B. Nolte: Merkantilismus und Staatsräson in Preußen

Titel
Merkantilismus und Staatsräson in Preußen. Absicht, Praxis und Wirkung der Zollpolitik Friedrichs II. in Schlesien und in westfälischen Provinzen (1740-1786)


Autor(en)
Nolte, Burkhard
Reihe
Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 10
Erschienen
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Boldorf, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Mannheim

Nolte untersucht die Zollpolitik zweier preußischer Gebiete – mit einer eindeutigen Priorität auf Schlesien, die dadurch zu rechtfertigen ist, dass zu diesem Territorium viel weniger Publikationen als zu Westfalen erschienen sind. Obgleich der Titel dies nicht erkennen lässt, behandelt die Arbeit ausschließlich das Textilgewerbe und den Handel mit seinen Produkten – Flachsgarn und Leinen, Wolle, Tuche und Baumwollgewebe. Daher steht auch keineswegs Gesamtschlesien im Blickpunkt, sondern nur die textilgewerblich geprägten Gebiete. Analog dazu bezieht sich der unbestimmte Verweis „westfälische Provinzen“ auf die Grafschaften Mark und Ravensberg.

Zu Recht bemerkt Nolte einleitend, dass viele Details der merkantilistischen Politik im 18. Jahrhundert nicht als befriedigend erforscht gelten können. Folgt man diesem primären Erkenntnisinteresse der Arbeit, erfährt man allerlei Wissenswertes über verschiedene Aspekte der Zollpolitik. Die akribische Quellenanalyse deckt auf, wie der Politikbereich in ein System rivalisierender Interessen eingebettet war. Die Positionen der Gegner verschiedener Zollmaßnahmen werden erläutert und die Klagen der davon jeweils betroffenen Kaufmannsgruppen zurechtgerückt. Weil sich die Zollpolitik hinsichtlich einzelner Textilprodukte unterschied, entstanden Spannungen zwischen verschiedenen Kaufmannsgruppen (z.B. die Breslauer Kaufmannschaft gegen den Gebirgshandelsstand als Organisation der Leinenexporteure). Des Weiteren wird der Blick für die Feinheiten der Handelshemmnisse durch Unterscheidung in tarifäre und nichttarifäre Barrieren geschärft. Auf die verschiedenen Textilprodukte bezogen werden die Auswirkungen von Importverboten nach Phasen differenziert geschildert, aber auch die Wege dargestellt, wie man sich der Abgaben entledigen konnte, z.B. durch Schmuggel oder Ausweichen auf alternative Handelsrouten. In dieser Hinsicht ist einer zentralen These der Studie, dass die lokalen Beamten (Agenten) hinsichtlich des Vollzugs der Zollvorschriften der königlichen Regierung (Prinzipal) überlegen waren, völlig zuzustimmen.

Der Vergleich der west- und ostpreußischen Gebiete belegt das Konkurrenzverhältnis zwischen den preußischen Provinzen im friderizianischen Zeitalter. Hierbei spielte die Zollpolitik sicherlich eine ausschlaggebende Rolle, war es doch das Ziel der königlichen Politik, die preußischen Kernprovinzen gegen auswärtige Baumwollfabrikate zu schützen. Diese Prioritätensetzung beraubte den schlesischen Baumwollsektor in einem frühen Entwicklungsstadium eines lukrativen Absatzmarktes. Das dortige Baumwollgewerbe gewann erst in den 1790er-Jahren an Gewicht, was sich trotz eines anhaltenden Schmuggels mit der Aufhebung des Importverbots im Jahr 1788 in Verbindung bringen lässt (S. 250). Für die längerfristige Wirtschaftsbetrachtung erscheinen die Zäsuren mit den Regentschaftsdaten Friedrichs II. allerdings schlecht gewählt. Die wirtschaftlichen Umbruchphasen liegen außerhalb dieses eng abgesteckten zeitlichen Rahmens, der einer Logik politischer Zäsuren folgt.

Neben der Darstellung der Zollpolitik als wesentlichem Ausschnitt der merkantilistischen Politik verfolgt Nolte größere Ziele: Die Gewerbelandschaften sollen „in ihrer ökonomischen Reaktion auf zollpolitische Eingriffe in weitem Sinne betrachtet“ (S. 2) werden. Hiermit verbindet der Autor die Hoffnung, dass über die Zollpolitik wesentliche Aspekte der staatlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik zu erschließen seien. Um den besonderen Stellenwert der Zollpolitik zu untermauern, wagt sich Nolte auf das Feld der Institutionenökonomie vor und bettet seine Arbeit mit einem zweiseitigen, später kaum aufgegriffenen Reflektionsteil in die wirtschaftshistorische Forschung ein (S. 6f.). Eines seiner grundlegenden Missverständnisse ergibt sich aus der Annahme, dass „es die Institutionen sind, die die Höhe der Transaktions- und Produktionskosten bestimmen“. Daraus glaubt Nolte ableiten zu können, dass „der Herrscher […] die ‚Spielregeln’, die die Nutzung des Marktes festlegen (hier: die zoll- und akzisepolitischen Strukturen)“, liefere. Diese Annahme verleitet ihn zu dem Schluss, dass er über die Erforschung der herrschaftlichen Zollfestsetzungen den wesentlichen Teil der marktrelevanten Transaktionskosten erfassen könne. Die Verfügungsrechte über die Waren, deren Austausch betrachtet werden soll, lagen aber keinesfalls allein in der Hand des Herrschers, sondern viel mehr in der von Produzenten, Dorfhändlern, städtischen Kaufleuten usw. Es ist für die vorindustrielle Wirtschaftsordnung geradezu charakteristisch, dass sich die Verfügungsrechte auf viele verschiedene Träger auffächerten. Daraus folgt: Eine institutionenökonomische Analyse muss das Bündel jener Rechte analysieren, d.h. wie die verschiedenen Institutionen auf die Transaktionskosten, die den Preis der Ware bestimmten, einwirkten.

Weitere schwerwiegende Einwände gegen seinen Ansatz bringt Nolte selbst vor. Zu Recht weist er auf die Bemerkung Karl Heinrich Kaufholds hin, dass sich die „List des Marktes“ sich im 18. Jahrhundert immer wieder gegen die staatliche Zollpolitik durchsetzen konnte. Da sich Nolte der Institutionenökonomik verpflichtet weiß, hätte allein eine kurze theoretische Reflexion über die Zusammensetzung der Transaktionskosten genügt. Diese bestanden beim Warenexport zum größten Teil aus Transportkosten, die auf dem Weg vom Produzenten zum Endverbraucher entstanden. Zölle und andere Tarife machten die Ware teuer, soweit ist Nolte zu folgen, dennoch hatte dies kaum etwas mit der schlesischen Zollpolitik zu tun. Für die hauptsächlich nach Übersee exportierte Leinwand gab es auf der am meisten benutzten Handelsroute allein entlang der Elbe über 28 Zollstellen. Beim Zwischenhandel über London verteuere sich die Ware durch weitere Abgaben, die nur teilweise als Drawback zurückerstattet wurden. Der größte Teil der Transportkosten entstand also nicht innerhalb der Provinz Schlesien, sondern außerhalb. Eine Analyse der Kosten der verschiedenen Strecken für das quantitativ bedeutendste Exportgut Leinen bleibt die Arbeit leider schuldig (S. 181ff.).

Zutreffenderweise stellt Nolte selbst in seinem Schlusskapitel fest, „dass die Bedeutung von Zöllen und Eingriffen für die Dynamik der Gewerbeentwicklung in der Vorbereitungs- und Frühphase der Industrialisierung gering war“ (S. 263). Zu Recht verweist er darauf, dass die Unterschiede im Entwicklungstempo verschiedener Wirtschaftsregionen aus der Anwendung institutioneller Instrumente resultierten. Da seine Untersuchung hinsichtlich der Zollpolitik negativ verlief, sucht er nach anderen Arrangements und benennt diese als „institutionelle Infrastruktur“ (S. 263). Es schließen sich einige zum Teil merkwürdige ökonomische Schlüsse an, die über die Zollpolitik hinausreichen, z.B. dass die formale Selbstständigkeit der Heimgewerbetreibenden zu einem Kostengefüge führte, welches es profitabler erscheinen ließ, an traditioneller Technik festzuhalten. Im Gegensatz dazu scheint das Argument stichhaltig, dass es im schlesischen Fall vor allem die städtischen Kaufleute waren, die kein genuines Interesse an der Verbesserung der Warenqualität hatten.

Obwohl die wirtschaftstheoretischen Teile weniger gelungen erscheinen, ist zweifellos ein großes Verdienst der Studie die Erschließung neuer Archivalien, insbesondere zur schlesischen Geschichte, die der Autor vor allem im staatlichen Archiv Wroclaw (Breslau) sowie in seinen Unterabteilungen in Jelenia Góra (Hirschberg) und Zielona Góra (Grünberg) ausfindig machte. Anhand der Fallbeispiele trägt das Buch daher eine Fülle quellengestützter Informationen über Preußens merkantilistische Politik in zwei gewerblichen Kernregionen des Königreichs zusammen. Dadurch wird zum einen die Vielfältigkeit der wirtschaftlichen Maßnahmen deutlich, zum anderen die starken Beharrungs- und Gestaltungskräfte auf unteren Verwaltungs- und Akteursebenen. Merkantilistische Politik sollte daher als eine Summe unter dem Einfluss der Staatsräson erlassener Einzelmaßnahmen verstanden werden, die keineswegs einer zielgerichteten Wirtschaftspolitik entsprangen, so dass dieser Terminus für das 18. Jahrhundert ohnehin vorsichtig verwendet werden sollte. Dieses Forschungsergebnis fügt sich in neuere Erkenntnisse ein, welche die Vorstellung einer stringent-zentralistischen Regierungsweise im Zeitalter des Absolutismus zurückweisen.

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