A. Corbea-Hoisie u.a. (Hgg.): Umbruch im östlichen Europa

Cover
Titel
Umbruch im östlichen Europa. Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis


Herausgeber
Corbea-Hoisie, Andrei; Jaworski, Rudolf; Sommer, Monika
Reihe
Gedächtnis - Erinnerung - Identität 5
Erschienen
Innsbruck 2004: StudienVerlag
Anzahl Seiten
167 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gert Pickel, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Spätestens seit Jan Assmanns Buch zum „kulturellen Gedächtnis“1 ist die Beschäftigung mit Erinnerungspolitik und kollektiver Erinnerung als Ausgangspunkt von Identität beinahe inflationär angewachsen. Der hier vorzustellende Band, der auf einer Tagung im Jahr 2002 beruht, setzt sich insbesondere mit der Konstruktion und Veränderung kollektiver Gedächtnisse in Ost- und Ostmitteleuropa auseinander. Das Ziel ist es, einen näheren Einblick in die kollektiven Selbstverständnisse der osteuropäischen Bevölkerungen nach dem Ende des Kommunismus zu gewinnen. Dabei greifen die präsentierten Beiträge sowohl auf das hermeneutische Denken der Beschreibung des kulturellen Gedächtnisses zurück als auch auf eine an Methoden der Geschichtswissenschaft orientierte Analyse ausgewählter Primärquellen (z.B. Geschichtslehrbücher).

Ausgangspunkt war die Frage, wie sich die Identifikationsmuster der Bürger der neuen Demokratien nach dem Wegfall der kommunistischen Gemeinschaftsideologie entwickeln. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei der Nationalstaatsbildung zu. Gerade der Rückgriff auf nationale Geschichtsereignisse, Mythen, Symbole und Gedächtnisorte hat in der Zeit seit 1990 merklich zugenommen und bildet das legitimatorische Rückgrat vieler osteuropäischer Staaten. Hiermit beschäftigen sich besonders die Aufsätze von Peter Niedermüller, Rudolf Jaworski, Casaba G. Kiss und Victor Neumann.

Solche Rückgriffe sind nicht überraschend, da andere Identifikationsmöglichkeiten verlorengegangen sind. Die Ökonomien haben sich in vielen Ländern noch nicht richtig erholt, und die globale Öffnung der Märkte zeigt ihnen täglich die eigene Rückständigkeit auf. Die internationale Bedeutung der ehemaligen Ostblockstaaten ist begrenzt, militärische Gefahr wird nicht mehr verbreitet, und die Politik trudelt von einer Krise der Legitimität in die nächste. Da bleibt dem Gros der osteuropäischen Länder nur noch der Rückgriff auf ihre „glorreiche“ Geschichte (S. 94-97). Auch Umfragen zeigen, dass dies die Grundlage für den in Ost(mittel)europa zu findenden ausgeprägten Nationalstolz ist.

Oft kommt es dabei zu Umdeutungen und Beschönigungen der Geschichte, wie sie in den Beiträgen von Jan Pauer („Geschichtsdiskurse und Vergangenheitspolitik in der Tschechischen und Slowakischen Republik“), Jaroslav Strítecký („Das kollektive Gedächtnis oder die kollektive Selbstverdrängung? Zu den nationalen Identitätsmustern nach 1989“), Victor Neumann („Alternative Romanian History Textbooks as Sites of Memory“) und Eleana Mannova („Der Kampf um Geschichtslehrbücher in der Slowakei nach 1990“) anhand ausgewählter Themenfelder demonstriert werden. Die neuen Geschichtsdiskurse sind nicht immer so leicht von denen der sozialistischen Ära zu trennen, wie dies nach den lautstarken Debatten in der Öffentlichkeit zu erwarten gewesen wäre. Nicht selten bleiben bestimmte Deutungsmuster der Geschichte erhalten, zumal sie vielen Menschen während ihrer gesamten Sozialisation vermittelt wurden. Diese „socialist legacies“ sind selbst mit einem radikalen politischen, sozialen und ökonomischen Umbruch aus dem kollektiven Gedächtnis kaum zu entfernen – genauso wenig, wie es davor dem sozialistischen System gelungen war, alle Erinnerungen vollständig aus den Köpfen der Menschen auszuradieren.

Leider umfasst die „Nationalisierung“ der kollektiven Erinnerung nicht nur positive, die neuen Nationen im demokratischen Sinne mobilisierende frühere Erfahrungen, sondern reaktiviert auch weniger schöne Ideologien und Gemeinsamkeiten. Die Restauration eines teils verdeckten, teils aber auch öffentlichen Antisemitismus ist einer dieser nicht unbedingt wünschenswerten Inhalte kollektiver Erinnerungsprozesse. Das arbeitet Michael Shafir in seinem interessanten Aufsatz über „Anti-Semitism in post-communist East Central Europe: A motivational Taxonomy“ sehr präzise heraus (S. 57-80).2 Dass es sich dabei um kein neues Phänomen, sondern um ein bereits im Kommunismus vorhandenes Problem handelt, zeigt sowohl Mariana Hausleitner in ihrer Untersuchung des Nationalismus in der postkommunistischen Geschichtsschreibung als auch Karin Liebhart bei ihrer Betrachtung der Neuentwürfe nationaler Identitäten, die sie am Beispiel von Tourismus-Images analysiert.

Insgesamt bietet der Sammelband eine anregende Zusammenstellung von Aufsätzen, die einen Einblick in die Verbindung von kollektiven Erinnerungsprozessen mit Umcodierungen nationaler Identitäten geben. Lobenswert ist dabei, dass neben den üblichen Untersuchungsländern Ost(mittel)europas auch weitere, nicht so häufig betrachtete Länder einbezogen werden: Kroatien (S. 53, 64), Rumänien (S. 54, 64-68, 109-124), Bosnien-Herzegowina (S. 55), Ukraine (S. 55, 109-124) und Moldawien (S. 109-124). Ebenso interessante Länder wie Russland, Weißrussland, Estland, Lettland, Litauen, Armenien und Aserbeidschan bleiben leider unberücksichtigt. Dort wären sicher hilfreiche Kontrastfälle zu finden gewesen. Zudem wäre eine die Aufsätze verbindende Zusammenfassung nützlich gewesen, denn nicht immer ist die Verbindung zwischen den Einzelergebnissen auf den ersten Blick ersichtlich. Auch wäre ein zumindest kurzer Rekurs auf die Konzepte Karl Rohes zur politischen Kulturforschung wünschenswert gewesen.3 Ein weiteres Manko ist der wenig aussagekräftige Haupttitel „Umbruch im östlichen Europa“. Schließlich lässt sich kritisch fragen, ob der Terminus „kollektives Gedächtnis“ wirklich immer hilfreich ist – scheint es doch oft so, als würden systematische Hintergründe durch etwas Nebulöses, nicht fest Fixierbares verschleiert. Diese Unklarheiten sind durch den eher hermeneutischen Zugang zur Thematik bedingt.

Trotz der erwähnten Defizite handelt es sich bei dem Band um eine lesenswerte Lektüre für Historiker und am Bereich der Identitätsbildung interessierte Politikwissenschaftler. Den Herausgebern ist zuzustimmen: „Obwohl uns mittlerweile mehr als zehn Jahre von dem großen Umbruch 1989/1990 trennen, kann dieser schwierige Prozess der historisch-politischen Selbstfindung längst noch nicht als abgeschlossen gelten.“ (S. 7)

Anmerkungen:
1 Vgl. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.
2 Siehe auch den Themenschwerpunkt „Die Debatte um den Antisemitismus in den ostmitteleuropäischen EU-Beitrittsländern: Der Fall Ungarn“ (<http://www.zeitgeschichte-online.de/md=Antisemitismus-Osteuropa-Inhalt>).
3 Rohe, Karl, Politische Kultur und ihre Analyse, Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321-346; Ders., Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit. Konzeptionelle und typologische Überlegungen zu Gegenstand und Fragestellung Politischer-Kultur-Forschung, in: Berg-Schlosser, Dirk; Schissler, Jakob (Hgg.), Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Opladen 1987, S. 39-48.

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