K. Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft

Titel
Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft.


Herausgeber
Härter, Karl
Reihe
Ius Commune Sonderhefte 129
Erschienen
Frankfurt am Main 2000: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
630 S.
Preis
€ 99,00
Harriet Rudolph, Fachbereich III - Neuere Geschichte, Universität Trier

Der von Karl Härter herausgegebene Sammelband widmet sich einem Schwerpunkt der jüngeren Frühneuzeitforschung: der Policey. Bereits seit 1992 besteht am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte in Frankfurt a.M. ein von Michael Stolleis geleitetes Projekt zur Erschließung frühneuzeitlicher Policeyordnungen, in dessen Kontext eine Reihe von Einzelstudien entstanden ist, die in diesem Rahmen zum Teil bereits rezensiert wurden. Außerdem existieren seit 1997 ein Arbeitskreis "Policey im vormodernen Europa" sowie Kolloquien zur Polizei im 19. und 20. Jahrhundert. Der vorliegende Sammelband vereint zwanzig Beiträge (Inhaltsverzeichnis s. Klostermann), von denen zwölf aus Referaten hervorgegangen sind, die anläßlich der interdisziplinären Tagung "Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft" am Institut für Europäische Geschichte in Mainz vom 11. bis 13. März 1998 gehalten wurden.

Nach den Worten des Herausgebers zielt der Band darauf ab, Policey im gesellschaftlichen Kontext zu erfassen, also nicht nur Inhalte, Intentionen oder Funktionen von Policeyordnungen zu eruieren, sondern auch ihre Anwendung und ihre Wirkung auf die frühneuzeitliche Gesellschaft zu untersuchen. Während sich die rechtshistorische Forschung bis heute - trotz inzwischen vielfacher anderslautender Bekundungen - weitgehend auf die Darstellung der Entstehung und der Inhalte der Normsetzung beschränkt hat, sollen hier Entstehungszusammenhänge, Funktionen, Umsetzungen und Auswirkungen der Policeynormen analysiert werden. Die von Historikern gebetsmühlenartig vorgetragene Kritik an einer methodischen Beschränkung auf die Analyse von Gesetzestexten, ohne deren Umsetzung in der Praxis zu untersuchen, ist genauso alt wie aktuell. Deshalb ist die Frage spannend, ob diese Forderung hier eingelöst wird.

Bei den Beiträgen handelt es sich überwiegend um Fallstudien zu Territorien des Alten Reichs. Thematisch lassen sich vier Schwerpunkte ausmachen: Drei Beiträge (Holenstein, Landwehr, Krüger) befassen sich vor allem mit methodisch-theoretischen Überlegungen zum Untersuchungsgegenstand Policey. Die zweite Gruppe widmet sich konkreten Regelungsbereichen wie Medizin, Forstwirtschaft, Feste, Sitte, Bau, Zigeuner, Tierhaltung, Geldspiel (Dinges, Ernst, Frank, Günther, Iseli, Lucassen, Nowosadtko, Pauser) und zeigt damit, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, eindrucksvoll die Bandbreite der frühneuzeitlichen Policey auf. Eine dritte Gruppe beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Policey und zeitlich parallelen Prozessen wie Konfessionalisierung, Medienentstehung oder Kameralismus (Kissling, Schilling, Simon). Die letzte Gruppe untersucht konkrete Institutionen und Instrumente der Policey (Konersmann, Ludwig, Maurer, Sälter, Schuck, Weber).

Im Rahmen dieser Besprechung ist es nicht möglich, auf jeden der zwanzig Beiträge ausführlich einzugehen, deshalb seien hier nur einige wenige zentrale Thesen hervorgehoben. So betonen die Beiträge von Holenstein und Landwehr die wichtige Rolle der Untertanen bei der Anwendung und Umsetzung der Policeynormen. Holenstein weist zutreffend darauf hin, daß der moderne Gesetzesbegriff im Sinne einer allgemeinen und gleichförmigen Geltung der Rechtsnorm nicht ohne weiteres auf die Frühe Neuzeit übertragen werden kann. Obrigkeit und Untertanen hätten vielmehr durch Dispensationen und Supplikationen erst die jeweiligen Umstände definiert, in denen Normen in der Praxis galten. Allerdings wäre es lohnend, stärker herauszuarbeiten, was an dieser Praxis spezifisch "frühneuzeitlich" war. Landwehr nennt die Interessenkongruenz zwischen Obrigkeit und Untertanen als zentrale Voraussetzung für die Durchsetzung von Policeynormen. So sei die Akzeptanz der Untertanen zum Beispiel in den Regelungsbereichen Feuer, Eigentum und Qualität wirtschaftlicher Produktion vergleichsweise hoch gewesen, da sie hier selbst von einer Einhaltung der Normen profitiert hätten.

Krüger vollzieht anhand von Material aus dem Nachlaß Gerhard Oestreichs Modifizierungen nach, die dieser angeblich am Begriff Sozialdisziplinierung vornahm, der ihm am Ende selbst als "zu eng" erschienen war. Der von Oestreich vorgeschlagene Ersatzbegriff Fundamentalregulierung setzte sich allerdings nicht durch, wohl schon deshalb, weil er an der kritisierten etatistischen Perspektive des Modells wenig änderte. So tauchen auch in den im Aufsatz breit zitierten Aufzeichnungen Oestreichs die Untertanen als Akteure nicht auf. Zwar hat sich das Modell der Sozialdisziplinierung in vielerlei Hinsicht zunächst als fruchtbar für die Forschung erwiesen, gleichwohl gilt auch hier die Einschätzung, mit der Oestreich bereits 1972 den Begriff Absolutismus verwarf, auch das Konzept der Sozialdisziplinierung halte "den Blick einseitig fest" (S. 118).

Kissling verdeutlicht anhand der Entwicklung im Berchtesgadener Land, daß sich "Gute Policey" im ökonomischen Sinn und Konfessionalisierungspolitik mitunter nur schwer vereinbaren ließen. Im Konfliktfall besaßen für den Landesherrn gegen den Willen der Land- und Burgerschaft die konfessionellen Interessen Priorität. In Abgrenzung zu Blickle erscheint hier Konfessionalisierung vor allem als obrigkeitlich gesteuerter Vorgang. Der Aufsatz von Schilling beschäftigt sich mit der wichtigen Funktion, die Intelligenzblätter als "öffentliche Policeyanstalt" (S. 421) bei der Verbreitung und Kontrolle von Policeynormen - im Unterschied zu England und Frankreich etwa- im Alten Reich von Seiten der Territorialgewalten zugeschrieben wurde. Gerade für die Einzelgesetze des 18. Jahrhunderts eignete sich das periodisch erscheinende Medium besonders. Mit dem Abdruck von Preistabellen, Steckbriefen, auswärtigen Gesetzen sowie Beiträgen, in denen Policeymaterien öffentlich diskutiert wurden, etablierten sich die Intelligenzblätter als policeyliches Kommunikationsforum, das seinerseits wiederum die Gesetzgebung beeinflußte. Im einzigen Beitrag zu den Reichspolizeiordnungen betont Ludwig in Anlehnung an Härter, daß die Initiative zur Normsetzung von den Reichsständen ausging, die gegenüber dem Kaiser trotz der konfessionellen Differenzen eine geschlossene Position vertraten. Im Hinblick auf die in jüngster Zeit vieldiskutierte Funktion der Rechtsnormen ist wichtig, daß Kaiser und Reichsstände eine Reihe von detaillierteren und schärferen Bestimmungen nicht verabschiedeten, da sie von vornherein als nicht umsetzbar erschienen und so die Ordnung von vornherein diskreditiert hätten.. Am Beispiel von Baden-Durlach zeigt Maurer das Scheitern von Kodifikationsversuchen, ein Phänomen, das für die Territorien des Alten Reiches im 18. Jahrhundert typisch ist. Außerdem kann sie en détail nachweisen, daß die Umsetzung vieler Policeynormen schon deshalb häufig scheitern mußte, da diese in den Ämtern überhaupt nicht mehr vorhanden waren.

Die eher speziellen, sich aber inhaltlich gut ergänzenden Beiträge von Iseli und Sälter zur französischen Policey im 18. Jahrhundert belegen einerseits die großen Unterschiede zwischen Paris und der französischen Provinz, andererseits auch jene zwischen dem in der Regel als Modell einer zentralistischen Verwaltung betrachteten Frankreich und dem zersplitterten Reichsgebiet. Dabei zeigt Iseli anhand der Baupolicey in Marseille und der Provence, daß sich die in städtischer Kompetenz liegende Policey hier dem königlichen Einfluß weitgehend entzog und gerade als Mittel diente, die Autonomie gegenüber der Krone zu sichern. Mit dem Verweis auf die Institutionalisierung der Polizei, die in Paris bereits im 16. Jahrhundert einsetzte, während im Alten Reich erste Ansätze erst im 18. Jahrhundert zu finden sind, stellt Sälter dagegen eine wichtige Besonderheit der Pariser Polizei heraus. Das polizeiliche Überwachungssystem wurde hier mit der Schaffung neuer Zentralbehörden und Kontrollsysteme wie zum Beispiel dem systematisch organisierten Spitzelwesen im ersten Viertel des 18. Jahrhundert noch einmal entscheidend ausdifferenziert und somit von der Mitwirkung der Untertanen unabhängiger.

Verfehlte Aufsätze wie der von Günther sind erfreulicherweise die Ausnahme. Hier finden sich leider all zu häufig Thesen wie: "Allerdings wäre es verfehlt, allein (sic!) den geringeren Zivilisationsgrad mancher Menschen als ausschlaggebend für die 'Konjunktur' des Unzuchtstatbestandes in der Frühen Neuzeit anzusehen; ausschlaggebend waren vielmehr die restriktiven Heiratsbestimmungen." (S. 134) Auf die befremdlichen Prämissen, die dieser Aussage zu Grunde liegen, will ich hier nicht eingehen, sondern lediglich anmerken, daß sich höchstens eine Konjunktur der Verfolgung von Unzucht, aber nicht der Unzucht selbst nachweisen lässt. Auf diese Weise werden leider nicht nur das Thema Policey und Sittenzucht, sondern auch das Thema Policey und Reichsstadt verschenkt, obwohl sich der Aufsatz hier zunächst vielversprechend anlässt.

Als wichtige Ergebnisse des ansonsten außerordentlich ertragreichen Bandes können allgemein folgende Thesen herausgestellt werden. Weder die Normsetzung noch die Normanwendung basierte auf einem einseitigen Interesse der Obrigkeit, vielmehr wirkten die Untertanen im Rahmen ihrer Anzeigetätigkeit sowie als Supplikanten entscheidend mit. In dieser antietatistischen Perspektive spiegelt sich ein allgemeiner Forschungstrend, der sich bereits im Rahmen der Kriminalitätsgeschichte manifestiert hat. Normen und ihre Anwendung sind Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen Obrigkeit und Untertanen. Allerdings sollten die Mitgestaltungspotentiale der Untertanen auch nicht überschätzt werden. Das Recht, Suppliken und Gravamina einzureichen, ist mit dem Recht, Rechtsnormen zu setzen und deren Einhaltung bei Bedarf zu sanktionieren, doch nicht zu vergleichen, ganz abgesehen von dem unterschiedlichen Potential an strategischen Mitteln, das den jeweiligen Protagonisten zur Verfügung stand, um ihre Interessen durchzusetzen.

An Stelle der zuvor dominierenden Disziplinierungs- und Modernisierungsmodelle, denen fast durchgehend zwar nicht mit Ablehnung, aber dennoch mit Skepsis begegnet wird, dominieren nun eher soziologische und politikwissenschaftliche Modelle als theoretischer Bezugsrahmen. Das ist zunächst zu begrüßen. Allerdings hat man den Eindruck, daß mit der Theorie bisweilen etwas willkürlich umgegangen wird. Um nur eines von mehreren möglichen Beispielen zu bringen: Die Analyse von Iseli hätte nichts von ihrem anregenden Erkenntnisgehalt verloren, wenn ihr auf den letzten beiden Seiten nicht der Elias'sche Zivilisationsprozess übergestülpt worden wäre, von dem zuvor im Aufsatz keine Rede war.

Die in der Einleitung des Bandes angekündigte Kontextualisierung der Rechtsnormen durch die Analyse von Parallelquellen wie zum Beispiel Medizinal- und Seuchenpolizeiordnungen, Amtsberichte, Visitationsakten, Strafakten, etc. wird bis auf wenige Ausnahmen (Ernst, Pauser, Weber, Maurer) endlich einmal eingelöst. Es geht weniger um das Gesetz als solches, sondern um spezifische Formen der Aneignung von und der Kommunikation über Rechtsnormen, um ihre Relevanz im Alltag und damit um "Herrschaft als soziale Praxis" (Alf Lüdtke). Dieser Ansatz stellt im Vergleich zu traditionellen policeygeschichtlichen Arbeiten eine erhebliche Erweiterung der Perspektive dar. Dabei differieren die Autoren im Hinblick auf die Bewertung der Effizienz der Policeynormen in der Praxis zum Teil erheblich. Dies erscheint jedoch weniger als zwangsläufiges Ergebnis der Analyse von unterschiedlichen Untersuchungsräumen, als vielmehr als eine Folge unterschiedlicher Maßstäbe. Meiner Ansicht nach kann bei der Frage der Normdurchsetzung kein absoluter Maßstab angelegt werden (so auch Härter, S. X). Vielmehr ist zu fragen, ob und in welcher Weise sich die Untertanen mit ihrem Verhalten auf die Normen einstellten. Unter dieser Prämisse erscheint die frühneuzeitliche Normsetzung dann auch nicht mehr als ein Akt, der seinen Sinn weitgehend in sich selbst trug. In Abgrenzung zu dieser These von Schlumbohm, weist die Mehrheit der Autoren denn auch darauf hin, daß die Normsetzung durchaus auch von der Intention der Umsetzung bestimmt gewesen sei, ohne damit ihre symbolische Dimension zu negieren. Dennoch hat sich die These - gerade aufgrund ihrer prononcierten Formulierung - als sehr anregend für die Forschung erwiesen.

Bei der weiten zeitlichen, räumlichen und thematischen Ausrichtung des vorliegenden Bandes ergeben sich notwendigerweise Lücken. Die folgenden Bemerkungen sind deshalb als Vorschlag zu verstehen, welche Perspektiven bei zukünftigen Projekten eröffnet werden sollten.

Gerade die beiden Beiträge zu Frankreich haben deutlich werden lassen, daß über alle zweifellos vorhandenen Differenzen zwischen den einzelnen Territorien des Alten Reiches hinweg, der Unterschied zwischen Frankreich und dem Alten Reich noch größer war, weil sich die strukturellen Voraussetzungen der Policey in beiden Untersuchungsräumen fundamental unterschieden. Deshalb wäre zu wünschen, daß neben Frankreich auch andere europäische Länder in den Vergleich einbezogen werden.

Das Verhältnis zwischen Policeyprojekten auf Reichs- und auf territorialer Ebene wird in einigen Beiträgen angerissen, ist aber meines Wissens noch nie systematisch und vor allem territorial übergreifend untersucht worden. Welchen konkreten Einfluß hatten die Reichspoliceyordnungen in den Territorien tatsächlich? Welche unterschiedlichen Motive hatten die Reichsstände für ihre Gesetzesinitiative auf Reichsebene? Die Policeyforschung steht inzwischen nicht mehr am Anfang. Deshalb erscheint mir auch der Versuch lohnenswert, die Auswirkungen der unterschiedlichen strukturellen Voraussetzung auf die Ausgestaltung von Policey in den jeweiligen Untersuchungsgebieten zu typologisieren. Worin unterschied sich zum Beispiel Policey in den Reichsstädten von jener in anderen Herrschaftseinheiten?

Die Ergebnisse des vorliegenden Sammelbandes legen die Schlußfolgerung nahe, daß der Begriff Policey in der Tat eine "Schlüsselkategorie" (so Härter, S. X) für die Frühneuzeitforschung darstellt. Deshalb möchte ich abschließend für einen Versuch plädieren, seinen Inhalt doch definitorisch schärfer zu fassen, als dies hier geschieht. Sonst könnte man den Eindruck haben, daß inzwischen zwei Jahrhunderte Policeyforschung keinerlei wesentliche inhaltliche Klarstellung gebracht haben, meinte doch schon Johann Jacob Moser (zitiert nach Landwehr, S. 52): "Es ist fast kein Wort, welches in denen Gesezen und Schriften derer Gelehrten so eine ungewisse Bestimmung hat, als eben das Wort: Policey".

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