C. Gorrara: The Roman Noir In Post-War French Culture

Titel
The Roman Noir in Post-War French Culture.


Autor(en)
Gorrara, Claire
Erschienen
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
$45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Ruoff, Frankreich-Zentrum, Technische Universität Berlin

"Im Jahr 3000 finden Archäologen bei Ausgrabungen in Paris auf der Suche nach den Grundlagen unserer Zivilisation 2.500 romans noirs. Sie finden die gesamte Geschichte des letzten Jahrhunderts: Die Konsequenzen des Ersten und Zweiten Weltkrieges, die europäische Judenvernichtung, die Kolonialkriege in Vietnam, Algerien und anderswo, Rassismus, Antisemitismus etc." Mit diesen Worten reklamierte der französische Krimi-Autor und Herausgeber Patrick Raynal 1997 in der Zeitschrift Temps Modernes für den französischen roman noir historische Ernsthaftigkeit. Generell wird der Literatur – und dem als bloße Gebrauchslektüre wahrgenommenem Kriminalroman im besonderen Maße – große Reserviertheit entgegengebarcht, wenn sie sich mit historischen Themen befasst. Sämtliche Sicherungen, die der Historiker in seine Arbeit integriert, um den Wahrheitsanspruch seiner Darstellungen und Thesen zu garantieren, scheinen in einer Narration suspendiert. Aber seit spätestens mit den "postmodernen Herausforderungen" an die Geschichtswissenschaft eine – lange ruhende – Debatte wiedereröffnet worden ist, inwiefern auch die Geschichtsschreibung notwendig auf narrative Strukturen angewiesen ist, rückt die Literatur als Trägerin historischen Sinns und historischer Erkenntnis zunehmend ins Bewusstsein.

Die Studie von Claire Gorrara mag dafür als Beispiel gelten. Sie versteht den roman noir als Ausdrucksform des "zeitgeist of a generation", in dem die "anxieties and fears of our age" in einem "cultural narrative of our times" zum Ausdruck kommen. Anhand von fünf Autoren (Léo Malet, Jean-Patrick Manchette, Didier Daeninckx, Daniel Pennac, Maud Tabachnik) und einem Exkurs zum Film Noir geht sie der Verknüpfung von Fiktion und gesellschaftlichem und historischem Bewusstsein nach. Im Ergebnis konturiert sie die These einer "alternative social history of France designed to contest the dominat narratives of those in power" und bringt den roman noir auf den Begriff des "protest writing".

Das ist richtig und das Verdienst Gorraras liegt darin, dieses Genre mit seinem politischen und historischen Anspruch ernst genommen zu haben. Aber ihre These greift noch immer zu kurz.

Der roman noir, den Gorrara analysiert, wurde in den frühen 1980er-Jahren von einer Generation von Schriftstellern geprägt, die im Mai 68 in den verschiedenen linken Gruppierungen politisiert worden waren. Sie alle verstehen ihre Schriftstellerei als Fortführung ihres damaligen politischen Engagements, das sie als gescheitert betrachten, da es nicht zu der erhofften Umwälzung der Gesellschaft geführt hat. Und so steht in diesem besonderen Subgenre der Kriminalliteratur nicht zufällig die Verarbeitung gescheiterter emanzipatorischer Bestrebungen im Mittelpunkt. Der Krimiplot, um dessen Aufklärung sich unfreiwillige und vom Leben gebrochene Detektive bemühen, weist zumeist in die Vergangenheit zurück. Auf diese Weise unterscheidet sich der roman noir von den traditionellen Krimis, die Siegfried Kracauer 1925 in Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat analysiert und kritisiert hat. Ihnen gehe es darum, ein Verbrechen aufzulösen, indem es Schritt für Schritt nachvollzogen wird. Dabei wird eine falsche Sicherheit vorgegaukelt, indem das anfänglich Unheimliche des Verbrechens durch den Detektiv gebannt wird, der es als bloße Störung der rationalen Ordnung der Dinge aufdeckt, die damit wieder hergestellt ist. Im Gegensatz dazu bringt der roman noir das aktuelle Verbrechen mit ungesühnten und nicht verarbeiteten historischen Gräueln in Verbindung und zeigt, dass die Bedingungen, die sie hervorgebracht haben, nach wie vor bestehen und immer wieder virulent werden können.

Deutlich wird das an dem auch von Gorrara analysierten Krimi von Didier Daeninckx Meurtre pour mémoire, auf Deutsch „Bei Erinnerung Mord“. Dieser Krimi handelt von einem realen Serienkiller, dem erst 1998 der Prozess gemacht wurde: Maurice Papon, verantwortlich für die Deportation der französischen Juden aus Bordeaux und für das von der gaullistischen Regierung verübte Massaker an mehreren Hundert Algeriern am 17. Oktober 1961 in Paris während einer Demonstration für die algerische Befreiungsbewegung FLN. Die Spur führt von 1961 in die Zeit des besetzten Frankreich und ins Konzentrationslager Drancy. Die erste Aufarbeitung dieses Massakers, bei dem mitten in Paris Menschen von der Polizei erschossen und in die Seine geworfen worden sind, geschah nicht durch eine politische Kommission oder eine historische Untersuchung, sondern eben durch den 1984 erschienen Kriminalroman von Didier Daeninckx, in dem die Schwierigkeiten und Hindernisse der eigene Recherche anschaulich geschildert werden.

Walter Benjamin forderte in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen vom materialistischen Historiker, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten und sich bewusst zu sein, "dass der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist". Bei seiner Deutung des Bildes von Paul Klee namens Angelus Novus hatte Benjamin den Aufstieg des Faschismus vor Augen. Der Engel auf diesem Bild hat sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet und überblickt mit Grauen die Geschichte, die sich ihm als Aneinanderreihung von Katastrophen darstellt. Das, was Fortschritt genannt wird, ist ihm eine Kette verlorener Schlachten. Dieser Blick auf die Geschichte ist dem Roman Noir nicht fremd. Auch er sucht in den verlorenen Schlachten, die die Hoffnung der Aufklärung auf eine vernünftige und dem Menschen entsprechende Welt zu verwirklichen suchten, die Gründe für das Fortdauern der Gräuel in der Gegenwart. Frédéric H. Fajardie, in Frankreich ein Bestseller-Autor und hierzulande leider so gut wie unbekannt, drückte dies in einem Interview so aus: "Der Zweite Weltkrieg ist ein entscheidender Punkt dieses Jahrhunderts. Die Konfrontation zwischen dem Faschismus und den Demokratien ist das Ergebnis von allem, was vorausging, die Dreyfus-Affäre, die Volksfront, der Spanische Bürgerkrieg […] All das hätte 1945 zu einem Ende kommen müssen, aber das Drama geht heute mit Le Pen und seinen Kameraden weiter."

Betrachtet man den französischen roman noir als spezifische Form der Geschichtsschreibung und der Protestliteratur, muss man diesen Hintergrund mit einbeziehen. Ansonsten bliebe die These unverständlich, dass er angesichts des Fortschritts und seiner Katastrophen die Erinnerung an Versuche bewahrt, aus diesem mörderischen Prozess auszubrechen und eine befreite und wahrhaft aufgeklärte Gesellschaft zu schaffen. Auf dieser geschichtsphilosophischen Ebene steht eine Auseinandersetzung mit dem roman noir noch aus. Die dicht und anregend geschriebene Studie von Claire Gorrara weist immerhin in diese Richtung.

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