A. Arru u.a. (Hgg.): L’Italia delle migrazioni interne

Titel
L’Italia delle migrazioni interne. Donne, uomini, mobilità in età moderna e contemporanea


Herausgeber
Arru, Angiolina; Ramella, Franco
Erschienen
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margareth Lanzinger, Institut für Geschichte, Universität Wien

Das Thema „Migration“ boomt seit einiger Zeit. Was den von Angiolina Arru und Franco Ramella herausgegebenen Sammelband zur italienischen Binnenmigration interessant macht, sind vor allem die Schwerpunktsetzungen, die in Verbindung mit unterschiedlichen Querthemen facettenreiche ‚Soziogramme‘ liefern: Recht, Heiratsmuster, Institutionen und informelle Kreise, Geschäfts- und Arbeitswelten, Kredite und andere Geldflüsse, Nachbarn, Verwandte und Zeugen stehen dabei im Zentrum – vornehmlich erprobt für die Städte Rom, Neapel und Turin.

Die dominierende Perspektive der italienischen Historiografie galt – so Arru und Ramella in der Einleitung – hinsichtlich der geografischen Dimension hauptsächlich der Emigration in andere europäische Länder und in die USA, hinsichtlich der zeitlichen Dimension den Jahrzehnten von der italienischen Einigung im Jahr 1861 bis zur letzten Welle an Massenemigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Mittlerweile herrsche – prinzipiell zumindest – Einigkeit über die Bedeutung interner, kleinräumiger sowie individueller und frühneuzeitlicher Migration – an konkreter Forschung gelte es jedoch noch viel zu leisten, insbesondere in Richtung einer verstärkten Reflexion der mit Binnenwanderungen verbundenen Implikationen (S. IXf). Wie dieses Desiderat erfüllt werden kann, zeigen die elf Artikel dieses sich als „experimentell“ begreifenden Bandes.

Die Fokussierungen kreisen zentral um Fragen der Integration – und zwar nicht im Sinne einer Anpassung, sondern als Verknüpfungsleistung zwischen Usancen und Netzen der Herkunfts-Umfelder und den Möglichkeiten, welche die neuen sozialen Konstellationen bieten. Entscheidend – so der Grundtenor – ist nicht so sehr die Herkunft, die Dichotomie zwischen fremd und einheimisch, sondern der Kontext an interpersonellen Beziehungen im Sinne einer „strategischen Achse“: Wer agiert wie in welchen sozialen Kreisen? Der Zeitrahmen erstreckt sich vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis in die 1960er-Jahre. Für das Ancien Régime kommt mehrfach die Stadtbürgerschaft als Analysekategorie zum Einsatz, ebenso beinahe durchgängig Geschlecht. Immer wieder zeigt sich in einer vergleichenden Perspektive, dass Unterschiede bei einer Reihe von Faktoren deutlicher zwischen den Geschlechtern ausgeprägt waren als nach der geografischen Herkunft.

Frühneuzeitliche Mobilität, auch nur über wenige Kilometer, brachte die Leute vielfach in Kontakt mit anderen Statuen und Gesetzeslagen. Simona Feci macht in Rom zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert zwei gegenläufige Tendenzen aus: Dieser Umstand konnte in Richtung einer Differenzierung zwischen Zugezogenen und Einheimischen wirken, wenn sie sich an Konsulate oder nationes, an Institutionen also wandten, die ihre eigene Stadt vertraten. Gleichzeitig wirkte es homogenisierend, da alle dem lokalen Straf- und Zivilrecht unterstanden. Rechtserfahrungen von Zuwanderern führten immer wieder zu einer Reflexion der Rechtspraxis und zu Änderungen einzelner Bestimmungen.

Eleonora Canepari konzentriert sich auf Sozialbeziehungen in Arbeitszusammenhängen (Rom, 18. Jahrhundert). In der Einschätzung von Abschließungstendenzen städtischer Korporationen wäre es – so der Befund der Autorin – zu einfach, zwischen lokal und anderswo Geborenen eine Polarität zu orten. Entscheidende Kriterien seien der Ruf, die Reputation der Person, deren soziale Einbindung, lokale Stabilität, Präsenz und das Frequentieren von integrationsfördernden sozialen Umfeldern der Nachbarschaft und Arbeitswelt. Innerhalb von Stadtvierteln erwiesen sich die Bruderschaften als wichtige Knotenpunkte in Netzwerken. Mit Heirats- und Kreditnetzen im 18. und 19. Jahrhundert setzt sich Arru auseinander. Wenn ein Immigrant nicht in seinem Zielort – hier wiederum Rom – heiratete, so ist das noch kein Indikator für fehlende Integration, sondern kann auch eine Entscheidung sein. Eine doppelte Verankerung in der Stadt und am Land hatte auch ihren Niederschlag auf Kreditnetze – wie die minutiösen Aufzeichnungen von Paolo Liberatore zeigen, die sich bei seinem Tod unter dem spärlichen Nachlass fanden.

Neapel wuchs im Vergleich zu anderen Großstädten im 19. Jahrhundert sehr langsam, Zuwanderung erfolgte trotz der ökonomisch-demografischen Krise. Ein besonders ergiebiger Quellenbestand, die procesetti matrimoniali, welche die Befragung von jedem Brautpaar und zwei Zeugen protokollieren, informieren über bisherige Aufenthaltsorte und Tätigkeiten, geben Auskunft über Motivationen für Ortswechsel, lassen Lebensverläufe und Beziehungsnetze rekonstruieren und ermöglichen eine Reflexion über den Konnex zwischen Sozialbeziehungen und Lebensstationen. Dies haben Tiziana Avolio, Stefano Chianese und Nicola Guarino für zwei Stichprobensamples unternommen.

Im Unterschied zur Täterseite ist im Kontext von Gewaltforschung bislang noch wenig über die von Opferseite angerufene Gerichtsbarkeit geforscht worden, noch seltener unter der Perspektive fremd/einheimisch – so der Befund von Domenico Rizzo. Ihm geht es in diesem Zusammenhang um die Frage nach der Beziehung der ImmigrantInnen zum Gericht als Institution, nach damit verbundenen Möglichkeiten und Gefahren – wie die drohende Ausweisung aus der Stadt. Ziel der Einschaltung des römischen Gerichts im 18. und 19. Jahrhunderts konnte auch die Wiederherstellung der Reputation sein.

Maria Carla Lamberti stellt die Frage nach inter- und intragenerationaler sozialer Mobilität in Familien von MigrantInnen in das Zentrum ihrer Untersuchung für Turin Anfang des 19. Jahrhunderts. Was den Zugang zum Arbeitsmarkt betrifft, so ist auch unter den Einheimischen ein großer Unterschied zwischen Männern und Frauen, der sich bei den Zugewanderten noch verschärft: 54 von 100 Frauen arbeiteten beispielsweise als Dienstmädchen. Wer sich noch nicht lange in der Stadt aufhielt, fand sich in weniger qualifizierten Berufssparten wieder, wer hingegen bereits als Kind mit der Familie in die Stadt gekommen war, hatte weit bessere Chancen.

„Eliten in Bewegung“ thematisiert Daniela Luigia Caglioti am Beispiel von deutsch-Schweizer Handelsleuten und Unternehmern in Neapel im 19. Jahrhundert, deren Werdegang sie über mehrere Generationen verfolgt. Sie brachten Kapital mit, waren gut in das hiesige Informationsnetz eingebunden und kamen als Vorreiter auf einen late-comer-Markt – verfügten also über einen Ressourcen- und Wissensvorsprung. Neue Sozialbeziehungen, die sie in der Stadt knüpften, blieben innerhalb der ethnisch-religiösen Gruppen. Netze wirkten hier als Filter, sie schlossen aus, nicht ein.

Der Karriere, der Familie und dem sozialen Umfeld auswärtiger Beamte spürt Giulio Macchetti im Neapel des 19. Jahrhunderts nach, dem Einfluss der Klassifikation einheimisch/fremd auf die Konstruktion ihrer spezifischen stadtbürgerlichen Identität. Heiratskreise oder Zeugenwahl unterschieden sich hier stärker gegenüber anderen Berufsgruppen als nach der geografischen Herkunft. Die Vater-Sohn-Folge in der Beamtenlaufbahn war bei Einheimischen wie Zugezogenen gängige Praxis.

Mit dem Scheitern von Zugewanderten im Handelsmilieu von Neapel an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert befasst sich Maria Rosaria De Rosa. Unter den Faktoren, die für das Eingehen von Geschäftsbeziehungen wichtig waren, erwies sich die geografische Herkunft als nachrangig: Geld und Kompetenz galten als Referenzen; Vertrauenswürdigkeit, der ökonomische Handlungsrahmen und der Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten waren zentral. Offenheit und Geschlossenheit liefen also parallel. Wenn die Geschäfte allerdings nicht mehr gut gingen, tauchten plötzlich Stereotype auf. In solchen Krisenmomenten stellten die Netze zum Herkunftsort eine wichtige Ressource dar.

Die Migration aus Guardia Lombardi in der Provinz Avellino, südlich von Neapel gelegen, führte zwischen 1880 und 1940 zwar – klassisch – in die USA. Andreina de Clementi lenkt den Blick aber nicht auf das Wanderungsziel, sondern auf die Auswirkungen vor Ort: Sie untersucht die Möglichkeiten, die die Auswanderungswilligen nutzten, um die Überfahrt zu finanzieren, die Besitztransaktionen, die in Zusammenhang mit einer bevorstehenden Auswanderung getätigt oder später von den USA aus in die Wege geleitet wurden, wer die Käufer waren, wer als Vermittler fungierte und wie die transatlantischen Geldsendungen, die in den Heimatort flossen, eingesetzt wurden.

Im Zentrum des abschließenden Beitrages von Franco Ramella steht die Migration von Hunderttausenden, großteils Arbeitern Ende der 1950er, Anfang der 1960er-Jahre nach Turin, zu den expandierenden Fabriken. Manche machten Karriere, andere nicht. Den Grund dafür will der Autor nicht an der unterschiedlichen räumlichen Distanz der beiden wichtigsten Zuwanderergruppen – aus dem Süden Italiens und aus Piemont – festmachen, sondern an sozialen Mechanismen: Den allzu homogenen interpersonellen Beziehungen und Informationskanälen standen Beziehungsnetze gegenüber, die breiter und quer durch die städtische Gesellschaft gestreut und oft über Generationen aufgebaut worden waren.

Die AutorInnen analysieren und vergleichen unterschiedlichste Aspekte auf Mikroebenen, sie diskutieren Quellenprobleme, viele von ihnen kombinieren quantitative Auswertungen und biografische Rekonstruktionen. Auch wenn einzelne Beiträge die Definition von „internen“ Migrationen sprengen, verbindet sie ein gemeinsamer, auf innere Dynamiken gerichteter Fokus: die Frage nach sozialen Beziehungen und Netzwerken, nach engeren und weiteren Geflechten, ihren Entstehungskontexten und Logiken des Funktionierens und Aktivierens, ihren Möglichkeiten und bisweilen auch Grenzen und nicht zuletzt die Frage nach den Veränderungen, die die Zugewanderten vor Ort, in der Zielgesellschaft bewirken. Das Plädoyer der HerausgeberInnen, mit dem Blick auf Binnenmigrationen nicht ein eigenes Feld – ein „spezialisiertes Getto“ – zu eröffnen, sondern sich von einem anderen Beobachtungsstandpunkt aus, in wesentliche Grundzüge historischer Gesellschaftsprofile und aktueller Forschungsdebatten einzuklinken (S. X), ist damit sicher eingelöst.

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