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Titel
Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Hoeres, Peter
Erschienen
Paderborn 2004: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
646 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Jochen Arnold, Universitätsarchiv, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Der Vergleich ist eines der schärfsten Werkzeuge des Historikers, insbesondere wenn es um die Frage nach deutschen „Sonderwegen“ oder der „verspäteten Nation“ (Helmuth Plessner) geht. Deswegen ist es erstaunlich und ein Phänomen eigener Art, dass sich die deutsche Forschung zum Ersten Weltkrieg erst in jüngster Zeit wieder von der germanozentrischen Perspektive zu lösen beginnt. Peter Hoeres preisgekrönte Studie zur britischen und deutschen Universitätsphilosophie ergänzt nicht nur die bisherigen Arbeiten über Historiker und Nationalökonomen, sondern weist mit ihrer vergleichenden Perspektive neue Wege. Im Hauptteil werden die unterschiedlichen philosophischen Theorien und Diskurse anhand der zentralen Begriffe „Freund und Feind“, „Staat“, „Krieg“ und „Frieden“ eingehend erläutert (S. 131-561), der „Krieg der Geister“ wird nicht anhand ausgewählter Passagen, sondern im Kontext dargestellt, die individuellen Besonderheiten aber gleichwohl berücksichtigt.

Hoeres behandelt zunächst die „philosophischen Strömungen“ vor dem Krieg und die „politische Kultur als wechselseitiges Vor- und Schreckbild“ (S. 41-130). Sowohl in England als auch in Deutschland stand die Philosophie unter dem Eindruck des Idealismus, ein verbindendes Element, das sogar die Antagonismen des Krieges überdauerte. War die „Stimmung gegenüber Deutschland unter britischen Akademikern vor dem Ersten Weltkrieg trotz des Konkurrenzdenkens noch überwiegend positiv“ (S. 97), radikalisierte sich das wechselseitige Bild mit dem Kriegsausbruch, eine Nationalisierung der universalistisch geprägten philosophischen Diskurse war die Folge. Der Mechanismus von Aktion und Reaktion, von „Anklagen und Antworten“ hat auch das Verhältnis zwischen den Philosophen geprägt, und diese Studie zeigt eindrucksvoll, von welch grundlegender Bedeutung dieses anthropologische Prinzip für das Verständnis aller Kriege ist. Es waren weniger das „Augusterlebnis“ oder die - aufgrund mangelnder Kriegsbegeisterung - forcierte akademische Mobilisierung in Großbritannien, die zu den fatalen nationalistischen Ausbrüchen führten, sondern insbesondere die weltweit propagandistisch aufbereiteten Greuelgeschichten über das Verhalten deutscher Truppen in Belgien, die in Anklagen und Hass mündeten. In denkbar kurzer Zeit konstituierte sich das Schreckbild vom „militaristischen, barbarischen Hunnen“ (S. 103), das weit über den Weltkrieg hinaus für die Wahrnehmung in den westlichen Demokratien wichtig blieb.

Deshalb befand sich die deutsche Philosophie 1914 von vornherein in der Defensive. Die übersteigerten Reaktionen, etwa der am 14. Oktober veröffentlichte Aufruf „An die Kulturwelt!“, den u.a. Rudolf Eucken und Wilhelm Wundt unterzeichneten, gingen auf das verzweifelte Bedürfnis nach Anerkennung und Rechtfertigung zurück (S. 127f.).

Hoeres modifiziert die These Jürgen von Ungern-Sternbergs, dass von einer wirklichen Kultursendung für die Welt "im Ernst nirgends die Rede" gewesen sei und bietet eine überzeugende Interpretation des Schrifttums: Die deutsche Weltkriegsphilosophie besäße vielmehr einen "offensiv drapierten Antwort- und Selbstverständigungscharakter", "die ihre Apologie zu einer offensiven Apotheose der deutschen Geschichte, des deutschen Staates und der deutschen Aufgabe in der Welt stilisierte und einen nationalen Zukunftsdiskurs enthielt" (S. 582). Wenn mit der erfolgreichen Beendigung des Krieges ein totaler Anspruch auf das Heil der Menschheit verknüpft wird, muss die Niederlage in Diskreditierung und Desorientierung münden. Dass die eigene Nation eine herausragende Stellung für das zukünftige Wohl der Menschheit beanspruchen könne, galt als selbstverständlich. Man konzentrierte sich wechselseitig auf die vorwurfsvolle Analyse der Philosophiegeschichte, wobei auf beiden Seiten die deutsche Geschichte im Vordergrund stand, es handelte sich „um einen deutschen Diskurs“ (S. 583). In Großbritannien wie im Deutschen Reich wurde der Krieg als aufgezwungener Verteidigungskampf für eine bessere Welt begriffen (H.G. Wells prägte am 14. August 1914 die Formel vom „War That Will End War“), was die britischen Philosophen vornehmlich antithetisch begründeten. Fochten sie gegen den „preußischen Militarismus“ oder „hegelschen“ Staatsbegriff, standen die deutschen im Kampf gegen vermeintlich schrankenlosen Materialismus, Individualismus und Kapitalismus, waren aber gleichzeitig auf der Suche nach dem „deutschen Geist“ und universalen Heil.

In beiden Ländern bedurften die Millionen Opfer der Legitimierung. Auch bei den Philosophen ging es häufig um nationalistisch „überspannte“ Zukunftsmodelle oder um Durchhalteparolen, und ihr Aktivismus speiste sich nicht selten aus dem kompensatorischen Bedürfnis, mit der „geistigen Kriegführung“ einen Ersatz für den Frontdienst zu leisten. Zentraler Aspekt des philosophischen Denkens in Deutschland war die „national-soziale Integration“, die deutsche Eigenentwicklung in Abgrenzung zum englischen Individualismus und dem liberalen Paradigma. Neuhegelianismus und Neufichteanismus mündeten gleichzeitig in einen nationalisierten Universalismus, dem auch der „Kreuzzugsgedanke“ nicht fremd war. Im Interesse der Völker und für die Welt sollte der „deutsche Geist“ obsiegen, womit allerdings keine annexionistischen Gelüste verbunden waren, wie das Beispiel des Nationalökonomen Johann Plenge, der den Begriff der „Ideen von 1914“ geprägt hat, zeigt (S. 385-394). Wie viele andere bemühte er sich um eine zukunftsweisende Verbindung von Sozialismus und Nationalismus, eine in Europa verbreitete Idee. Der britische Idealismus, vertreten etwa durch John Henry Muirhead und Bernard Bosanquet, geriet hingegen mit Ausbruch des Krieges in Erklärungsnot. Bewunderer Hegels oder Kants sahen sich zur Modifizierung ihrer Positionen genötigt, was aber keineswegs das Ende des Idealismus in Großbritannien bedeutete. Vielmehr wurde die schon vor dem Krieg präsente „Zwei-Deutschland-Theorie“ philosophiegeschichtlich ausgeweitet, wonach man zwischen einer „positiv konnotierten deutschen Kultur und einem verderblichen preußischen Militarismusdiskurs unterschied“ (S. 131). Auch bei Vertretern des philosophischen Liberalismus, wie etwa Joseph McCabe oder Leonard Trelawny Hobhouse, war das Feindbild „eines militaristischen, von Preußen dominierten Deutschlands“ verbreitet (S. 177). Die vermeintlichen Vordenker Nietzsche und Hegel gerieten ins Zwielicht, besonders verdammt wurden jedoch Heinrich von Treitschke und Friedrich von Bernhardi. Die Bedeutung des vielgestaltigen Zwanges zu nationaler Homogenität erlebte der germanophile Politiker und Philosoph Richard Burdon Haldane, der 1915 zur Demission gezwungen wurde (S. 562-566). Wie Haldane und Arthur James Balfour auf britischer Seite, gewannen Georg Graf von Hertling und der bislang kaum erforschte Ludwig Stein (S. 562-577) in begrenztem Umfang auch politischen Einfluss, wobei die Entwicklung der Kriegspublizistik Steins zeigt, welche erstaunliche Wandlungen im Laufe der Zeit festzustellen sind. 1

Nur wenige Philosophen verweigerten sich der Logik des Krieges, wie Bertrand Russell (S. 179-190), der sich für Kriegsdienstverweigerer engagierte und unter Repressionen zu leiden hatte. Die Schrecken des Krieges, der zunächst als innereuropäischer Kulturkampf, dann häufig als Selbstzerstörung der europäischen Kultur gewertet wurde - auf deutscher Seite sind etwa die komplexen Philosophien Ernst Troeltsch’ (S. 262-275) und Max Schelers (S. 248-262) zu nennen -, ließ aber die Philosophen nicht unberührt. Im Laufe des Krieges konnte sich die sachlichere Analyse bei der Mehrzahl der Experten durchsetzen, wenngleich deren Rezeption – im und nach dem Krieg, nach außen und innen – hinter spektakuläre und propagandistisch verbreitete Thesen zurücktrat. Gab sich die Mehrzahl der britischen Philosophen zunächst unversöhnlich, ist in Deutschland gegen Kriegsende eine Annäherung zwischen idealistischen und liberalen Positionen festzustellen. Schließlich wurden die Konzepte zur Einrichtung einer internationalen Friedensordnung von der Mehrzahl begrüßt (S. 479-561).

Unterschiedliche, oft nahezu gegensätzliche Theorien existierten und konkurrierten in beiden Ländern, und es gab keine nationale Homogenität, sondern nur ein einigendes Band: die - bei aller Kritik - Unterstützung der Kriegsanstrengungen der Nation. Hoeres bemerkenswertes Fazit lautet, dass von „einer grundlegenden nationalen Differenz“ der beiden Weltkriegsphilosophien keine Rede sein könne, die feststellbaren Unterschiede seien letztlich marginal und werden als „Nebenthesen“ bezeichnet (S. 580f.). Der „ideengeschichtlichen Vergleich“ zwischen Deutschland und Großbritannien widerlege zudem die Sonderwegstheorie: „Nicht ein Sonderweg, nicht spezifisch nationale Philosophien sind im Ersten Weltkrieg auszumachen, sondern ein nationsübergreifendes Ringen um die Antwort auf die sozialen und politischen Fragen der Moderne.“ (S. 579) Verbunden mit anderen Ergebnissen der Studie bietet sich hier Stoff zum Nachdenken. Die deutschen Reaktionen auf den Vorwurf der Barbarei zeigen nämlich, dass die „verspätete Nation“ – ganz anders als Großbritannien, wo sich die philosophischen Diskurse mit Fragen der nationalen Identität höchstens „unterschwellig“ beschäftigten - über kein in sich ruhendes Selbstgefühl verfügte, das auf der Ebene der Deutungskultur erst konstituiert werden musste.

Dieses Defizit mündete – oft ausgeprägter als in Großbritannien - in einen universalisierten Sendungsglauben, und somit könnte man zu der Ansicht gelangen, dass der späten Nationsbildung und der rasanten Entwicklung des Deutschen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus Bedeutung für die ideengeschichtliche Entwicklung zukommt. Wie wichtig die Weltkriegsphilosophie zudem für das ganze 20. Jahrhundert war, liegt auf der Hand: Im Zweiten Weltkrieg wurde neuerlich auf die Theorien zur „deutschen Barbarei“ zurückgegriffen, und die „verfälschende Sicht“ Hegels sei „aufgrund des Welterfolges von Karl Poppers ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde’ bis heute auch in der deutschen Forschungslandschaft spürbar“ (S. 586). Die Studie liest man aber auch deshalb mit wachsendem Interesse und Gewinn, weil sie Parallelen und bis heute wiederkehrende „philosophische Legitimationsmuster für den Krieg“ vor Augen führt, denn „zwischen dem universalisierten Kulturnationalismus der Weltkriegsphilosophie und dem universalisierten Verfassungspatriotismus der Gegenwart bestehen deutliche Analogien“ (S. 588).

Anmerkung:
1 Vgl. Hoeres, Peter, Dum-Dum-Geschosse aus Tinte. Der politische Publizist Ludwig Stein und der Erste Weltkrieg, in: Arbeitskreis Militärgeschichte e.V., Newsletter 23,2 (2004), S. 25-28.

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