B. Lemke: Luftschutz in Großbritannien und Deutschland

Cover
Titel
Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923 bis 1939. Zivile Kriegsvorbereitungen als Ausdruck der staats- und gesellschaftspolitischen Grundlagen von Demokratie und Diktatur


Autor(en)
Lemke, Bernd
Reihe
Militärgeschichtliche Studien 39
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 524 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Brinkhus, Berlin

Mit seiner Studie betritt Bernd Lemke, Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamts Potsdam, Neuland: Der zivile Luftschutz umfasste alle Maßnahmen, die dem Schutz von Bevölkerung, Wirtschaft und Infrastruktur vor Luftangriffen und der Beseitigung eingetretener Schäden dienten, erstreckte sich aber nicht auf die militärische Luftverteidigung. Von der Luftkriegsgeschichte wurde er bisher nur am Rande thematisiert.1 Wer sich über den zivilen Luftschutz in seiner Breite informieren wollte, musste bis jetzt Vorlieb nehmen mit dem als Erinnerungs- und Erfahrungsbericht konzipierten Buch Erich Hampes, das über viele Details verlässlich Auskunft gibt, ohne freilich wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen.2 Auch für Großbritannien, das dem deutschen „Blitz“ mit vergleichbaren Maßnahmen zu begegnen versuchte, ist die Literaturlage alles andere als erschöpfend.3 Somit fehlten bis jetzt Untersuchungen, die erstens das Thema des zivilen Luftschutzes in den Mittelpunkt stellten, denen zweitens ein systematischer und begründeter Zugriff zugrunde lag und die drittens ihre Erkenntnisse durch überprüfbare Belege absicherten. Lemkes Dissertation nimmt sich diesem Missstand für die Vorkriegszeit an und kommt zu fundierten Ergebnissen.

Lemke hat nicht nur eine militärhistorische Spezialstudie geschrieben, sondern er ordnet seine Ergebnisse in breitere Zusammenhänge ein, nämlich die „staats- und gesellschaftspolitischen Mobilmachungskonzeptionen“ in Demokratien und Diktaturen, für die Großbritannien, die Weimarer Republik und der NS-Staat als Beispiele stehen. Um den Untersuchungsgegenstand präzise analysieren zu können, nutzt Lemke Max Webers Herrschaftssoziologie, die er auf drei Ebenen entfaltet: Organisation, Ideologie und Propaganda. Ein solcher Beschreibungs- und Erklärungsrahmen ist sinnvoll gewählt, da er die Anschlussfähigkeit der Ergebnisse an anderen Untersuchungen zur Politikgeschichte des „Dritten Reichs“ sichert. Zudem stellt Lemke sich der methodischen Herausforderung, die Veralltäglichung charismatischer Herrschaft zu thematisieren. Dieses methodische Vorgehen zergliedert das vielgestaltige Geschehen; es stellt zudem Vergleichkategorien bereit, mit deren Hilfe die Herrschaftsstrukturen, ihre Begründungen und Selbstdarstellungen in Deutschland und Großbritannien vergleichend erörtert werden können.

Die Untersuchung behandelt somit zwei, eigentlich drei Fälle in vergleichender Perspektive. Denn das Jahr 1933 fungiert als ein tiefer Einschnitt im zivilen Luftschutz Deutschlands. Dieser war bis zur „Machtergreifung“ von zahlreichen Vereinen und Interessengruppen geprägt, die mit dem Innenministerium über eine Institutionalisierung des Politikfeldes rangen. Anschließend gehörte der zivile Luftschutz – ebenso wie die Luftwaffe – zum Machtbereich Görings und wurde als Kriegsvorbereitungsmaßnahme aufgewertet, musste aber im Rahmen der NS-Polykratie verhandelt werden. Mit sicherem Auge identifiziert Lemke die zahlreichen Herrschaftsträger, die Zuständigkeiten auf diesem Gebiet wahrnahmen: Zuvorderst die Polizei und die Luftwaffe, aber auch der Reichsluftschutzbund als gleichgeschaltete Nachfolgerin der Luftschutzvereine und die Gemeindeverwaltungen als lokale Durchführungsorgane. Der britische Fall unterschied sich hiervon erheblich: Angelehnt an das rationale britische politische System lassen sich durchgehende Planungen und eine Umsetzung in Form klarer, monolinearer Organisationsstrukturen erkennen.

Auch für die beiden Untersuchungsebenen Propaganda und Ideologie erarbeitet Lemke wichtige Erkenntnisse. Vor 1933 war die Luftschutzpropaganda in Deutschland ambivalent und schwankte zwischen sachlichem Humanismus und militaristischen Nationalismus. Denn obwohl sie dem Nationalsozialismus nicht nahe standen, orientierten sich Teile der Luftschutzbewegung in Deutschland schon vor 1933 an charismatisch aufgeladenen Konzepten einer totalen Mobilisierung der Gesellschaft. An diese Vorbedingungen knüpfte das „Dritte Reich“ an, zentralisierte die Luftschutzpropaganda und suchte auch auf diesem Gebiet vom „Hitler-Mythos“ profitieren zu können. Demgegenüber war in Großbritannien die Außenwirkung des Luftschutzes sehr gering. Nur sehr zögerlich wollten die Verantwortlichen im Regierungsapparat die Zivilbevölkerung mit den möglichen Folgen von Luftangriffen vertraut machen, sie hielten Distanz zu den Wehrverbänden und lancierten das Thema kaum in der Öffentlichkeit.

Manch einer wird beklagen, dass Lemkes Untersuchung das in vielen Lokalstudien kanonisierte Gliederungsmuster nicht aufnimmt und keinen Durchgang durch die einzelnen Maßnahmen zum Beispiel den Bunkerbau oder Personal und Ausbildung der Polizei bietet. Sei es drum. Jeder Verfasser muss mit seinem Platz haushalten; eine ausführliche Darstellung dieser Aspekte wäre nur auf Kosten anderer möglich gewesen. Über Ideologie und Propaganda des zivilen Luftschutzes erführe der Leser dann weniger oder gar nichts. Deswegen bietet diese Studie genau das, was sie verspricht: Eine handwerklich saubere Untersuchung des zivilen Luftschutzes in Großbritannien und Deutschland während der Zwischenkriegszeit, die ihren Gegenstand in die Zeitumstände einbettet und damit exemplarisch Aussagen über das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Militär erlaubt.

Da die Arbeit dem gewählten Anspruch gerecht wird, soll diese Rezension mit zwei kritischen Anmerkungen zu ihrem Ansatz schließen:

Erstens ist es keineswegs ausgemacht, dass Webers Herrschaftssoziologie ein geeignetes Beschreibungs- und Analyseraster ist, um Demokratien und Diktaturen vergleichend zu analysieren. In der sozialwissenschaftlichen Weber-Forschung wurde darüber lange gestritten, ob und wie demokratische Systeme als Herrschaften zu analysieren sind, ohne dass sich eine Position durchgesetzt hätte.4 Da sich das Gegensatzpaar Diktatur – Demokratie nicht deckungsgleich auf Webers Herrschaftssoziologie projizieren lässt, ist die Möglichkeit beschränkt, die gewonnenen empirischen Ergebnisse exemplarisch für die Frage nach den Unterschieden zwischen beiden Typen politischer Systeme zu nutzen. Lemkes Studie erwähnt dieses Problem leider nur, ohne es aufzulösen (S. 23, 235).

Zweitens lassen sich die Untersuchungskomplexe „Ideologie“ und „Propaganda“ auch anders konzipieren, schließlich sind beide ohnehin nicht trennscharf zu unterscheiden. Sie thematisieren kollektiv geteilte Vorstellungen von Luftfahrt, totalem Krieg und dem Verhältnis zwischen Zivilem und Militärischen und den verschiedenen Versuchen, diese zu beeinflussen. In eine solche breitere Thematisierung der Diskurse um Luftkrieg und Luftschutz und ihre Instrumentalisierung, ließe sich auch der zweite Teil der Studie („Staats- und gesellschaftspolitische Grundlagen“) integrieren und so enger mit der Luftschutzproblematik verzahnen, als es Lemkes Untersuchung tut. Damit einhergehend wäre ein Brückenschlag zur neueren Kulturgeschichte anzuraten, zumal mit Peter Fritsches „A Nation of Flyers“ 5 ohnehin schon eine ebenso ausführliche wie gut begründete Studie vorliegt, die dem Luftschutz einige Seiten widmet.

Doch diese Gedanken sollen nur aufzeigen, wo weiterführende Untersuchungen ansetzen können. Bernd Lemke liefert mit seiner Arbeit eine ebenso fruchtbare wie verlässliche Pilotstudie. Alle kommenden Untersuchungen werden, sei es zustimmend, sei es kritisch, an seine Ergebnisse anschließen. Ein Desiderat der Luftkriegsgeschichte ist geschlossen.

Anmerkungen:
1 Lediglich die Untersuchung von Gröhler, Olaf, Der Bombenkrieg gegen Deutschland, Berlin 1990 und der Beitrag Ralf Blanks im Reihenwerk „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ (Bd. 9/1) widmen dem Thema einigen Raum. Beide Autoren beschränken sich allerdings – wie auch die zahllosen Lokalstudien zum Luftkrieg – auf die Kriegszeit.
2 Es ist vielmehr der Versuch, aus dem Luftkrieg eine Quintessenz zu ziehen und sich in Zeiten der Ost-West-Konfrontation für zukünftige Herausforderungen zu wappnen; vgl. Hampe, Erich, Der zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg, Dokumentation und Erfahrungsberichte über Aufbau und Einsatz, Frankfurt am Main 1963.
3Vgl. O’Brien, Terence, Civil Defence, London 1955.
4 Vgl. zum Einstieg: Breuer, Stefan, Rationale Herrschaft. Zu einer Kategorie Max Webers, in: Politische Vierteljahrsschrift 31 (1990), S. 4-32.
5 Vgl. Fritsche, Peter, A Nation of Flyers. German Aviation and the popular Imagination, Cambridge 1992.

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