Titel
Abdulhamid II. Le sultan calife


Autor(en)
Georgeon, François
Erschienen
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Hartmann, Institut für Islamwissenschaft, Freie Universität Berlin

Abdülhamid II. (1876-1909) ist eine der umstrittensten Herrscherpersönlichkeiten der osmanischen Geschichte. Von vielen seiner Zeitgenossen wurde er heftig angegriffen. In Europa und Amerika dominierte nach den Armeniermassakern der Jahre 1894-96 das Bild des „Roten Sultans“. Seine osmanischen Kritiker sahen in ihm den Despoten, der nicht nur eine beispiellose Machtfülle in seinen Händen konzentrierte, sondern auch – chronisch misstrauisch – mit Hilfe einer strikten Zensur und eines gewaltigen Apparats an Polizei und Spitzeln jegliches intellektuelle Leben im Reich erstickte. Die kemalistische Geschichtsschreibung schließlich zeichnete die Ära Abdülhamids als Zeit der Finsternis und Rückständigkeit. Die moderne Türkei sollte diese schließlich überwinden, indem sie sich explizit von dieser Tradition absetzte. Dementsprechend gehörten Abdülhamid II. und seine Zeit lange nicht zu den bevorzugten Gegenständen der Historiker, weder in der Türkei noch außerhalb.

Erst in den 1980er-Jahren ist in der Türkei eine neue Diskussion um die Figur Abdülhamids aufgekommen, die weniger von Historikern als vielmehr von Publizisten getragen wurde.1 An der Interpretation der Herrschaft Abdülhamids entzündete sich nun die Debatte um die alte Frage nach dem richtigen Weg von Reformen: Modernisierung nach westlichem Muster oder durch Besinnung auf die eigene Tradition? In dieser Diskussion erschien Abdülhamid als letzter islamischer Herrscher, gerecht in seinem Bestreben, sein Reich sowohl als modernen Staat als auch als islamische Großmacht zu gestalten. Das neue Interesse an diesem Sultan-Kalifen fiel in etwa in die Zeit, in der allmählich auch das osmanische Staatsarchiv und insbesondere die Materialien des Yildiz-Palasts, also der Machtzentrale Abdülhamids, für die Forschung zugänglich wurden. Diese Erschließung der Quellen hat in den letzten Jahren eine Welle von neuen Studien über die letzten Jahrzehnte des Osmanischen Reiches ausgelöst.

In diesem Kontext, auf den in der Einleitung auch Bezug genommen wird, hat François Georgeon nun mit seinem Band „Abdülhamid II. Le sultan calife“ eine Biografie des letzten regierenden Sultans vorgelegt: Die erste europäischsprachige Biografie seit Jahrzehnten überhaupt und die erste, die sich neben einer Reihe von Memoiren, zeitgenössischen Zeugnissen und Quellen, die früher schon zugänglich waren, auch auf die Ergebnisse der jüngsten Forschung stützen und damit das oft polemische, im Gegenzug aber auch idealisierende und nostalgische Bild Abdülhamids und seiner Zeit modifizieren und differenzieren kann. Georgeon füllt mit seinem Buch eine Lücke. Er erfüllt auch die hohen Erwartungen, die sich an ein solches Werk richten. Ihm gelingt eine Darstellung der Persönlichkeit des Herrschers, die weder der Verteufelung noch der Faszination erliegt. Der Band ist zugleich ein gutes Handbuch, das die Ereignisse und Probleme der Epoche im Kontext nicht nur der vorangegangenen und nachfolgenden Phasen der osmanischen Geschichte, sondern auch im Vergleich zu den Nachbarländern – namentlich Russland, das ähnliche Schwierigkeiten zu bewältigen hatte und dabei auf ähnliche Lösungen zurückgriff – diskutiert und eine exzellente Analyse des hamidischen Herrschaftssystems bietet. In diesem Zusammenhang ist es nützlich, dass durchgehend die Bezeichnungen von Institutionen und Ämtern neben der französischen Umschreibung auch auf Osmanisch wiedergegeben werden und ein ausführliches Glossar sowie eine Zeittafel angehängt sind.

Den großen inneren Konflikt zu Beginn der Herrschaft, das ambivalente Verhältnis Abdülhamids II. zu Midhat Pasa, dem „Vater der Osmanischen Verfassung“, betrachtet Georgeon als personalisierte Zuspitzung der durchgehenden Konkurrenz zwischen Sultansmacht und Regierungsmacht parallel zu dem Verhältnis des jungen und unerfahrenen Kaisers Wilhelm II. zum langjährigen Kanzler Bismarck (S. 70).

So ordnet Georgeon auch das autokratische Regime Abdülhamids in einen breiteren vergleichenden Kontext ein, zunächst im Rückgriff auf die osmanische Geschichte: Eine Politik der Zentralisierung und Stärkung der Sultansmacht galt seit der klassischen Zeit des Osmanischen Reiches als Mittel gegen Krisenerscheinungen. Als Beispiel hierfür steht Mahmud II., der den Modernisierungsprozess des Osmanischen Reiches mit der Zerschlagung der Janitscharen 1826 eingeleitet hat, und der Abdülhamid II. erklärtermaßen als Vorbild galt (S. 39). So erscheint die schrittweise Verlagerung von Kompetenzen in den Palast nach der Epoche der Tanzimat, während derer die Regierungsgewalt auf die Ministerialbürokratie übergegangen war, als eine traditionelle Restauration der osmanischen Sultansmacht. Dabei hat allerdings Abdülhamid II. mit seinem System einer faktischen Parallelregierung und -verwaltung im Palast ergänzt durch Kommissionen, denen er oft selbst präsidierte, und dank moderner Techniken eine Machtfülle erreicht, die kein Sultan vor ihm je innehatte (Kap. 7). Die Autokratie mit repressiven Mitteln und die Vorstellung, das Volk sei noch nicht reif für politische Partizipation erscheinen als Phänomen des Zeitgeists, insbesondere mit Blick auf das Russische Reich Alexanders III. (S. 147). Erhellend ist aber vor allem Georgeons Verweis auf die Zeit danach: Die Autokratie Abdülhamids wurde mit einer nur kurzen Unterbrechung abgelöst durch die Diktatur des jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“, die sich für das Reich als weitaus brutaler und verheerender erweisen sollte (S. 431).

Seit der Publikation von Stanford Shaws monumentaler Geschichte des Osmanischen Reiches 2 hat es sich durchgesetzt, Abdülhamid II. nicht nur als Autokraten, sondern auch als Reformer, als konsequenten Modernisierer zu sehen. Georgeon betont den zutiefst rationalen Charakter seiner Regierung, weit entfernt vom Obskurantismus, der so oft behauptet worden ist (S. 444). Als größter Erfolg seiner Reformpolitik gilt der Ausbau des Schulwesens. Letzten Endes haben aber die Anstrengungen auf diesem Feld nicht gereicht, um den Bedarf zu decken (S. 253). Andererseits haben die zivilen und militärischen Schulen eine neue Elite hervorgebracht, jene kleine muslimische Mittelschicht, die sich durch die Restriktionen des hamidischen Systems besonders gebremst sah und deren Unzufriedenheit schließlich zum Sturz des Regimes führte.

Zwei weitere Charakteristika prägten die Herrschaft Abdülhamids II.: Sein großes diplomatisches Geschick, auf das viel von der Faszination für ihn zurückzuführen ist, und seine Betonung des Kalifats. In Bezug auf ersteres ist der Hinweis Georgeons wohltuend und angebracht, dass die Erfolge der hamidischen Diplomatie zum großen Teil auf das Interesse der europäischen Großmächte zurückzuführen sind, das Osmanische Reich zu erhalten (S. 445). Auch in Bezug auf die Kalifatspolitik kommt Georgeon zu einem nüchternen Urteil. Außenpolitisch vor allem als Drohgebärde eingesetzt ohne deren Potential zu überschätzen, hatte die Stärkung des Kalifats für Abdülhamid in erster Linie innenpolitische Bedeutung: als Mittel zur Legitimierung und Sakralisierung seiner Herrschaft und als Mittel zur Integration der sehr heterogenen Bevölkerung des Reiches unter dem Vorzeichen der islamischen Einheit (S. 196ff.). Dies allerdings zum Preis der Konfrontation mit heterodoxen muslimischen Gruppen und der Exklusion der Nicht-Muslime, die auch nach dem Verlust der Balkanprovinzen 1878 einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung darstellten, noch dazu jenen Teil, dem im osmanischen Modernisierungsprozess ein überproportional hoher Anteil zukam.

Problematisch bleibt die Qualifizierung dieser Periode als „belle époque“ bzw. „âge d’or“, die Georgeon trotz aller Einschränkungen, die er selbst vornimmt, verschiedentlich hochhält (S. 321-322; 445). Sie bezieht sich auf winzige muslimische wie nicht-muslimische Eliten in wenigen großen Städten, während gleichzeitig die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung ihre durch die Verschiebungen des Modernisierungsprozesses ausgelöste tiefe Verunsicherung trotz ihrer Stärkung durch die Politik des Kalifats nicht überwinden konnte, soziale Spannungen eher zu- als abgenommen haben und viele Provinzen sich mit einem so hohen Grad an alltäglicher Gewalt und Not abfinden mussten, wie sie zuletzt Jahrhunderte vorher während der Celali-Revolten geherrscht hatten. Von den Armeniermassakern der Jahre 1894-96 (S. 285-295) ganz zu schweigen.

Anmerkungen:
1 Hierzu ausführlich: Kleinert, Claudia, Die Revision der Historiografie des Osmanischen Reiches am Beispiel von Abdülhamid II. Das späte Osmanische Reich im Urteil türkischer Autoren der Gegenwart (1930-1990), Berlin 1995.
2 Shaw, Stanford J. Kural, Ezel, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. 2, Cambridge 1977.

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