H. Duranton u.a. (Hgg.): Gazettes et Information

Titel
Gazettes et Information politique sous l'Ancien Régime. Avec une Introduction de Keith M. Baker


Herausgeber
Duranton, Johnson; Rétat, Pierre
Reihe
Coll. Lire le Dix-huitième Siècle
Anzahl Seiten
443 S.
Preis
FF 150.00
Cornel A. Zwierlein, Institut für Neuere Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Der reiche Sammelband vereint 37, die wichtigsten europäischen Länder betreffenden Beiträge eines vom 5. bis zum 7. Juni 1997 in Lyon (Maison Rhône-Alpes des Sciences de l'Homme) abgehaltenen internationalen Kolloquiums zur Titelthematik. Als Veranstalter und Herausgeber firmieren die in Lyon und Grenoble angesiedelte Forschergruppe "LIRE" [=Littérature Idéologies Représentations] des CNRS [= Centre National de Recherche scientifique] sowie das Institut Français de Presse (Paris II).

In einer Grobeinteilung unter die drei Kategorien "Information" - "Pouvoirs" - "Discours" beschäftigen sich die einzelnen Beiträge mit den unterschiedlichen Aspekten der Pressegeschichte Europas des 17. und 18. Jahrhunderts, also v.a. mit der Geschichte der "Gazette de France", des "Mercure de France" und ihrer Pendants ("Gazette d'Amsterdam - de Cologne - des Deux-Ponts - de Leyde - des Pays-Bas - de Rotterdam - d'Utrecht"). Unter "Information" werden Forschungen zu einschlägigen Periodika (Renaudots "Gazette" oder dem "Diario ordinario" in Rom), zu deren Erscheinungsformen, inhaltlichen Quellen, zum Status und zur Arbeitsweise der "Gazetiers" - der frühen Journalisten - und zum "Informationsmarkt" (in Rom, in Venedig) vorgestellt.

Unter "Pouvoirs" sind Beiträge zu finden, die sich einerseits mit Fragen des Zugriffs der Zensur auf die Medien, andererseits aber vor allem mit der Bedeutung der frühneuzeitlichen Medien für die "öffentliche Meinung", insbesondere während der späten Aufklärung und der Zeit der Französischen Revolution, auseinandersetzen; von mehreren Beiträgern wird dabei der in Kleve erscheinende "Courrier du Bas-Rhin" ausgewertet. Unter "Discours" sind Studien zu einzelnen Inhalten der untersuchten Periodika versammelt. Neben einer Untersuchung Hans-Jürgen Lüsebrinks zur Berichterstattung über das die Leibniz'sche Theodizee-Weltordnung erschütternde Erdbeben von Lissabon sowie Analysen zum Umgang mit Anekdoten und Affären-Berichten findet man auch einige Beiträge, die auf inhaltlicher und formaler Ebene die zeitgenössische Darstellung politischer Ereignisse in den Blick nehmen, etwa in bezug auf die Nennungen der Informationsquellen, die Kohärenz der Daten, die Mittel der sprachlichen Inszenierung etc.

Die große Anzahl der Beiträge, die jedem Autor durchschnittlich zehn Seiten zur Verfügung stellt, macht schon deutlich, dass es sich weniger um die Präsentation eines neuen Ansatzes handelt als vielmehr um einen umfassend angelegten Überblick zum aktuellen Stand eines in Deutschland praktisch nur von Dixhuitiémistes (Lüsebrink, Reichardt et al.) beachteten, seit 30 Jahren florierenden Zweiges der französischen und amerikanischen historischen Forschung zur Pressegeschichte des Ancien Régime. In Frankreich hat die v.a. um Duranton, Rétat und Jean Sgard zentrierte, sich der Tradition der "Histoire totale" Braudels verpflichtet fühlende Forschergruppe ihre Ergebnisses nach zehnjähriger EDV-Erfassung von Struktur und Inhalten ausgewählter Jahrgänge der wichtigsten Periodika des 18. Jahrhunderts erstmals in dem (von Rétat und Sgard herausgegebenen) Band "Presse et histoire au 18ème siècle: l'année 1734, Paris 1978" vorgestellt. Gehörten diese Forscher damals zu den Pionieren der Computer- und Datenbank-Benutzung in den historischen Wissenschaften, und äußerte sich dies in einer Vielzahl von Statistiken, Graphiken, Listen, Zählungen, so zeigte sich die angloamerikanische wie auch die italienische Forschung etwas zurückhaltender gegenüber dem Nährwert dieser notwendig von den Inhalten abstrahierenden Datenverarbeitungsergebnisse (vgl. Furio Diaz: Le stanchezze di Clio. In: Rivista storica italiana 84 (1972), S. 683-745 und als Gesamtüberblick sehr gut Brendan Dooley: From Literary Criticism to Systems Theory in Early Modern Journalism History. In: Journal of the History of Ideas 51,3 (1990), S. 461-483).

Der jetzige Sammelband zeigt schon auf den ersten Blick, dass die Diskussion in diesem Sektor der Pressegeschichte inzwischen deutlich zu einem Rückzug der Statistikgläubigkeit, wie sie Folge der "Histoire sérielle" der zweiten Annales-Schule war, geführt hat: Nur noch wenige Beiträge schmücken sich extensiv mit Graphiken, und wenn doch (wie es etwa in der Darstellung der Informationsursprungsorte von Renaudots "Gazette" 1647-1663 in Stéphane Haffemeyers Beitrag der Fall ist, S. 30f.), dann sind sie plakativ-informativ und nicht verwirrend. Es zeigt sich hier wie andernorts, dass die Benutzung von Datenbanken nicht mehr als Wunderwerkzeug, sondern als zwar unverzichtbares, das Denken aber nicht ersetzendes Hilfsmittel fungiert.

Wenn bei der Fülle der Beiträge hier notwendig selektiv vorgegangen werden muss, so sollen als weiterführend sowohl in methodischer Hinsicht wie in bezug auf den Interessenschwerpunkt hervorgehoben werden die Artikel von Mario Infelise zum Informationsmarkt in Venedig im 17. Jahrhundert (S.117-128), von Brendan Dooley zum römischen Informationsnetz des 17. Jh. (S.129-136), von João Luís Lisboa zum Status des "Gazetiers" in Portugal Anfang des 18.Jhs. (S.77-86) und von Otto S. Lankhorst zur den ersten holländischen "Courants" (S. 213-219): Die genannten Arbeiten tragen zur Abkehr von einer Presseforschung bei, die sich vor allem im deutschen Sprachraum einerseits stets auf das aufklärerische und revolutionäre 18. Jahrhundert und andererseits auf die Erforschung gedruckter Periodika beschränkte. Die Erforschung der per Hand geschriebenen "Gazettes" steckt dagegen nach wie vor, auch aufgrund der unbequemeren Quellenlage, in den Kinderschuhen.

Erst mit der Erforschung dieser speziellen "Zeytungen", "Tijdinge", "nouvelles [à la main]" und "avvisi", deren Austausch und Vertrieb sich in Europa schon lange vor dem 17. und 18. Jahrhundert in Koevolution mit den Poststrecken etabliert hatte, ihrer "Redakteure" und Kopisten sowie der Verbindung zwischen handschriftlicher und gedruckter Produktion wird man der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung gerecht werden können. Nur so wird man sich vor allem endlich vom Faszinosum der Habermas'schen Thesen zur "Öffentlichkeit" der englischen und französischen Kaffeehäuser des 18. Jhs. befreien können, die zwar sehr stimulierend gewirkt haben, deren erkenntnisförderndes Potential aufgrund der ihnen inhärenten Teleologie in Richtung auf die Entwicklung einer Demokratie modernen Zuschnitts gerade für das "Ancien Régime" aber erschöpft sein dürfte, will man nicht weiter die "Noch nicht"- oder "Gerade schon"-Geschichtsschreibung produzieren und sich den Blick auf zeitgenössisch dominantere Phänomene verstellen lassen. - Dies sei am Rande vermerkt angesichts des "Habermas-Comebacks", das aufgrund der erst 1989 erfolgten Übersetzung ins Amerikanische des "Strukturwandels der Öffentlichkeit" (vgl. Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse. In: Geschichte und Gesellschaft 25, 1 (1999), S. 5-32), derzeit im Schwange ist. Die französische Geschichtsforschung ist zwar weniger durch die Habermasrezeption geprägt (ein Rekurs auf Habermas erfolgt im besprochenen Sammelband nur in den Beiträgen von Olivier Ferret (S. 152) und Jack R. Censer (S.294)), doch verwehrt die Fixierung auf das 17. und 18. Jahrhundert auch hier den Blick auf lange Entwicklungslinien. Das "Ancien Régime" des vorliegenden Sammelbandes beginnt mit dem 17. Jahrhundert, und hier meist erst unter Louis XIV, 30 Beiträge behandeln ausschließlich das 18. Jh. Verknüpfungen der Pressegeschichte mit der Erforschung der nicht-periodischen Flugschriften des 16. Jahrhunderts - sei es der Flugschriften der Reformationszeit in Deutschland oder sei es der "pamphlets" der "Ligue" in Frankreich - fehlen wie stets.

Abgesehen von dieser Kritik leisten sicherlich etwa die Beiträge von Ute van Runset und Matthias Beermann zur preußischen Presse- bzw. "Gazette-Politik" interessante Einblicke, ähnlich wie auch fast alle Beiträge der dritten Sektion "Discours" wichtige Beobachtungen zu den Verfahren sprachlicher und struktureller Diskursivierung des Zeitgeschehens als Wahrheit (Anne-Marie Mercier-Faivre) bzw. im Spannungsfeld zwischen faktualer und fiktionaler Narration (Yannik Séité, Chantal Thomas, René Nohr, Denis Reynaud) mitteilen. Im übrigen bietet der relativ erschwingliche, recht sorgfältig, leider aber ohne Register redigierte Sammelband mit seiner Fülle von Beiträgen und Themen einen sehr guten Überblick über den status quo der wichtigsten Forschungsschwerpunkte der amerikanischen und europäischen Pressegeschichtsforschung zum 17. und 18. Jahrhundert.

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