A. Kauders, Democratization and the Jews

Titel
Democratization and the Jews. Munich, 1945-1965


Autor(en)
Kauders, Anthony D.
Reihe
Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism, Hebrew University of Jerusalem
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 70,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bergmann, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Was Demokratisierung und Juden im Nachkriegsdeutschland miteinander zu tun haben sollen, ist auf den ersten Blick nicht evident. Der Autor greift mit dieser Verknüpfung ein Diktum des amerikanischen Hochkommissars McCloy auf, der 1949 den Umgang der Deutschen mit den Juden als „Feuerprobe der Demokratie“ bezeichnet hatte. Daran anschließend formuliert Anthony Kauders seine Kernthese: Die Demokratisierung Westdeutschlands war nicht allein Resultat realpolitischer Entwicklungen, wie der totalen Niederlage, der alliierten Besatzung, des „Wirtschaftswunders“ usw., sondern auch eines mentalen Wandels im Zuge der Vergangenheitsbewältigung, vor allem der wachsenden Anerkennung der jüdischen Leiden im Holocaust und der kollektiven Verantwortung der Deutschen dafür sowie des Abschieds von der „Volksgemeinschaft“, in die lange Zeit auch die NS-Täter integriert blieben. Diese These führt auf zwei Kernfragen: Wann veränderte die Vergangenheitsbewältigung ihre Qualität und in welchem Zusammenhang steht sie mit der Demokratisierung Westdeutschlands? An diese schließen sich für Kauders drei eng miteinander verknüpfte Aspekte an: eine Revision bisheriger psychologischer Erklärungsmodelle der Reaktion der Deutschen auf den Massenmord; die Frage der Kontinuität des Antisemitismus vor und nach Hitler sowie eine Klärung des Verhältnisses von kollektiver und individueller Verantwortung für die NS-Verbrechen.

Der Wandlungsprozess soll in einer Lokalstudie am Beispiel Münchens für die Jahre 1945-1965 aufgewiesen werden, wobei sich der Autor vor allem auf die politischen Akteure und die Kirchen konzentriert. München ist einerseits eine glückliche Wahl, da es im ersten Nachkriegsjahrzehnt ein Brennpunkt von Konflikten war, in denen es um Juden und Antisemitismus ging (Bleibtreu- und Auerbach-Affäre, Displaced Persons, die Nähe von Dachau), und für das vergleichsweise viele Quellen und Untersuchungen vorliegen. Insofern erlaubt die Mikro-Perspektive, basierend auf einer beeindruckenden Fülle von Quellen – Parteizeitungen, Archivalien der Militärregierung, Akten von Behörden, Nachlässe, Briefwechsel usw. aus städtischen, deutschen wie ausländischen Archiven – eine detailgenaue Rekonstruktion der zu untersuchenden Prozesse, deren Verlauf allerdings mit anderen Regionen Deutschlands verglichen werden müsste, denn München ist andererseits wegen der Konzentration von DPs am Ort und in der näheren Umgebung auch ein atypischer Ort für eine Analyse des Nachkriegsantisemitismus. Auch angesichts der unterschiedlichen Politik der Besatzungsmächte, der spezifischen Parteienlandschaft usw. hätte die Frage der Repräsentativität der Ergebnisse stärker reflektiert werden müssen. Eine gewisse Einschränkung der Reichweite ist zudem durch die ausgewählten Protagonisten gegeben, denn wir haben es primär mit einer Elitestudie zu tun, in der es vorrangig um den Einstellungswandel politischer und kirchlicher Funktionsträger geht, während die Bevölkerungsmeinung nur schlaglichtartig aufscheint, so dass offen bleibt, wann und ob andere Bevölkerungsgruppen „nachziehen“. D.h. seine Periodisierung der „Vergangenheitsbewältigung“ gilt, wie übrigens auch die fast aller anderen Arbeiten zu dieser Frage, im Wsentlichen nur für die Eliten in Politik, Kirche, Erziehung, Kultur etc.

In seiner Einführung diskutiert Kauders zunächst zwei dominierende Positionen in der Diskussion um die Vergangenheitsbewältigung. Die „Verdrängungsthese“ (Adorno, Mitscherlich) sowie die vor allem von Frank Stern vertretene Position einer „philosemitischen Reaktion“ 1, die Philosemitismus nur instrumentell genutzt habe, hält er für unangemessene Verallgemeinerungen einer komplexen Situation. Er betont stattdessen recht überzeugend auf der Basis seiner Quellen, die zahlreiche Hinweise auf offenen Antisemitismus, aber nur wenige philosemitische Stellungnahmen enthalten, die historische Kontinuität des Antisemitismus über 1945 hinaus sowie die Vielfalt der Deutungsmuster für die Vergangenheit, die, wie Kauders zeigen kann, häufig aus der Weimarer Republik stammen, in der die meisten der Akteure politisch sozialisiert wurden.

Dies gilt auch für die Deutungsmuster, die in den inneren Konflikten der jüdischen Gemeinde Münchens zum Zuge kamen. Unter dem Titel „History as Pedagogy“ analysiert Kauders zunächst deren schwierige Nachkriegssituation, wobei es ihm um die ideologischen Debatten geht. Die Juden sahen sich nicht nur antijüdischen Ressentiments, mangelndem Mitgefühl und einem Demokratiedefizit der Mehrheitsgesellschaft gegenüber, sondern massiven inneren Auseinandersetzungen über die Rolle der „Halbjuden“ bzw. in „Mischehe“ lebenden Juden und zwischen einheimischen Juden und DPs. In diesen lebten die Frontstellungen der Vorkriegszeit wieder auf: der Vorwurf des Assimilantentums von der einen, der der ostjüdischen Rückständigkeit von der anderen Seite. Es ging aber auch um Fragen von Einfluss, Verteilung von Ressourcen und um grundsätzliche Differenzen in der Haltung zur deutschen Politik und Gesellschaft. Einig war man sich allerdings darin, ein Bleiben in Deutschland mit Forderungen nach Demokratisierung, Restitution und der Reflexion auf die Gefahren des Antisemitismus zu verknüpfen. Insofern sollte „Geschichte“ als Mittel der Erziehung der Deutschen dienen, deren langsame „Lernfortschritte“ man genau beobachtete und kritisierte. In diesem „pädagogischen Anspruch“ sieht Kauders ein zentrales Merkmal jüdischer Identität in der Bundesrepublik bis heute.

Während also auf jüdischer, aber auch auf amerikanischer Seite – auf deutscher Seite findet sich Ähnliches nur in sozialdemokratischen Stellungnahmen – früh kausale Zusammenhänge zwischen Demokratieentwicklung und Restitution, Rechtsstaat und Erinnerung an den Holocaust bzw. Minderheitenrechten hergestellt wurden, sollte die Übernahme dieser Sichtweise einen längeren Lernprozess auf deutscher Seite erfordern. Diesen gliedert Kauders in drei Phasen: die Besatzungszeit von 1945-1949, die Wirtschaftswunderzeit von 1949-1957, die er anders als viele andere Studien (etwa die von Norbert Frei zur „Vergangenheitspolitik“ oder meine Arbeit zum „Antisemitismus in öffentlichen Konflikten“ 2) nicht weiter untergliedert, und eine Phase von 1958-1965.

In der ersten Phase (1945-1949) wird die spezifische Situation in München und Umgebung deutlich, wo in diesen Jahren eine große Zahl jüdischer DPs lebte. Die von Kauders ausgewerteten Reports der Militärregierung und lokale Polizeiberichte zeigen ein deutliches Hervortreten antisemitischer Ressentiments, die sich vor allem an der großen Zahl, der geringen Integrationsbereitschaft und den Aktivitäten der DPs entzündete, während die Juden deutscher Herkunft akzeptiert waren. Viele Zeitgenossen wollten darin einen „neuen Antisemitismus“, andere ein Fortleben des NS-Antisemitismus sehen. Kauders widerspricht beiden Interpretationen. Für ihn markiert der Holocaust ein Moment der Diskontinuität, machte er doch die offene Äußerung von NS-Rassenantisemitismus zum Skandalon. Dies führt aber nicht zu Verdrängung oder Philosemitismus, sondern Kauders findet eine Wiederanknüpfung an Vorurteilsstrukturen von vor 1933. Viele Münchener blendeten offenbar das Geschehen im Dritten Reich aus, für das sie sich selbst nicht verantwortlich sahen, und nahmen „guten Gewissens“ wieder antisemitische Positionen ein, die in der Weimarer Republik respektabel gewesen waren (deswegen nennt Kauders das Kapitel „History as Memory“). Dies gilt in der frühen Nachkriegszeit auch für theologische wie politische Äußerungen der Kirchen. In seiner Analyse der Aussagen der politischen Parteien zu Demokratie und Juden findet Kauders ähnliche Kontinuitäten. Während sich bei SPD-Politikern eine enge Verknüpfung von Demokratisierung mit der Anerkennung jüdischen Leidens findet, nur gelegentlich sind auch hier Dichotomisierungen von „Deutschen“ und „Juden“ oder Distanzierungen von den Ostjuden zu vernehmen, treten solche Verweise in der CSU oder bei den Liberalen häufiger auf, die sich vor allem deutlich weniger für die Wiedergutmachung einsetzen und dazu tendieren, die jüdischen Leiden im Leiden des deutschen Volkes aufgehen zu lassen.

Für die Phase 1949-1957 erkennt Kauders zwar ein Nachlassen der Dämonisierung der DPs, doch bringt die Mehrheit kein Interesse für das Schicksal der Juden auf. Nur im weniger politisierten Raum der Kirchen beginnt seines Erachtens ein, allerdings immer wieder mit Ambivalenzen und Rückfällen belasteter Reflexionsprozess über die Verantwortung für den Holocaust und über das Verhältnis von Christen und Juden, während die Liberalen und Konservativen aus Rücksicht auf die zu integrierenden ehemaligen Nationalsozialisten der „Volksgemeinschaft“ politische Absolution erteilten und wenig Empathie für jüdische Belange zeigten. Insbesondere die FDP erwies sich in dieser Phase als rabiater Anwalt der „Mitläufer“ und „deutscher“ Interessen gegenüber den Alliierten, Emigranten, „KZlern“ und Juden. Zwar nahm auch die SPD Rücksicht auf die Unpopularität einer kritischen Befassung mit dem Dritten Reich, doch hat sie, etwa im Kontext ihres Kampfes gegen den Neonazismus, mit der Thematisierung von Antisemitismus, der Betonung der Verantwortung für den Holocaust und ihr Eintreten für Wiedergutmachung die Bindung an die „Volksgemeinschaft“ weitgehend überwunden. Deshalb sieht Kauders diese Phase einerseits als einen Ruhezustand (dormancy), so wie auch Hermann Lübbe u.a. von einem (asymmetrischen) „Beschweigen“ der Vergangenheit gesprochen haben, andererseits entdeckt er bei den Kirchen und der SPD eine kritische Absetzbewegung (difference) weg vom Geschichtsbild der „Volksgemeinschaft“, die er im Unterschied zu vielen Autoren auf die mit1950er- Jahre vordatiert und nicht allein auf einen Generationswechsel zurückführt, sondern auf einen Einstellungswandel auch in den älteren Generationen.

Setzt Kauders also erste Zeichen für Veränderungen früher an, so datiert er wie andere Autoren die Wende der „Vergangenheitsbewältigung“ zu Recht auf das Ende der 1950er-Jahre (1958-1965, und nicht erst auf 1968). Er führt dies einerseits darauf zurück, dass der dominierende Opferdiskurs, in dem deutsche gegen alliierte Verbrechen aufgerechnet wurden, an Kraft verliert, so wie andererseits auch das Konzept der „Volksgemeinschaft“ in den Parteien der deutlicheren Absetzung gegen die „Nazis“ zu weichen beginnt. Damit verbunden sieht er auch einen Wandel in der Wahrnehmung der Juden, die nun zu Mitbürgern werden, denen man das Recht auf ihr Anderssein auch zugesteht. Diese Veränderungen sind jedoch noch nicht sehr weit in die Bevölkerung diffundiert, und auch in der CSU und der FDP werden neben der Anerkennung deutscher Schuld und Wiedergutmachungsverpflichtung immer wieder Gegenstimmen laut. Insbesondere letztere tat sich schwer, ihre nationalistischen und antisemitischen Tendenzen zu überwinden, auch wenn der Widerspruch einer liberaleren Fraktion lauter wurde (nebenbei bemerkt hatte Hildegard Hamm-Brücher damals in der rechtslastigen Münchener FDP einen schweren Stand gegen offen antisemitisch agierende Parteigenossen, so dass es wie ein Treppenwitz der Geschichte erscheint, dass sie vierzig Jahre später die Partei wegen deren zögerlicher Haltung in der Möllemann-Affäre schließlich verließ).

Die Studie von Kauders besticht durch ihren kritischen Blick auf gängige Annahmen zur „Vergangenheitsbewältigung“, die auf breiter Quellenbasis einer teilweisen Revision unterzogen werden, und durch eine betont sachlich-faire, Ambivalenzen und Nuancen herausstellende Betrachtungsweise. Die vielfältigen Einsichten, die der Autor in seinen detaillierten Diskursanalysen gewinnt, konnten hier nur summarisch angedeutet werden. Auch in die Diskussion des Nachkriegsantisemitismus bringt die Studie neue Perspektiven ein, indem sie Kontinuität und Diskontinuität neu verknüpft: Der Holocaust markiert demnach sehr wohl eine Zäsur gegenüber dem NS-Antisemitismus, dies hinderte aber nicht das Anknüpfen an Vorurteilsstrukturen der Vorkriegszeit. In dieser Form tritt Antisemitismus in den ersten Jahren nach 1945 offen und keineswegs philosemitisch verbrämt auf und wird erst langsam in die Kommunikationslatenz abgedrängt. Dazu war es nötig, die Schuld an der Judenverfolgung nicht länger weniger NS-Tätern zuzuschreiben, sondern den Anteil der eigenen antisemitischen Überzeugungen am Gesamtgeschehen im Sinne einer kollektiven Verantwortung zu reflektieren. In der Reflexion auf die Gefahren von Antisemitismus und anderen Vorurteilen für die Demokratie und in der Abkehr von einer „Volksgemeinschaftsideologie“ in der Bearbeitung des Nationalsozialismus sieht Kauders wichtige Faktoren für die Verwandlung der Westdeutschen in liberale Demokraten. Diese Umorientierung war allerdings eine primär moralische, die 68er sollten sie dann auch in eine politische umsetzen.

Es wäre zu wünschen, dass dieses in einem sehr nuancierten und deshalb nicht ganz leicht lesbaren Englisch verfasste Buch bald auch eine deutsche Ausgabe erlebte.

1 Stern, Frank, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991.
2 Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Bergmann, Walter, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949-1989, Frankfurt am Main 1997.

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