J. Gaffney (Hg.): French Presidential and Legislative Elections 2002

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Titel
The French Presidential and Legislative Elections of 2002.


Herausgeber
Gaffney, John
Erschienen
Aldershot 2004: Ashgate
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
£49.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yves Bizeul, Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock

Die französischen Präsidentenwahlen 2002 haben weltweit für Aufsehen und Aufregung gesorgt. Beim ersten Wahlgang erhielt der Kandidat des rechtpopulistischen Front National Jean-Marie Le Pen einen größeren Stimmenanteil (16,9%) als der Kandidat der PS, der Premierminister Lionel Jospin (16,2%). Le Pen trat dann bei der Stichwahl gegen den Staatspräsidenten Jacques Chirac an. Erneut warf Vichy seinen langen Schatten über Frankreich. Nach dem Schock in der Öffentlichkeit und dem großen Entsetzen im In- und Ausland kam es unter dem aus der französischen Revolution stammenden Motto „La République en danger“ zu einer „republikanischen“ Mobilmachung der französischen Demokraten aller politischen Couleurs und zu massiven Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus. Chirac gewann letztendlich die Wahlen mit einem Rekordergebnis von 82,2 Prozent der Stimmen. Wie Alistair Cole zu Recht betont, war dies ein Quasi-Referendum, allerdings kein Referendum für Chirac, sondern für die Republik.

Der von John Gaffney herausgegebene Sammelband „The French Presidential and Legislative Elections of 2002“ ist diesen überraschenden und eigentlich atypischen Wahlen gewidmet, wobei die Parlamentswahlen, die unmittelbar danach stattfanden, auch Gegenstand der Betrachtungen sind. Der Frankreichexperte Gaffney lehrt an der Aston Universität und ist Autor mehrerer Monografien und Sammelbände zur französischen Politik, insbesondere zum präsidentiellen Regierungssystem Frankreichs. In einer Art allgemeinen Einführung ordnet er die Wahlen 2002 in den Gesamtkontext der V. Republik ein. Sie werden dann durch David S. Bell, Alistair Cole und Colette Ysmal tiefgründig analysiert. Mit großer Akribie stellen sie die unmittelbare Vorgeschichte (die Kohabitation), den Vorgang und die Ergebnisse der Wahlen dar. Teilaspekte dieses Ereignisses werden in den Beiträgen von Raymond Kuhn und Irène Hill zum Einfluss der Medien und in den Aufsätzen von Steven Griggs und Ben Clift zu den jeweiligen Kampagnen Chiracs und Jospins erörtert. Catherine Fieschi und Florence Faucher beschäftigen sich mit zwei Parteien, die nicht zur früheren quadrille bipolaire gehören und beim Wahlkampf dazu beigetragen haben, die Karten neu zu mischen: der Front National und die Grünen. Auch einzelne politische Issues werden untersucht: die Debatten um die gewünschte Wirtschaftspolitik werden von David Howarth, die Rolle der Frauen bzw. die Auswirkung der Parität auf die Wahlen von Hilary Footitt und Karen Bird analysiert. Der Beitrag von Helen Drake befasst sich mit der Bedeutung des Themas Europa für die Wahlentscheidung. Zwei Aufsätze von Joseph Szarka und Nick Hewlett liefern abschließend allgemeine Reflexionen zur Transformation des französischen politischen Systems und zur „Demokratiekrise“ bzw. Politikverdrossenheit. Die von Nathalie Collomb-Robert entworfene Chronologie der politischen Ereignisse zwischen Januar und Juni 2002 und ein kurzer Index runden den Band ab. Darstellungen der einzelnen AutorInnen sowie ihrer jeweiligen Forschungstätigkeiten sucht man dagegen vergeblich.

Das Buch zeugt erneut von der Vitalität und der hohen Qualität der britischen Forschung zur französischen Politik: Von den 17 AutorInnen lehren 13 an britischen Universitäten. Der Beitrag der französischen Forschung bleibt auf die Aufsätze von Colette Ysmal und Florence Faucher, beide vom Pariser CEVIPOF, beschränkt. Aus den Fußnoten wird klar – Bibliografien fehlen hier leider –, dass die AutorInnen den heutigen Forschungsstand zu den einzelnen behandelten Fragen gut kennen. Allerdings findet hier das Buch von Olivier Duhamel und Jean-Noël Jeanneney „Présidentielles, les surprises de l’histoire. 1965-1995“ (Paris 2002) keine Erwähnung und auch die deutsche politische Frankreichforschung bleibt völlig unberücksichtigt. Vor allem die Arbeiten Marieluise Christadlers, Joachim Schilds und Michael Minkenbergs zum FN und Claudia Hangens zu den Grünen werden nicht rezipiert. Dies gilt auch für die Betrachtungen Thomas Gschmends und Dirk Leuffens zur Rolle der Kohabitation bei den Wahlen 2002 oder für die in der Zeitschrift „Lendemains. Études comparées sur la France“ (Tübingen) erschienenen Analysen dieser Wahlen.

Es werden viele Gründe für die Wahlniederlage des sozialdemokratischen Kandidaten Lionel Jospin, l’homme au destin brisé (Le Nouvel Observateur), beim ersten Wahlgang angeführt: das falsche Timing seiner Wahlkampagne – Jospin versuchte gleich beim ersten Wahlgang, die Mitte für sich zu gewinnen und nicht, wie üblich, seine linke Klientel zu bedienen; die fast kampflose Übernahme einer von Chirac diktierten Agenda, in der die Frage nach der Inneren Sicherheit eine zentrale Stellung einnahm sowie die ungeschickte kritische Äußerung Jospins zum Alter Chiracs und sein vergeblicher Versuch, die eigene Vergangenheit als Trotzkist zu verschleiern neben seiner erstaunlichen Absage an den Sozialismus – „Mein Projekt ist nicht sozialistisch“. Außerdem wird die Fragmentierung der Linken und Extrem-Linken thematisiert – nicht weniger als 16 linke Kandidaten stellten sich zur Wahl, wobei der Gefährlichste für Jospin Jean-Pierre Chevènement war. Des Weiteren: die Erosion von Jospins Image infolge seiner langjährigen Tätigkeit als Premierminister und einer spannungsvollen Kohabitation; die Kohabitation selbst, die einer ungewollten großen Koalition aller demokratischen Parteien gleichkam und zum Verschwinden einer demokratischen Opposition führte, was wiederum die Extremen begünstigte. Als weitere Gründe werden genannt: die Durchführung einer Politik, die die Privilegien mancher Wählergruppen beschnitt (so diejenigen der Ärzte) und – noch wichtiger – zu einer Vertiefung der sozialen Kluft zwischen Arm und Reich führte sowie die Enttäuschung der linken Wähler – es gelang Jospin nur 32 Prozent der Wähler, die sich einer linken Partei nahe fühlen, und 50 Prozent der PS-Sympathisanten für sich zu gewinnen. Die Modernisierung der Wirtschaft unter Jospin wurde übrigens, wie im Buch richtig angemerkt wird, selbst durch soziale Maßnahmen wie die Einführung der 35-Stundenwoche weitergetrieben. Denn sie führte letztendlich zu mehr Flexibilität in den Großunternehmen. Wie die AutorInnen mehrerer Beiträge zu Recht bemerken, ist es Jospin jedoch nicht gelungen, seine durchaus vorhandenen ökonomischen Erfolge, insbesondere im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, ins richtige Licht zu rücken. Vielmehr wurde er von zahlreichen Linken als Verräter an der „Sache“ betrachtet und infolgedessen angefeindet. Dies umso mehr als Jospin im Gegensatz zu Tony Blair bei der Parlamentswahl 1997 nicht als Erneuerer der Linken aufgetreten war. Die Enttäuschung und Verbitterung seitens der linken Wähler erklärt die Erfolge der zahlreichen kleinen linken Parteien – vor allem der beiden trotzkistischen Parteien – und der grünen Partei. Die PS und die KPF dagegen, die zur regierenden gauche plurielle gehörten – ein Regenbogenbündnis aus Sozialdemokraten, Kommunisten, Grünen sowie Kleinparteien der linken Mitte –, wurden beide von ihrer früheren Wählerschaft abgestraft. Auf den Kandidaten der KPF entfielen nur 3,37 Prozent der Stimmen. Viele linke Wähler wollten einer Regierung, die mit einer traditionellen linken Rhetorik eine eher liberale Wirtschaftspolitik durchführte, auch aufgrund dieser Unstimmigkeit und des damit verbundenen Glaubwürdigkeitsverlusts zumindest im ersten Wahlgang einen Denkzettel verpassen. Vor allem die jungen Wähler zwischen 18 und 25 haben sich entweder ihrer Stimme enthalten oder haben für links- bzw. rechtsextreme Parteien gestimmt.

Auch die Rolle der Medien bei den Wahlen wird im Sammelband gut ausgearbeitet. Trotz seiner großen Medienpräsenz in Rundfunk und Fernsehen ist es Jospin nicht gelungen, die Wähler zu überzeugen. Aufgrund seines in den Medien immer wieder betonten Mangels an Charisma erschien er vielen zwar als guter Premierminister, nicht jedoch als geeigneter zukünftiger Staatspräsident. Es ist ihm nicht gelungen, hinreichend präsidentielles Pathos und präsidentielle Ausstrahlung zu vermitteln. Chirac konnte dagegen die Aufmerksamkeit der Medien auf sich lenken und das Thema Innere Sicherheit ungehindert zum Hauptstreitpunkt des Wahlkampfs machen. Obschon er als „Superlügner“ in der satirischen Sendung „Les Guignols de l’info“ auftrat, erwies er sich auch aufgrund der menschlichen Wärme, die er ausstrahlen kann, als medienwirksamer. Sein niedriges Wahlergebnis im ersten Wahlgang zeigt jedoch, dass auch er in der Öffentlichkeit keineswegs unumstritten war. Nichtsdestotrotz wurde er letztendlich triumphal wieder gewählt. Die Unterstützung durch die Presse bei der Stichwahl war so gewaltig, dass er sich sogar erlauben konnte, – übrigens gegen den Rat des Leiters seiner eigenen Wahlkampfmannschaft, Antoine Rufenacht, und auch dessen Stellvertreter Patrick Stefani – das übliche Kandidatenduell vor der Endrunde der Präsidentschaftswahl abzusagen.

Die Analyse der Wahlen 2002 ist gelungen. Es gehört allerdings zu den problematischen Aspekten eines Sammelbands, dass Wiederholungen sich kaum vermeiden lassen. So findet man ähnliche Auflistungen der Gründe für die Niederlage Jospins in verschiedenen Beiträgen. Außerdem kann man sich die Frage stellen, ob das Thema „parité“ mit gleich zwei Aufsätzen nicht überbewertet wird, zumal es bei den Wahlen 2002 in der breiten Öffentlichkeit keine besondere Rolle gespielt hat. Dafür hätte man sich zu den damals besonders wichtigen Issues Innere Sicherheit und Immigration einzelne Untersuchungen gewünscht. Eine breitere Einbeziehung der Ergebnisse der Populismusforschung hätte außerdem einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten können, inwiefern die Kohabitation den Aufstieg rechtspopulistischer Tendenzen begünstigte. Immerhin hat sich die Zahl der Wähler von rechtspopulistischen Kandidaten in Frankreich zwischen 1995 und 2002 um rund 800.000 erhöht. Ein Vergleich mit den österreichischen Wahlen 1999, als die Haider-Partei FPÖ zweitstärkste politische Kraft wurde, wäre hier angebracht gewesen.

Bedauerlicher noch ist die fast vollständige Abwesenheit von Betrachtungen zur politischen Kultur. Dabei hat diese bei der Entscheidung der Wähler in verschiedenen Hinsichten eine Rolle gespielt. Jospin wurde in den Medien zwar als seriöser und integrer Politiker dargestellt, seine Herkunft aus einer streng kalvinistischen, katholikenfeindlichen Familie war für ihn jedoch ein Handikap, um als zukünftiger Präsident der Republik überzeugen zu können. Das Bild des Protestanten als ernster, aber strenger und glanzloser Zeitgenosse ist in Frankreich auch in den Medien weit verbreitet.

Außerdem hat das Amt des französischen Staatspräsidenten eine quasi-königliche Aura, die man in Frankreich eher mit dem Katholizismus als mit dem Protestantismus assoziiert. Man erfährt auch im Sammelband zu wenig über die Transformation der politischen Kultur der Linken. Die Folgen des Aufstiegs der Antiglobalisierungsbewegung auf die Wahlen bleiben unterbelichtet.

Dabei stellt sich für die PS die Frage, wie sie sich gegenüber dieser außerparlamentarischen Bewegung zu positionieren hat, die für eine Zersplitterung der Linken sorgt. Der Aufsatz von Florence Faucher zur Entwicklungsgeschichte der französischen Grünen ist wichtig, kann jedoch allein diesen Mangel nicht beheben. Die Analysen des Wahlverhaltens, der Issues und selbst der Veränderung des politischen Systems samt dem Parteiensystem werden meist ohne eine hinreichende theoretische Fundierung geführt. Weder die Ökonomische Theorie der Politik bzw. das Medianwählermodell noch die Milieu- und Cleavage-Theorien werden hier angewandt oder genug berücksichtigt.

Dennoch ist der Sammelband wichtig für denjenigen, der die Wahlen 2002 verstehen will. Cole und Szarka interpretieren sie als eine Etappe zur stärkeren Präsidentialisierung des französischen politischen Systems. Selbst die Verkürzung der Amtszeit des Staatspräsidenten auf fünf Jahre habe dazu beigetragen, da dadurch die nächsten Parlamentswahlen 2007 im Schatten der Präsidentenwahlen stattfinden werden. Der Halbkönig ist demzufolge weniger nackt, als Claus Leggewie in seinem Buch über Mitterrand noch behaupten konnte.

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