Titel
Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der Criminalpsychologie im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Greve, Ylva
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Uhl, KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

Die Geschichte der Kriminologie in Deutschland erlebte in den letzten Jahren eine regelrechte Hausse.1 Die meisten der jüngst entstandenen Studien konzentrieren sich auf die Geschichte der modernen Kriminologie seit Beginn ihrer Verwissenschaftlichung und Institutionalisierung im späten 19. Jahrhundert. Die Gießener Rechtshistorikerin Ylva Greve untersucht in ihrer Dissertation über die „Entdeckung der ‚Criminalpsychologie’“ hingegen die Vorgeschichte der Kriminologie im frühen 19. Jahrhundert.

Eine Wissenschaftsdisziplin „Criminalpsychologie“ hat niemals existiert, wohl aber eine Vielzahl von philosophischen, juristischen, psychologischen, psychiatrischen und medizinischen Texten, die sich – oft explizit unter dem Schlagwort Criminalpsychologie – zwischen 1780 und 1850 mit individuellen und psychologischen Fragen des Verbrechens beschäftigten. Diese nicht institutionalisierte Criminalpsychologie sieht Greve als Vorläuferin der Kriminologie an. In diesen Texten seien „die Weichen für eine Modernisierung des Strafrechts und des Strafvollzugs gestellt“ (S. 3) worden, weil die Theorie des freien Willens nachhaltig in Frage gestellt worden sei. Mit der Ausweitung des Begriffs von psychischen Krankheiten im frühen 19. Jahrhundert sei die Untersuchung einer etwaigen Störung der Freiheit des Willens eines Straftäters von der Ausnahme zur Regel geworden. Strafrechtliche Fragen seien nun erstmals unter dem Primat des Täters, und nicht mehr demjenigen der Tat, behandelt worden.

Greves ideengeschichtliche Arbeit stellt sich das Ziel, die Entstehungsbedingungen und die eigentlichen Inhalte der Criminalpsychologie sowie ihren Einfluss auf die Strafgesetzgebung zu untersuchen. Im ersten Teil des Buches betont Greve, dass die Aufklärung mit der Abkehr vom Vergeltungsgedanken und der Durchsetzung von Milde und Humanität im Strafdenken die Entstehung der Criminalpsychologie überhaupt erst ermöglicht habe. Eine kritische Lesart der Aufklärung, wie sie Adorno oder Foucault geleistet haben, spielt bei Greves Interpretation keine Rolle. Als „Grundpfeiler der Criminalpsychologie“ (S. 29) bezeichnet Greve drei Disziplinen: die Psychologie („Erfahrungsseelenlehre“), die Psychiatrie und die Gerichtsmedizin („Gerichtliche Arzneywissenschaft“). Der Einfluss der Psychologie auf die Criminalpsychologie habe darin bestanden, psychische Auffälligkeiten von Straftätern zu sammeln und systematisch auszuwerten. Der Psychiatrie sei ein erweiterter Begriff des Wahnsinns geschuldet, was letztlich dazu geführt habe, dass in einer wachsenden Zahl von Fällen das ganze Leben eines Täters zur Erklärung der Tat herangezogen wurde, um vermeintlich verborgene Krankheiten feststellen zu können. Die Gerichtsmedizin schließlich vertrat diese neuen Thesen und Methoden vor Gericht. Mit dem Anstieg der Diagnostizierung von „zweifelhaften Gemütszuständen“, der die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte, zogen die Richter zunehmend Gerichtsmediziner als Gutachter hinzu. Den daraus hervorgehenden Kompetenzstreit zwischen Justiz und Gerichtsmedizin über die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten behandelt Greve detailliert im umfangreichen zweiten Teil des Buches.

Neben der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit hätten zwei weitere Grundthemen die Criminalpsychologie konstituiert: die Frage nach Verbrechensursachen und diejenigen nach den Strafzwecken. Die Beschäftigung mit den Ursachen von Verbrechen habe in das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Determiniertheit des Willens geführt, wobei im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein genereller Zweifel am Postulat des freien Willens, das noch das Strafdenken des 18. Jahrhunderts bestimmt habe, an Verbreitung gewonnen habe. Schließlich habe sich mit der Entdeckung einer Vielzahl neuer Geisteskrankheiten und psychischer Ausnahmezustände die Vorstellung eines engen Zusammenhangs zwischen Verbrechen und Krankheit durchgesetzt. Dieses Denken habe dazu geführt, dass nicht mehr in der Regel von der Zurechnungsfähigkeit eines Täters ausgegangen worden sei, sondern dass im Gegenteil nun grundsätzlich die Zurechnungsfähigkeit von Angeklagten in Zweifel gezogen worden sei. Die Relativierung der Idee der Willensfreiheit führte zu einer weitreichenden „Psychologisierung der Strafrechtstheorie“ (S. 222). Zeitgleich mit der Ausdehnung von Fällen der Unzurechnungsfähigkeit diskutierten Criminalpsychologen, inwiefern „Grade der Zurechnung“ zu unterscheiden seien. Greve hält überzeugend fest, dass bei Befürwortern wie Gegnern dieser Theorie die Existenz von Zuständen zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit allgemein anerkannt wurde. Deshalb habe sich die grundsätzliche Überzeugung, Strafmilderung sei in diesen zahlreichen Fällen angemessen, durchgesetzt. Die Criminalpsychologen hätten sich das Ziel gesetzt, die Ursachen der Verbrechensentstehung zu erforschen, „um individuell gerechte Strafen verhängen und Wege der Verbrechensvermeidung weisen zu können“ (S. 133). Folglich sei neben die vormodernen Strafzwecke der Vergeltung und Abschreckung nun die Besserung als eine neue Methode zur Verbrechensprävention gestellt worden. Insbesondere Strafrechtstheoretiker, die das Postulat der Willensfreiheit ablehnten, hätten sich für den Besserungszweck stark gemacht.

Der sehr kurze dritte Teil des Buches behandelt abschließend die tatsächlichen Auswirkungen des criminalpsychologischen Denkens auf die Strafgesetzgebung. Als wichtigsten Erfolg der Criminalpsychologie sieht es Greve an, dass in den meisten der neu entstandenen Strafgesetzbücher der deutschen Staaten im frühen 19. Jahrhundert die Frage der Zurechnung ausgiebig besprochen wurde. Die Auffassung eines graduellen Übergangs von geistiger Gesundheit zur Unzurechnungsfähigkeit habe es Richtern häufig ermöglicht, auf eine verminderte Zurechnungsfähigkeit als einem Strafminderungsgrund zu erkennen.

Greve hat leider darauf verzichtet, ihre Untersuchung über die Anfänge der Wissenschaft vom Verbrechen/Verbrecher innerhalb der Historischen Kriminalitätsforschung 2 zu positionieren. Zudem fehlt jeglicher Bezug zu jüngeren Forschungsarbeiten zur Geschichte der Kriminologie. Weder werden die Monografien Beckers und Uhls rezipiert, die sich zum Teil auf die gleichen Quellen beziehen, noch die wichtige Arbeit von Maren Lorenz, die sich der Untersuchung von Gerichtsmedizin und Psychiatrie im 17. und 18. Jahrhundert widmet.3 Das von Greve proklamierte „Forschungsdefizit“ (S. 4) bestand folglich nicht in dem von ihr behauptetem Ausmaß. Die im Klappentext in den Vordergrund gerückte These, der „tiefgreifende Wandel im Strafrecht des 19. Jahrhunderts“ sei unter dem Schlagwort „von der Tat zum Täter“ zu fassen, ist bei weitem keine neue, sondern eine lang und kontrovers diskutierte. Große Abschnitte des Textes bleiben dann auch dem Deskriptiven verhaftet; eine redundante Schilderungsweise erschwert gerade die Lektüre dieser Teile. Stärken entfaltet das Buch dagegen in den Kapiteln über den Begriff der Zurechnungsfähigkeit, der hier in der Tat erstmals sehr umfangreich im Detail behandelt wird. Ein Manko dieses alles in allem überzeugenden Abschnitts bleibt allerdings, dass Täterinnen nicht zu existieren scheinen. Der historische Gegenstand legt dagegen eine Analyse unter Einbeziehung der Kategorie Geschlecht nahe, da die Diskussion um die Zurechnungsfähigkeit im frühen 19. Jahrhundert zu einem nicht unerheblichen Teil um als „weiblich“ definierte Delikte wie Kindsmord, Brandstiftung und „Schwangerschaftsgelüste“ kreiste. Insgesamt hätte eine mutige Konzentration und Reduzierung auf die Frage der Zurechnung Greves Arbeit gut getan.

Anmerkungen:
1 Wetzell, Richard F., Inventing the Criminal. A History of German Criminology (Studies in Legal History), Chapel Hill 2000; Becker, Peter, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 176), Göttingen 2002; Uhl, Karsten, Das „verbrecherische Weib“. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945 (Geschlecht – Kultur – Gesellschaft 11), Münster 2003; Galassi, Silviana, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung (Pallas Athene 9), Stuttgart 2004; Müller, Christian, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform 1871-1933 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 160), Göttingen 2004.
2 Spätestens seit Erscheinen der ersten Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung kann dieser Forschungszweig als etabliert gelten, vgl. Schwerhoff, Gerd, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen 3), Tübingen 1999.
3 Zu Becker und Uhl, vgl. Anm. 1; Lorenz, Maren, Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999.