Cover
Titel
Solitary Sex. A Cultural History of Masturbation


Autor(en)
Laqueur, Thomas Walter
Erschienen
New York 2003: Zone Books
Anzahl Seiten
501 S.
Preis
$ 34.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Burmester, Berlin

Selten finden Neuerscheinungen aus dem Bereich der Geschichtswissenschaften so viel Aufmerksamkeit wie Thomas Laqueurs neues Buch Solitary Sex. Während Zone Books das Buch des Professoren aus Berkeley breit bewarb, druckten deutschsprachige Magazine mehrseitige Rezensionen, verfasst von namhaften Wissenschaftlern wie Stephen Greenblatt.1 So konnten Leserkreise abseits der Fachleute erreicht werden, denen es scheinen musste, als habe Laqueur mit dem Thema der Masturbation wissenschaftliches Neuland betreten.

Dass dem nicht so ist, weiß Laqueur, wie man den Fußnoten entnehmen kann, selbst am besten. Zahlreiche kleinere Publikationen der letzten Jahre haben sich gerade im deutschsprachigen Raum mit dem Thema der Selbstbefriedigung vor allem im 18. und 19 Jahrhundert beschäftigt.2 Keines dieser Werke jedoch gibt einen Überblick über den Umgang mit der Masturbation seit der Antike, wie es Laqueur tut. Solitary Sex kann beanspruchen, als wichtigste umfassende Überblicksdarstellung über das Thema der Masturbation genannt zu werden.

Laqueur führt zu Beginn kurz in die Thematik der Masturbation ein und nennt die Leitfrage seines Buches: „Why, in or around 1712 [...] does masturbation move from the distant moral horizon to the ethical foreground?“ (S. 18) Er fragt nach den tieferen Gründen für die massiven Probleme, die Philosophen wie auch Mediziner mit der „abominable practice of self-pollution“ hatten, besonders in der Phase vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. (S. 25) Wie kam es, dass aus dem peripheren Problem der Masturbation die Onanie wurde, ein Krankheitsbild, dem zweihundert Jahre lang Glaube geschenkt worden ist? Als Startpunkt nimmt Laqueur das um 1712 erschienene Werk Onania von John Marten, das er als Initialzündung für weit einflussreichere Werke wie Samuel Auguste David Tissots L’Onanisme sieht. Werke wie diese manifestierten den Glauben an die Schädlichkeit der Masturbation und erschufen das Phänomen der Onanie, welches bis ins 20. Jahrhundert hinein als Problem gesehen worden ist.

Um glaubhaft zu machen, dass die Sorge um die Auswirkungen der Masturbation eine Erscheinung des 18. Jahrhunderts und eben kein Erbe der Antike oder des Mittelalters sind, verwendet Laqueur viel Mühe. Nachdem er im zweiten Kapitel einem gestrafften Überblick über die Verbreitung der Onanie als gesellschaftlich wahrgenommenes Problem seit 1700 gibt, widmet er das ganze dritte Kapitel der „Masturbation before Onania“ (S. 83). Hier versucht Laqueur, den wenigen vorhandenen Quellen den Beweis zu entnehmen, dass es Masturbation zwar selbstverständlich vor 1700 gegeben habe, diese jedoch kaum der Beachtung für wert befunden worden sei (Antike), bzw. neben anderen Sünden contra naturam für eher unbedeutend (Mittelalter). Da er hierfür kaum Quellen zur Verfügung hat, übt sich Laqueur über Seiten in der Interpretation von Gen.38 (Onan-Passage) und Übersetzungsproblemen bezüglich mancher Poenitentialstellen. Dies ist ermüdend, da er sich hier kaum bemüht, die wichtigsten Punkte stringent herauszuarbeiten, sondern den/die LeserIn teils assoziativ an seinen Gedanken teilhaben lässt. Insbesondere weil die Ergebnisse großteils bereits von vorhergehender Forschung geliefert worden sind, hätten sie keiner so exzessiven Auslegung bedurft.

Mit Kapitel Vier wendet sich Laqueur dem Kern des Themas zu. Hierin möchte er der Frage nachgehen, was genau an Selbstbefriedigung, abseits von allen oberflächlich vorgebrachten Gründen, als gefährlich wahrgenommen worden ist. Welche Ängste steckten eigentlich hinter all den in verschiedensten Traktaten hervorgebrachten Argumenten gegen Masturbation? Schnell wird klar, dass es nicht um die Angst ging, Onanie würde zu Impotenz, Einsamkeit, Verrücktheit und ähnlichem führen. Laqueur führt mehrere Begriffspaare an, anhand derer er schlüssig die Angst verschiedenster Akteure, von Kant über Tissot bis Voltaire, festmachen kann: „its [Masturbations‘] claim on the imagination and fancy, its secrecy and solitude, its tendency to excess and addiction“ (S. 248). Es geht also um die Frage der „richtigen“ Privatheit und des gewünschten Sozialverhaltens: „Masturbation represented socially inappropriate and uncontrolled privacy.“ (S. 226) Die Ausnutzung der gewonnenen Freiheit des Privaten, der Missbrauch der ansonsten gepriesenen Phantasie als Ersatz der Realität sowie mangelnde Mäßigung waren nach Laqueur die eigentlichen Gründe, weshalb Masturbation als Problem betrachtet worden ist.

Die Frage, weshalb Selbstbefriedigung mutmaßlich zum Problem geworden ist, sucht Laqueur im fünften Kapitel zu beantworten. Hier präsentiert er seine beiden Hauptthesen. Er zieht Parallelen zwischen dem Aufkommen des Phänomens Onanie und dem des Marktes zum einen, zum anderen zwischen Onanie und der immer stärker werdenden privaten Lesekultur. Beide Phänomene hätten Eigenschaften gefördert, die durch Masturbation missbraucht worden wären. Die Freuden des Konsums zum Beispiel basierten auf Wünschen, die nicht aus Notwendigkeit, sondern Sehnsüchten erwuchsen – ebenso wie die Masturbation. Laqueur spricht vom Janus-Kopf solcher Bedürfnisse, deren Grenzen in der neuen Wirtschaftsordnung definiert werden mussten (S. 279). Die Befürworter der moralischen Autonomie und der ungebundenen Ökonomie hätten die Schattenseite der von ihnen geförderten Ordnung in der Masturbation erkannt.

Ähnlich, jedoch weniger konstruiert wirkend, verknüpft Laqueur die Lesekultur und die Masturbation. „Print culture [...] depended on and encouraged precisely those qualities that made masturbation seem so threatening.” (S. 303) Phantasie und emotionale Erregung würden missbraucht, ebenso wie der moralisch potentiell förderliche Zustand des Alleinseins. Das Buch, Wahrzeichen der Bildung, wurde mit dem Aufkommen des Romans – und der Pornografie – zu einer möglichen Gefahr für den sich selbst verantwortlichen Menschen. Sprich: Das Ideal der bürgerlichen Privatheit wurde durch die Onanie auf den Kopf gestellt und somit gefährlich für die Gemeinschaft.

In einem Sprung wendet sich Laqueur schließlich im sechsten Kapitel dem 20. Jahrhundert zu, in dem er mehrere Aspekte, von Freud bis hin zu der sexuellen Revolution sowie dem Internet beleuchtet. Der Gang ins 20. Jahrhundert ist ehrenwert, doch hier wie im ganzen Buch fällt die Beliebigkeit auf, mit der er manche Quellen auszuwählen scheint. So werden der Installation eines eher unbekannten Künstlers beinahe so viele Seiten gewidmet wie dem Sexualitätsmodell Freuds, mit zweifelhaftem Gewinn.

Allgemein nimmt Laqueurs Freude am Schreiben zuweilen von der Qualität des Buches. Das Kernstück (Kapitel Vier und Fünf), in dem er auch einen nennenswerten gedanklichen Eigenbeitrag leistet, fällt im Vergleich zu den zu lang geratenen Kapiteln Drei und Sechs deutlich ab. Anstatt in manch unnötiges Detail zu gehen, hätte es gutgetan, wenn Laqueur seine Thesen, die bisweilen etwas konstruiert wirken, mit mehr Belegen gestützt hätte. Gerade die den Markt betreffende These ist nur ungenügend mit Quellen belegt, die überzeugen können. Während die (wie Laqueur zugibt nicht gänzlich aus Eigenleistung entstandene) These über die Lesekultur überzeugt, gibt es also deutliche Defizite in manchen Bereichen der ersten Eigenthese.

Dennoch lohnt es, Solitary Sex zur Hand zu nehmen. Im Gesamten erhält man einen detaillierten, gut geschriebenen Überblick über die Geschichte der Masturbation, der reich mit Quellenzitaten versehen ist. Besonders die Kapitel über das 18. und 19. Jahrhundert sind lesenswert, ebenso wie der Überblick in Kapitel Zwei. Wenn auch der große Wurf nicht gelungen ist, hat Laqueur doch solide Arbeit geleistet.

Als Schlussanmerkung muss noch das fehlende Literaturverzeichnis angesprochen werden. Dies bedeutet ewiges Blättern in den üppig mit Hinweisen versehenen Fußnoten, in denen Kurztitel nicht mit Rückverweisen auf die gesamte bibliografische Angabe versehen sind. Hierdurch lässt Zone Books das eigentlich sehr schön gestaltete Buch in der Handhabung mehr als umständlich werden.

Anmerkungen:
1 Greenblatt, Stephen, Die privateste Sache der Welt, in: Weltwoche 19.2004, S. 43-52.
2 Vgl. v.a. die Werke von Braun, Karl, Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1995; Bloch, Karl Heinz, Die Bekämpfung der Jugendmasturbation im 18. Jahrhundert. Ursachen – Verlauf – Nachwirkungen, Frankfurt am Main 1998.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension