Th. Lau: Bürgerunruhen und Bürgerproteste

Titel
Bürgerunruhen und Bürgerproteste in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit.


Autor(en)
Lau, Thomas
Reihe
Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit 4
Erschienen
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 70,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Pröve, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Forschung hat die seit langem beobachteten Unruhen und Aufstände in den Reichsstädten als Indiz für ein reges politisches Innenleben und damit als Beleg für die Präsenz eines republikanisches Gegenmodells zum absolutistischen Territorialstaat genommen. Besondere Wirkung erzielten die Thesen Otto Brunners, der in diesen innerstädtischen Auseinandersetzungen den ideologischen Grundkampf politischer Überzeugungen auszumachen glaubte und der Ansatz von Peter Blickle, der anhand seines Kommunalismusmodells die Vorstellung entwickelte, auf der Ebene der Hausväter hätte man sich, beseelt vom Genossenschaftsgedanken, der Zugriffe der Obrigkeit erwehrt. Heinz Schilling und später auch implizit Volker Press schliesslich wiesen auf die besondere Bedeutung und Funktion eines spezifischen Stadtrepublikanismus hin. Diese theoretischen Vorgaben wurden in den letzten zehn Jahren von Einzelfallstudien einer kritischen Überprüfung unterzogen. Dabei offenbarte sich, daß die Konflikte innerhalb der Reichsstädte weniger vor einem ideologischen Hintergrund stattfanden als vielmehr auf ökonomische und soziale Interessengegensätze beruhten, die sich den theoriegeleiteten Deutungsmustern widersetzten. Somit entstand ein Erklärungsbedarf, dem sich Thomas Lau in seiner von Volker Reinhardt betreuten Freiburger Dissertation gewidmet hat. Laus Anliegen ist es, die politische Kultur in den Reichsstädten und deren Wechselwirkungen "mit den Realitäten der ständischen Gesellschaft" (S. 21) zu untersuchen, um auf diese Weise das Spannungsfeld zwischen den Ergebnissen der Einzelfallstudien und den allgemeinen Erklärungsansätzen zu überwinden.

Lau zieht für seine Fragestellung nicht nur die beiden untersuchten Städte, Schwäbisch Hall und Mühlhausen, heran. Zugleich befindet sich in einem längeren dreissigseitigen Anhang eine Übersicht über alle bekannten Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in anderen Reichsstädten nebst einer Bibliographie, die es ermöglicht, rasch und zuverlässig vergleichendes Material zusammenzutragen. Die Auswahl des Untersuchungstableaus ist geschickt gewählt, da beide Städte einerseits eine ganze Reihe vergleichbarer Faktoren aufwiesen, andererseits aber gleichsam die "Gegenpole zweier unterschiedlicher innenpolitischer Entwicklungen" bildeten. Während Mühlhausen etwa unter immer heftigeren innenpolitischen Konflikten zu leiden hatte - zu Beginn der 1730er Jahre musste ein solcher Konflikt sogar mit auswärtigen Truppen bewältigt werden -, konnte in Hall der Rat in zunehmendem Masse seine Differenzen mit der Bürgerschaft beilegen. Der Zeitrahmen wird abgesteckt vom Ende der Reformation, die für die Reichsstädte in aussen- und innenpolitischer Hinsicht einen Neuanfang markierte, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Mediatisierungswelle die Städte erfasste und das Reich aufgelöst wurde. Dieser lange Zeitraum von 1578 bis 1802 erlaubt es, die einzelnen innerstädtischen Konflikte in einem mehrperspektivischen Zugriff zu beleuchten.

Die Studie ist in zwei Hauptkapitel mit jeweils drei Unterkapitel gegliedert. Zunächst werden die Konfliktparteien vorgestellt, und zwar der Rat, die Geistlichkeit und die Bürgerschaft. Ausführlich werden verfassungsrechtliche Probleme, soziale Bindungen und ökonomische Interesssen, aber auch Rivalitäten, Interessengegensätze und ausserstädtische Verbindungen untersucht. Konfliktverlauf und Konfliktbewältigung stehen im Vordergund des zweiten Hauptteiles. Im ersten Abschnitt werden, ausgehend von einzelnen gut überlieferten Vorfällen, Entstehung und Verlauf von Bürgerunruhen geschildert, die schliesslich in einen Bürgerprozess mündeten. Beleuchtet werden ebenso die rechtlichen Rahmenbedingungen und die politischen Möglichkeiten der Bürgeropposition. Der zweite Abschnitt ist analog zum erstem Abschnitt der Ebene des Reichshofratsprozesses, wiederum anhand ausgewählter Beispiele, gewidmet. Der letzte Abschnitt beinhaltet die extremste Form der Unruhe, den offenen Aufstand. Detailliert erfolgt am Beispiel der Mühlhauser Bürgerunruhen die Beschreibung der auslösenden Momente, des Verlaufs, der Vermittlungsversuche und schliesslich der vorläufigen Lösung in Form des kaiserlichen Rezesses. Der unmittelbare Vergleich der beiden Städte wird im Grunde nicht kapitelweise angegangen, sondern jeweils in den einzelnen Sachabschnitten argumentativ bewältigt. Lediglich einige Unterkapitel widmen sich jeweils Mühlhäuser oder Haller Vorkommnisse mit exemplarischen Charakter.

Lau kommt zu dem Ergebnis, daß der Genossenschaftsgedanke zwar den Charakter einer gemeinsamen Bürgerideologie verloren habe, jedoch nie wirklich in Vergessenheit geriet. Gerade die Mühlhäuser Vorfälle zu Beginn der 1730er Jahre hätten deutlich gemacht, wie schnell unter Umständen politisch-ideologische Lippenbekenntnisse auf die republikanischen Werte und Traditionen einen konkreten Bezugsrahmen erhalten und damit an Aktualität gewinnen konnten. Ein geschlossenes Weltbild wie von Blickle und Schilling suggeriert, hätte es damit jedoch nicht gegeben. Vielmehr seien viele Unruhen aufgrund des ökonomischen Modernisierungsdrucks entfacht worden, auf den der Rat - deutlicher in Mühlhausen - innovationsfeindlich reagiert habe. Mit ihren Eingaben und konstruktiven Vorschlägen hätten zudem die Bürgerschaften ein erstaunliches Ausmass von Flexibilität und Offenheit gegenüber den sozialen und ökonomischen Problemen ihrer Stadt bewiesen, was dem Wehlerschen Verdikt vom rückständigen Stadtbürger wiederspräche. Auch sei die These von Press zu hinterfragen, Reichsstädte seien reformunfähige Relikte einer mittelalterlichen Stadtkultur gewesen. Das von Lau zu Tage geförderte innovative Potenzial würde demgegenüber auch die zum Teil beachtlichen Modernisierungsschübe im 18. Jahrhundert erklären, wobei freilich in vielerlei Hinsicht dennoch ein gewisser Reformstau vor sich her getragen wurde.

Eine grosse Rolle kam der protestantischen Geistlichkeit zu, die oftmals aktiv und lenkend in die Unruhen eingriff. Die Reichshofratsprozesse schliesslich veränderten die politische Kultur der Städte und gaben ihnen einen gemeinsamen Bezugspunkt: "Das politische Leben in den Reichsstädten des 18. Jahrhunderts war dabei von einem eigenwilligen Mit- und Nebeneinander ständischer und genossenschaftlicher Ideen, korporativer und moderner Wirtschaftsvorstellungen geprägt" (S. 519f.).

In der zeitlichen Perspektive kommt Lau zu dem Ergebnis, daß dem Jahr 1648 die Bedeutung einer Zäsur zukam. Seien die Reichsstädte vor 1648 als konfessionelle Verbündete interessant gewesen, so hätten sie ihren politischen Wert nach 1648 deutlich eingebüsst - was wiederum sich auf die Gestaltung der Reichshofratsprozesse auswirkte.

Das Buch von Thomas Lau stellt einen wichtigen und gut geschriebenen Beitrag zur aktuellen Forschungsdiskussion über Kommunalismus und Stadtrepublikanismaus dar. Zu loben ist vor allem der dezidiert durchgehaltene vergleichende Charakter der Untersuchung und die im Anhang gebotene Gesamtübersicht.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension