S. Conrad u.a. (Hgg.): Das Kaiserreich transnational

Cover
Titel
Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914


Herausgeber
Conrad, Sebastian; Osterhammel, Jürgen
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Paulmann, School of Humanities and Social Sciences, International University Bremen

Transnational ist in: Das Adjektiv lässt sich leicht einfügen und scheint allen historischen Projekten, ob sie sich nun mit nur einem einzigen Nationalstaat oder mit mehreren befassen, eine unwiderlegbare Rechtfertigung zu verleihen. Es klingt irgendwie theoretisch und methodisch abgesichert, zudem mit Gegenwartsfragen verknüpft. Das anzuzeigende Buch wird aus diesen Gründen künftig sicher häufig in Fußnoten zu finden sein, trägt es doch das richtige Schlagwort im Titel. Damit tut man dem Sammelband allerdings unrecht, denn er regt erstens zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff „transnational“ an und wendet ihn zweitens, anders als zahlreiche Deklamationen, auf konkrete Gegenstände an. Aus dem letztgenannten Grund möchte ich zum Einstieg in die Lektüre den abschließenden Beitrag von David Blackbourn empfehlen. Besser als die Einleitung der Herausgeber steckt er unter der Überschrift „Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze“ die Gegenstandsbereiche in der Geschichte des Kaiserreichs ab, die sich unter einer transnationalen Perspektive besonders fruchtbar untersuchen lassen: Handel und die Welt der Waren, Menschen in Bewegung, die Umwelt, kultureller Austausch und „deutsche“ Räume. Er betont damit, was Conrad und Osterhammel auch explizit sagen, dass der Begriff „transnational“ sich auf einen pragmatischen Ansatz bezieht und weder eine Theorie noch eine besondere Methode darstellt.

In meiner eigenwilligen Lesart lege ich den Leserinnen und Lesern sodann die Artikel von Niels P. Petersson und Michael Geyer nahe, denn beide nehmen den Nationalstaat des ausgehenden 19. Jahrhunderts ernst. Petersson geht anhand ökonomischer Prozesse eindringlich der Frage nach, welche Reichweite und Dichte wirtschaftliche Interaktionsnetze gegenüber territorialen, nationalstaatlichen Organisationsformen besaßen. Er gelangt damit zu einer Einschätzung sowohl der Bedeutung des Kaiserreichs für die Weltwirtschaft als auch der Bedeutung der Weltwirtschaft für das Kaiserreich. Geyer stellt Überlegungen zu einer vergleichenden Geschichte Deutschland und Japans im Zeitalter der ersten Globalisierung jenseits des Modernisierungs-Paradigmas an. Die beiden Nationalstaaten werden von ihm als zu erklärende Größen in eine Globalisierungsgeschichte mit ihren Vernetzungen einerseits und in eine Nationalisierungsgeschichte mit entsprechenden Positionierungen in globalen Zusammenhängen andererseits eingeordnet. Die systematischen Fragen beider Autoren lassen sich m. E. gut auf andere Gegenstandsbereiche übertragen. Ergänzend mag man Woodruff D. Smiths Auseinandersetzung mit seinen eigenen Thesen aus den 1980er-Jahren zu „Weltpolitik“ und „Lebensraum“ lesen. Sven Beckerts „Das Reich der Baumwolle. Eine globale Geschichte“ handelt hingegen nicht wirklich vom deutschen Kaiserreich und ist auffallend redundant geschrieben; schade, lassen sich doch gerade an der Geschichte einer Ware weltumspannende Mikro- und Makrogeschichte anschaulich verbinden.

Neben der Geschichte der Globalisierung bieten die so genannten „postcolonial studies“ Ansätze für eine transnationale Perspektive auf das Kaiserreich. Als Einstieg eignet sich in diesem Band gut Dirk van Laaks Aufsatz „Kolonien als »Laboratorien der Moderne«?“, obgleich er gegen Ende des Bandes abgedruckt ist und gerade weil er mit einem deutlichen Fragezeichen versehen ist. Er sollte kombiniert werden mit der Lektüre von Dieter Gosewinkels „Rückwirkungen des kolonialen Rasserechts? Deutsche Staatsangehörigkeit zwischen Rassestaat und Rechtsstaat“. Beide Aufsätze belegen für das deutsche Kaiserreich überzeugend gerade die Grenzen kolonialer Rückwirkungen auf den Aktions- und Erfahrungsraum in Europa. Vor dem Hintergrund dieser Mahnung, die Blackbourn und die Herausgeber im Vergleich zu anderen europäischen Kolonialmächten ebenfalls anklingen lassen, hebt sich umso schärfer der Bereich der Erziehung zur Arbeit ab, den Sebastian Conrad am Beispiel der Bodelschwinghschen Arbeiterkolonien der 1880er-Jahre untersucht. „Eingeborenenpolitik“ in Ostafrika und Ostwestfalen waren demnach ein Beispiel für den direkten Austausch zwischen Kolonie und Metropole. Man darf auf eine breiter belegte Ausarbeitung dieses thesenfreudigen Aufsatzes gespannt sein. Weitgehend ohne den Begriff „transnational“ kommen im kolonialen Zusammenhang die lesenswerten Aufsätze von Andreas Eckert und Michael Pesek („Bürokratische Ordnung und koloniale Praxis. Herrschaft und Verwaltung in Preußen und Afrika“), Birthe Kundrus („Weiblicher Kulturimperialismus. Die imperialistischen Frauenverbände des Kaiserreichs“), Alexander Honold („Ausstellung des Fremden – Menschen- und Völkerschau um 1900“) und Andrew Zimmermann („Ethnologie im Kaiserreich. Natur, Kultur und »Rasse« in Deutschland und seinen Kolonien“) aus, obgleich Zimmermann das Wort vor allem im letzten Satz noch programmatisch einfügen zu müssen glaubt.

Als Abschluss seien die Aufsätze von Helmut Walser Smith und Philip Ther zum Kolonialismus in Europa empfohlen. Sie wenden sich dem östlichen Rand und den dortigen Nachbarn des Kaiserreichs zu. Smith stellt drei Volksgruppen „An Preußens Rändern oder: Die Welt, die dem Nationalismus verloren ging“ vor. Der nationale Status von Preußisch-Litauern, Masuren und Kaschuben war während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fließend. Über die Beziehung von Ethnizität und Alltagsfrömmigkeit erläutert der Autor die Existenz grenzüberschreitender Loyalitäten und schildert die Entwicklung des Verhältnisses von Minderheiten an der Peripherie zur dominanten Nation im Zentrum. In anderer Weise als bei Petersson und Geyer, die parallele Nationalisierungs- und Globalisierungsprozesse beobachten, wird dabei die allgemeine Frage nach dem Wechselverhältnis von bereits vorhandenen lokalen Identitäten und einsetzenden nationalen Homogenisierungsbestrebungen gestellt. Diese Regionalstudie fügt sich ein in das Gedankenexperiment von Ther, die preußisch-deutsche Geschichte aus östlicher Perspektive einmal als Empire-Geschichte zu deuten. Dies führt zu anregenden Vergleichen zwischen maritimen und kontinentalen Imperien und zu einem Verständnis des Kaiserreichs als „Nationalitätenstaat“. Ob Gustav Freytags frühe Beschäftigung mit Polen und seine späteres Engagement im deutschen Kolonialverein als Beleg genügen, um einen Zusammenhang und eine Übertragung zwischen osteuropäischer und überseeischer Kolonialpolitik vor 1914 zu begründen, bleibt weiter zu diskutieren. Die von Ther erprobte Sichtweise öffnet jedenfalls den Zeithorizont nicht nur auf vorangegangene, sondern auch auf spätere Jahrzehnte. Der Sammelband endet aus dieser Perspektive schlüssig mit Blackbourns These, dass das deutsche Gegenstück zur Auflösung des französischen und britischen Imperiums nicht 1919, sondern 1945 in der Auflösung der deutschen Siedlungen in Ost- und Mitteleuropa zu finden ist. Wenn wir Geyers Eckpunkten des japanisch-deutschen Vergleichs folgen, liegt zwischen dem Beginn des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs allerdings eine expansive Politik, die geprägt von Ressentiments gegenüber Interdependenzen als Versuch einer „gewalttätigen Aushebelung von Transnationalität“ (S. 83) zu verstehen ist. „Transnational“ war nicht immer und überall in, es lohnt aber, verschiedene Handlungsfelder nach dieser Eigenschaft abzufragen. Dazu leitet der vorliegende Sammelband, dem zahlreiche aufmerksame LeserInnen zu wünschen sind, an.

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