Titel
Zwischen Geschichte und Mythos. La guerre de 1870/71 en chansons


Autor(en)
Cornejo, Paloma
Erschienen
Anzahl Seiten
230 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elsbeth Bösl, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Paloma Cornejo beobachtet, dass bestimmte nationale Klischees in Deutschland und Frankreich dauerhaft aktiv sind. Dies führt sie zu dem Versuch, die Spur dieser Bilder bis zum Krieg 1870/71 zu rekonstruieren. Cornejo analysiert die kriegsbezogenen Inhalte deutscher und französischer Kriegslieder, die sie als persuasive und meinungsbildende Medien identifiziert, und prüft sie auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen nationalen Argumentation. Indem die Studie für die Kontinuität stereotyper Idealvorstellungen des jeweils Anderen sensibilisiert, soll sie „zur Erkenntnis der Kulturspezifik menschlicher Wahrnehmungsweisen und zugleich zum interkulturellen Dialog beitragen“ (S. 15).

Die philologische Dissertation beginnt mit einer Einführung in die Methode der komparatistischen Imagologie. Diese untersucht die Genese und Wirkung nationenbezogener Feindbilder. Die Imagologie geht davon aus, dass eine Gruppe Diskurse und kollektive Symbolsysteme nicht nur für die eigene Identität entwickelt, sondern auch für eine jeweils andere Identität, von der sie sich abgrenzt. Cornejos analytisches Leitprinzip ist der ständige Wechsel der Untersuchungsperspektive zwischen der deutschen und französischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. So will sie den „Divergenzen und Konvergenzen in den nationalen ‚Kollektivsymbolsystemen’“ nachspüren (S. 19).

Der Untersuchungsgegenstand sind 360 deutsche und französische Kriegslieder, die Cornejo dem deutschen Volksliedarchiv und Sammlungen der Bibliothèque Nationale de France entnommen hat. Die ausgewählten Lieder entstanden zwischen 1870 und 1913. Sie weisen einen klaren Feindbezug und eine Kriegs- oder Widerstandsthematik auf. Ihre Verfasser sind meist unbekannt. In Frankreich wurden die Chansons überwiegend mittels Flugblättern und Kleinformaten verbreitet, die deutschen Kriegslieder hingegen erschienen vor allem in Liedersammlungen als spezifischer Erscheinung des Vereinswesens. Cornejo hat eine Auswahl von Vereinssammlungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung getroffen. Cornejo zufolge bietet sich das Lied zur Untersuchung nationaler Stereotypen an, weil es als Medium der Propaganda Stereotype plakativ weitergibt. Zudem wirkt Gesang emotionalisierend und vergemeinschaftend. Insofern lässt, so die Grundannahme der Studie, die Untersuchung von Liedinhalten den Zustand des kollektiven Bewusstseins zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt erkennen.

Die Studie ist im Wesentlichen zweigliedrig aufgebaut. Kapitel 2 behandelt die Funktionsweisen der Kriegslieder als Kommunikations- und Integrationsmittel und ihre Argumente zur Rechtfertigung des Krieges. Kapitel 3 ist der Analyse der identitätsstiftenden Mythen gewidmet, die von den Liedern generiert und tradiert wurden.

Zu Beginn des zweiten Kapitels untersucht Cornejo den Ort des Krieges im politischen Diskurs der Kriegs- und Nachkriegszeit und die Argumentationsweisen der Staatsoberhäupter zur Rechtfertigung des Krieges. Dem werden die Argumente der Lieddichter gegenübergesetzt. Hervorzuheben ist im persuasiven Diskurs der deutsch-französischen Kriegslieder der legitimierende Rückgriff auf die Vergangenheit. Argumente, die Cornejo in diesem Zusammenhang untersucht, sind die Historisierung der Befreiungskriege und der Königin Luise in den deutschen Kriegsliedern. Die Gleichsetzung mit den Befreiungskriegen sollte beide Kriege zu einem historischen Ganzen verschmelzen. Liedtopoi wie Heldenkult, einzelne Schlachten oder Paris als Kampfziel schufen diese Illusion. Des Weiteren behandelt Cornejo den Rhein als unentbehrlichen Bestandteil deutscher historischer Kriegsargumentation und als Symbol für Freiheit und Einheit. Sie setzt dem die Rheinthematik in französischen Racheliedern der Jahre nach 1870 gegenüber. Auch das Liedmotiv Elsass-Lothringen wird vergleichend untersucht. Cornejo zeigt, dass in deutschen Liedern Elsass-Lothringen mit dem Topos der zusammengeführten Familie und einer Raub-Thematik verknüpft wurde, während französische Chansons die Gefangenschaft des weiblich personifizierten Elsass betonten. Auch die Sprache geriet zum Argument: Da für die deutschen Lieddichter das Elsass sprachlich zur deutschen Nation gehörte, werteten sie das Französische ab. Die Chansons hingegen benutzten das Topos der französisch sprechenden und damit Widerstand leistenden elsässischen Bevölkerung.

Es folgt eine Untersuchung über den Topos der Erbfeindschaft, der in deutschen Liedern schon während des Krieges, in den Chansons hingegen erst nach 1870 in Verbindung mit der Forderung nach einem Rachekrieg auftauchte. Dann werden historische Verzerrungen in den Liedtexten analysiert. Cornejo sieht hier bewusste Mechanismen zur Unterstützung der meinungsbildenden Funktion. Beispiele für diese Vorgehensweise sind die beschönigende Beschreibung der Kriegswirklichkeit in deutschen Liedern und die Behauptung unhistorischer Machtverhältnisse - gekoppelt mit einem Verratsmotiv - in den Chansons. Zwar hält Cornejo an dieser Stelle fest, dass diese politischen Inhalte nur im Hinblick auf die Liedrezeption durch die Adressaten von Bedeutung waren, und geht deshalb dem Überlieferungsweg der Lieder nach, letztlich umgeht sie jedoch eine intensivere Untersuchung der Rezeption der von ihr untersuchten Lieder. Ein Unterschied der Liedpraxis ist zu beobachten: Das Zusammensingen in den Vereinen als Teil der deutschen Alltagskultur des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass die Kriegslieder durch aktives Mitsingen meist männlicher Mitglieder verbreitet wurden. In Frankreich hingegen wurden die Chansons auf den Bühnen öffentlicher Lokale inszeniert. Damit beschränkte sich der Kontakt mit Chansons auf das passive Zuhören, war allerdings auch Frauen zugänglich.

Das dritte Kapitel beginnt mit den theoretischen Grundlagen der Mythisierung von Kriegsgeschehnissen im Lied. Zu den untersuchten Techniken gehörten die Hervorhebung einer nationalen Wir-Identität, z.B. mittels der kollektiven Erzählung in Dialogen oder anhand der Konkretisierung des abstrakten nationalen ‚Wir’ und ‚Ihr’ durch die Zuweisung überindividueller Eigenschaften. Ähnlich trugen auch Verallgemeinerungen und die Unbestimmtheit des Feindes zu seiner furchterregenden Mythisierung bei. Weitere Techniken der Mythisierung waren das Vermenschlichen des Helden, der dadurch zur Identifikationsfigur wurde, sowie der Einsatz von Vergleich und Metaphern, die Allegorisierung des Abstrakten und die Personifikation von Dingen. Ebenso trugen die Melodien zur Mythisierung der Lied- und Chansontexte bei, wenn sie auf den Inhalt abgestimmt wurden oder wenn die Neuvertextung bekannter Melodien neue Deutungsebenen für den Liedgehalt schuf. Ein Beispiel einer solchen Contrafaktur ist die Marseillaise, auf deren Melodie verschiedene Chansons gesungen wurden und auf die sich textliche Anspielungen anderer Chansons bezogen.

In den Kriegsliedern wurden jedoch nicht nur neue Kriegsmythen geformt, sondern auch bestehende nationale Mythen thematisiert. Eine theoretische Vorbemerkung erklärt die Funktion nationaler Mythen, mittels derer Gesellschaften versuchen, ihrer eigenen Existenz Sinn und Identität zu schaffen. Auf den Mythos Volk griffen deutsche und französische Lieder zurück, um eine Schicksalsgemeinschaft und ein mythisches Wir-Gefühl zu formen. Die deutschen Lieder beriefen sich auf das Volk Gottes, während die französischen Lieder das Bild des revolutionären Volks in Waffen beschworen und Krieg und Widerstand als Fortsetzung des revolutionären Kampfes darstellten.

Im deutschen und französischen Liedkorpus trat die Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten und unterschiedlichen politischen Systemen zutage. Zur Verteidigung der jeweiligen Staatsform wurden nationale Mythen wie das deutsche Kaisertum, Friedrich Barbarossa und die république eingesetzt. Unterstützend wirkte die Feindabgrenzung: Während deutsche Lieder den französischen Feind als das Böse schlechthin darstellten - symbolisiert im negativen Mythos Napoleons und im Bild des amoralischen Paris - arbeiteten die Chansons mit der Vorstellung des Kampfes der Zivilisation gegen die deutsche Barbarei.

Cornejo öffnet ein weiteres Untersuchungsfeld: Differenzen in der geschlechtlichen Gestaltung von nationalen Mythen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass in Chansons weibliche, in deutschen Liedern männliche Beschreibungen überwogen. In den deutschen Liedern repräsentierte die Armee, dargestellt als männlicher Körper, die Einheit der um das Staatsoberhaupt versammelten Nation. Wichtige Inhalte des Liedkorpus waren militärische Führung, soldatischer Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Treue, personifiziert von Bismarck, König Wilhelm, Moltke und Ludwig von Bayern. Französische Lieder hingegen transportierten die Figur der Marianne als mütterliche Führerin mit ihrem Kindervolk. Hier setzt Cornejo mit einer Untersuchung der Frauenrollen in den Kriegsliedern an. In Chansons begegnen häufiger weibliche Elemente als in deutschen Liedern, zudem tritt die französische Frau als mutiges und aktives Wesen auf. Typisch für die Chansons war das mythische Frauenbild der Jeanne d’Arc. Demgegenüber verbreiteten die deutschen Lieder statische Frauenbilder und erhoben die weiblich-passive Rolle der Königin Luise von Preußen zum Vorbild.

Abschließend hält Cornejo fest: „Deutsche und französische Lieder konnten mit Sicherheit ihre meinungsbildenden Wirkung entfalten, indem die Rezipienten auf die Forderung der Lieder nach Parteinahme eingingen und sich mit dem Inhalt des Ausgesagten identifizierten.“ (S. 210) Problematisch an dieser als Ergebnis der Studie präsentierten Feststellung ist, dass Cornejo lediglich beschrieben hat, welche Funktionen die Kriegslieder haben konnten und in welcher Weise sie überliefert wurden. Ob sich die Rezipienten mit den Inhalten der Lieder identifizierten, ist damit nicht geklärt. Insofern überrascht diese Feststellung am Ende einer Studie, die sich kaum mit der Wirkungsgeschichte der Lieder befasst hat. Zumindest zu überdenken ist daher die Aussage, die Kriegslieder seien feste Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses gewesen: „Die Inhalte, die darin festgehalten werden, können demnach als Spiegelbild der deutschen und französischen Nationalgruppen zum ausgewählten Zeitabschnitt zwischen 1870 bis 1913 verstanden werden, vor allem auch, weil sie im Volke selber entstanden sind und nicht von der herrschenden Klasse inszeniert wurden.“ (S. 211) Was hier als Ergebnis formuliert wird, wurde zunächst als Grundvoraussetzung der inhaltlichen Analyse präsentiert und nicht erarbeitet.

Gelungen ist hingegen der Beleg, dass die nationale Frage in den Liedern und Chansons thematisiert wurde, und zur Identitätsstiftung abrufbare nationale Mythen zusammengeführt, in der spezifischen Kriegsthematik aber auch neue Mythen geschaffen wurden. Dass diese Mythen als Transmitter der gesellschaftlichen Wertvorstellungen und damit als Identitätsstifter fungierten, ist hingegen wieder weniger Ergebnis der Studie als eine ihr zugrunde gelegte Annahme. Die inhaltliche Analyse der Lieder ist gelungen. Cornejo bietet zudem eine schlüssige Darstellung, die auch dem Nichtphilologen zugänglich ist. Dazu tragen der umfangreiche Anhang mit einer Auswahl von Liedtexten und die verständliche Sprache bei. Etwas unglücklich ist die sehr kleinteilige Untergliederung. Überdies fällt – beispielsweise bei der „Volksgemeinschaft“ (S. 76) - der unbekümmerte Umgang mit historischen Begriffen auf. Auch die historische Einordnung gerät mitunter schief, zumal Cornejo mit meist veralteter Literatur arbeitet. Auf dem spezifischen Feld der historischen Liedforschung scheint dies dem Forschungsstand geschuldet. Hingegen steht eine gute Auswahl neuerer Literatur zum deutschen-französischen Krieg, zur Kriegserinnerung und zu Feindbildern zur Verfügung.1

Ihr Ziel, der Persistenz von Mythen und Stereotypen von 1870/71 in der heutigen Zeit nachzugehen, erreicht Cornejo kaum, denn die Studie bricht um 1913 ab. Es ist jedoch kein Verlust, die Untersuchung auf eine Textanalyse zu beschränken, denn hier können andere Studien ansetzen. Während Cornejo eine Perspektive in der Erforschung der Frauenbilder innerhalb der Lieder und Chansons sieht, zeigt gerade ihre am Liedinhalt orientierte Studie, dass weitere Forschungen zur Liedpraxis und zur Wirkungsgeschichte der Kriegslieder notwendig sind, um zu prüfen, welche Aussagen die Lieder tatsächlich über die in der Bevölkerung aktiven Fremd- und Selbstdeutungen zulassen. Wie hoch war der soziale Durchdringungsgrad der Stereotypen? Wie wirkten die Lieder in der Öffentlichkeit? Es erscheint lohnenswert, die Kriegslieder aus dem menschenleeren Raum ihrer Inhalte herauszuholen.

Anmerkung:
1 Becker, Frank, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001; De Bruyn, Günter, Königin Luise, in: Francois, Etienne; Schulze, Hagen, Deutsche Erinnerungsorte, Bd. II, München 2001, S. 286-298; Kipper, Rainer, Formen literarischer Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, in: Berding, Helmut; Heller, Klaus; Speitkamp, Winfried (Hgg.), Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 17-37; Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992; Vogel, Jakob, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der Nation in Waffen in Deutschland und Frankreich 1871-1914, Göttingen 1997.

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