Titel
Home Fires Burning. Food, Politics, and Everyday Life in World War I Berlin


Autor(en)
Davis, Belinda J.
Erschienen
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
$24.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Lindenberger, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Hauptstadt und Industriemetropole Berlin eignete sich schon immer besonders gut für eine Politik- und Alltagsgeschichte integrierende Betrachtungsweise. Das Neben-, Mit- und Gegeneinander von Reichsregierung, Verbands- und Parteipolitik, Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung, kultureller Elite und moderner Freizeitindustrie brachte ein regelrecht "überdeterminiertes" Soziotop hervor, ein Laboratorium der modernen Gesellschaft und ihrer Pathologien, dessen historiographische Möglichkeiten bei weitem noch nicht ausgereizt sind.

Für die Zeit des späten Kaiserreichs hat Belinda J. Davis, Historikerin an der Rutgers University in New Brunswick, New Jersey, mit ihrer Studie über den Zusammenhang von sozialem Protest, Nahrungsmittelkonsum und Geschlecht in der politischen Öffentlichkeit während des Ersten Weltkriegs die Ergiebigkeit dieser Geschichtslandschaft für komplexe Fragestellungen anhand einer besonders interessanten Problematik herausgearbeitet. Innovativ erscheint mir dabei vor allem das Vorgehen, den Blick "von oben" und den "von unten" entlang der Wechselwirkung zwischen den Diskursen der "grossen Politik" und der Geschlechterpolitik zu untersuchen. Das vermittelnde Glied zwischen diesen beiden Polen der Darstellung sind die während des Krieges der Rationierung unterliegenden Hauptnahrungsmittel und deren symbolische Bedeutung für die verschiedenen in der hauptstädtischen Öffentlichkeit repräsentierten Klassenidentitäten: Mehl, Brot und Kuchen, Butter, Eintopf mit oder ohne Fleischeinlage, schliesslich Kohlrüben, Ersatz und Surrogate - um jedes dieser der Zuteilung durch Lebensmittelmarken unterliegenden Nahrungsmittel rankten sich hitzige Debatten, in denen soziale Gruppen erbittert um Gerechtigkeit und die Rechtfertigung ihrer Ansprüche auf einen bestimmten Ernährungsstandard stritten, und in diesen Debatten nahmen Frauen als diejenigen, die in der städtischen Öffentlichkeit die Mehrheit der Konsumentinnen bildeten, sowohl als Gegenstand, aber auch als Sprecherinnen eine besonders exponierte Stellung ein.

Entlang der zeitlichen Abfolge, in der ein Grundnahrungsmittel nach dem anderen knapp bzw. auf dem Schwarzmarkt unerschwinglich wurde, folgt Davis den Debatten in den Tageszeitungen, aber auch innerhalb der Bürokratie und Regierung, und nicht zuletzt auch unter den Frauen und Männern auf der Strasse. In diesen Auseinandersetzungen standen sukzessive verschiedene KonsumentInnen-Gruppen im Mittelpunkt des Interesses: Zunächst, in der Brotfrage, die Frauen der im Felde stehenden Krieger, die es sich - auch die ArbeiterFrauen unter ihnen - zunächst noch leisten konnten, auf Lohnarbeit zu verzichten und darum Missgunst und Neid der anderen auf sich zogen. Sie wurden von der heldenhaft um das Überleben kämpfenden "minderbemittelten" Frau, in der sich insbesondere auch der untere Mittelstand und die Beamtenfrauen wiedererkannten, abgelöst, als in Folge der Kartoffelnot Forderungen nach einer umfassenden Regulierung des Absatzes landwirtschaftlicher Erzeugnisse laut wurden.

Daß die unmittelbare Nachbarschaft von sozialem Protest und Regierungshandeln in einer hochdifferenzierten städtischen Gesellschaft wie der des spätwilhelminischen Berlins die politische Kommunikation und Wahrnehmung der offiziellen Politik unmittelbar beinflusste, zeigt sich an den Krawallen im Oktober 1915, als es um die Butter ging. Die direkten Aktionen "wehrloser" Frauen gewannen bis weit in die Kreise der Bürokratie Legitimität. Quer zu den bis dahin gültigen parteipolitischen Programmen artikulierte sich eine die sozialen Unterschiede überbrückende Sehnsucht nach einem "Ernährungsdiktator", der den üblen Machenschaften der Agrarproduzenten, Grosshändler und der mit ihnen im Bunde stehenden Spitzenbürokraten der Reichsregierung endlich ein Ende bereiten sollte. Gerade in dieser populistischen Figur wird die auch aus anderen Studien zur Geschichte des Nahrungsmittelprotests bekannte Ambivalenz der Politik von unten deutlich: Sie ist nicht per se mit demokratischen Forderungen im modernen Sinne identisch, sondern kann sich durchaus mit autoritätsgläubigen, ja reaktionären Politikvorstellungen verbinden.

Die enorme Politisierung, die schliesslich alles, was mit Ernährung zu tun hatte, betraf, zeigt Davis besonders überzeugend an den Debatten um Konzept der Massenspeisung. Schliesslich stellte das Ansinnen, zu Hunderten und Tausenden in grossen Speisesälen Grossküchenessen einzunehmen, in den Augen vor allem des unteren Mittelstandes einen Angriff auf die Integrität des heimischen Mittagstischs und damit auf die Familie schlechthin dar. Die Kompromisse und Alternativen zu dieser Variante der Volksernährung - Essenausgabe an der Gulschakanone, aber Einnahme zu Hause, sowie die Bindung der Massenspeisung an die Arbeit in Grossbetrieben - zeigen, daß der Mensch auch am Rande des Hungertodes ist, was (und wie) er/sie isst - und dabei seinen sozialen Status im Verhältnis zu anderen definiert. Einen weiteren Angriff auf die populären Vorstellungen von einer gerechten Gleichverteilung stellten schliesslich die Bevorzugungen der ganz Schwachen (Kranken, Schwangeren und Kinder) wie der "Starken", also der "Schwer-" und "Schwerstarbeiter" dar. Mit den Folgen der schlechten Ernährung wie der Verpflichtung zum Arbeitseinsatz in der Kriegsindustrie nahm die Zahl der Berechtigten zwar formell zu, die damit verbundenen Ansprüche waren aber weniger denn je durchsetzbar. Genau in dieser Schere lag das Politisierungpotential staatlicher Versorgungspolitik jenseits der herkömmlichen Koalitionen und Programme: Daß der Staat für gerechte Verteilung zu sorgen und wucherische Machenschaften und profitable Vermarktung zu unterbinden hatte, entwickelte sich zum gemeinsamen Nenner einer ansonsten äusserst heterogenen, von ganz rechts bis ganz links reichenden Stimmung gegen die herrschende politische Ordnung. Zwar reichen die Ursachen der Revolution des November 1918 weit in die Klassengesellschaft des Kaiserreichs zurück, aber, so Davis, ohne die katastrophal scheiternde Versorgungspolitik während des Krieges wäre es nicht zu jener breiten Erwartungshaltung gegenüber dem Staat gekommen, die in einer bis in die letzten Winkel der Gesellschaft reichende und auch Frauen erfassenden Politisierung mündete.

Die Stärken der Arbeit von Davis liegen vor allem im detaillierten Nachweis des Ineinandergreifens der verschiedenen Diskurse und Handlungsebenen. In dieser Hinsicht ist ihre Lektüre von Polizeiquellen besonders aufschlussreich und gelungen: Indem sie die Berichte über Strassenproteste vom ereignisnahen Spitzel- und Wachtmeisterbericht über die Aggregationsstufen der mittleren Bürokratie bis hoch zu ihrer Verarbeitung durch Polizeipräsidenten und Minister verfolgt, kann sie zeigen, wie die Agenda des Protests die Herrschaftsträger selbst nicht unberührt liess: Sie fühlten sich angesichts der Ernährungssituation und ihrer eigenen kargen Gehälter wenn nicht zur Anerkennung der Berechtigung des Protests, so doch zum Verständnis für die Erregung der Gemüter veranlasst - ein gänzlich anderes Bild, als es vergleichbare Berichte aus den Jahren vor dem Krieg noch zeichneten. Die subtile Vermittlung dieser Sichtweisen von unten nach oben, die Wechselwirkung zwischen veröffentlichter Meinung der Hauptstadtpresse und dem Gerücht auf der Strasse, das wiederum in den arkanen Kommunikationswegen der Bürokratie weitergeben wurde und schliesslich im Schlagabtausch auf der offiziellen Bühne der Politik anlangte, wo es um die Ablösung oder Ernennung von Verantwortlichen ging - diese Analyse von den die Öffentlichkeit einer Hauptstadt im Krieg regulierenden Diskurse stellt den Hauptertrag der Studie dar. Zugleich geht damit aber ein Nachteil einher: Davis gibt - ausser im den "Battles over Butter" gewidmeten Kapitel - den Details der Nahrungsmittelproteste selbst, also ihrem Ablauf, Art der Beteiligung, TeilnehmerInnen bis hin zum juristischen Nachspiel, verhältnismässig wenig Raum und stellt diese meist in komprimierter Form dar. Die "Sprache des Aufruhrs", sein "Text" (Arlette Farge), wie er sich nur am konkreten Handlungsablauf entziffern läßt, ist bisweilen lediglich als Hintergrundgeräusch in den Kulissen wahrnehmbar, während vorne auf der Bühne die "Stimmen" gesellschaftlicher Gruppen diese Rufe, Gesten und Forderungen zu einem gesellschaftspolitischen Konflikt weiterverarbeiten. Aber vielleicht ist das ja auch nur die Kehrseite einer ausgesprochen "konzeptionell" angelegten Darstellungsweise, die politische Herrschaft, Geschlecht und Konsum zu einer dichten, intellektuell anspruchsvollen Textur verwebt und darum weniger Platz für das Erzählen von "Geschichten" läßt.

Dieser Einwand berührt nicht die Qualitäten dieser Protestforschung, Geschlechtergeschichte und politische Geschichte des Ersten Weltkriegs in seltener Weise integrierenden Studie. Darüberhinaus kann sie als gelungenes Beispiel für eine konzeptionell anpruchsvolle Alltagsgeschichte stehen, die entgegen gängigen Vorurteilen keineswegs einer "social history with politics left out" anheim fallen muss, sondern gerade, wenn sie mit Fragestellungen der Geschlechterpolitik und den Methoden der Diskursanalyse kombiniert wird, bis in die Sphären der höchsten Staatsaktionen vorstossen kann. Dies anhand einer Gesellschaft unter extremen Stress gezeigt zu haben, ist das Verdienst von Davis' Untersuchung zur Geschichte des modernen Berlins wie Deutschlands.

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