seinem Beitrag deutlich macht – gerade an seinen Grenzgebieten durch multiple Identitäten, Sprachenvielfalt und religiöse Pluralität geprägt wurde.

Es ist das Verdienst des Sammelbandes, die verschiedenen Ansätze transnationaler Geschichte – von den stärker kulturwissenschaftlich geprägten „postcolonial studies“ über den historischen Vergleich bis hin zur sozialwissenschaftlichen Globalisierungsforschung – zusammen zu führen und auf eine zentrale Epoche der deutschen Geschichte anzuwenden. Erst dadurch wird das enorme Deutungspotential transnationaler Geschichtsschreibung sichtbar. Der Band setzt damit nicht nur ein wichtiges Signal für die weitere Forschung, sondern dürfte sich auch als Reader für die universitäre Lehre bewähren.

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