O. Kulka u.a. (Hgg.): Juden in NS-Stimmungsberichten

Titel
Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945.


Herausgeber
Kulka, Otto D.; Jäckel, Eberhard
Reihe
Schriften des Bundesarchivs
Erschienen
Düsseldorf 2004: Droste Verlag
Anzahl Seiten
894 S.
Preis
€ 74,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernward Dörner, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin Email: bernward.doerner@arcor.de

Die vorliegende Quellenedition dokumentiert grundsätzlich alle Passagen zur Lage der jüdischen Minderheit aus den noch erhaltenen geheimen Stimmungs- und Lageberichten von NS-Organisationen im Deutschen Reich (in den Grenzen von 1937) in den Jahren 1933 bis 1945. Das von Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel herausgegebene und insbesondere vom Bundesarchiv intensiv begleitete Werk ist Resultat einer immensen Forschungsleistung. Nur auf der Basis von jahrelangen, fast flächendeckenden Recherchen konnten 752 Dokumente bzw. Dokumentauszüge für den fast 900 Seiten umfassenden Band aus über 50 in- und ausländischen Archiven zusammengetragen werden. Die dem Buch angefügte CD-ROM, auf der der Gesamtertrag der Recherchen präsentiert wird, umfasst sogar 3.744 Dokumente. Auf diese Weise werden die zwar noch erhaltenen, doch sehr verstreut liegenden Quellen in ihrer ganzen Breite der Forschung - und der zeitgeschichtlich interessierten Öffentlichkeit - in vorbildlicher Weise zugänglich gemacht. Diese Edition ist zweifellos von herausragender Bedeutung für die künftige Forschung zur jüdischen Geschichte und zur Judenverfolgung und zum Judenmord in Deutschland.

Die geheimen Stimmungsberichte sind von Verwaltungs- und Justizbehörden, Polizei, SD und Gestapo sowie von Seiten der NSDAP und ihren Gliederungen erstellt worden. Von Kommunalbehörden bis zu Reichsministerien sind alle Berichtsebenen vertreten, dies zeigt schon der Blick in die Liste der edierten Dokumente (S. 28-43). Im Zentrum des Buches steht die Dokumentation der Lageberichte, deren erster vom 11. März 1933 und deren letzter vom 31. März 1945 datiert. Es folgen zahlreiche bislang unveröffentlichte Abbildungen von Dokumenten, zeitgenössischen Schriftstücken, Organigrammen, Zeichnungen und Fotografien zum jüdischen Leben sowie zu dessen Verfolgung und Vernichtung in der NS-Zeit (S. 548-585). Eine sehr umfangreiche Zeittafel hilft dem Leser die Dokumente geschichtlich einzuordnen (S. 586-651). Ein „Historisches Glossar“, das von A wie „Aber, Felix“ bis Z wie „Zwangsarbeit“ reicht, erklärt Termini, die für das Verständnis der Quellenauszüge nützlich sind (S. 652-783). Die Bedeutung von religiösen Begriffen, jüdischen Vereinigungen, Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes und der biografische Hintergrund relevanter Persönlichkeiten werden so einem breiteren Leserkreis verständlich und kompetent nahe gebracht. Das Literaturverzeichnis des Buchs gibt einen profunden Überblick über die relevanten Veröffentlichungen (S. 793-847). Es wird ergänzt durch eine Bibliografie zur Orts- und Regionalgeschichte der Juden in Deutschland unter dem nationalsozialistischen Regime auf der CD-ROM, die dem schon für sich genommen voluminösen Band beigelegt ist.

Dass die vorliegenden Lage- und Stimmungsberichte einer aufmerksamen quellenkritischen Prüfung bedürfen, liegt angesichts der Stellung und der Intentionen ihrer Verfasser auf der Hand. Dennoch ist den geheimen Lageberichten ein erheblicher Quellenwert beizumessen. Was öffentlich nicht mehr gesagt werden durfte, konnte vertraulich oder geheim eher ausgesprochen werden. Zudem legten die vorgesetzten Behörden, Amtsträger und Funktionäre tatsächlich oft Wert darauf, ein möglichst realistisches Bild von der Lage zu erhalten. Sie benötigten diese Informationen, um in dem öffentlich ‚gleichgeschalteten’ Gesellschaftssystem einschätzen zu können, welche Maßnahmen sie der Bevölkerung zu welchem Zeitpunkt zumuten konnten. Schließlich ermöglicht der kritische Vergleich der Aussagen der verschiedenen – nicht selten ziemlich subjektiv gefärbten – Berichte, typische Merkmale zu erkennen, die die Stimmung der Bevölkerung zu den jeweiligen Berichtszeitpunkten kennzeichneten. Aus all diesen Gründen ist die Aussagekraft der geheimen Stimmungs- und Lageberichte alles andere als gering einzuschätzen. Die Quellen verschweigen zwar viel, doch verraten sie auch nolens volens einiges (Schließlich konnte selbst die nach außen gewandte ‚Lingua Tertii Imperii’, so zeigen schon Victor Klemperers Aufzeichnungen, die Wirklichkeit nicht perfekt verschleiern).1 Das zeigt sich auch beispielhaft bei der Frage, was die nichtjüdische Bevölkerung von der Ermordung der Juden wusste und wie sie mit diesen brisanten Informationen umging.

Zahlreiche Quellen der Edition verweisen darauf, dass Informationen über den Holocaust schon bald durchzusickern begannen. Wie Wehrmachtsangehörige und Schutzpolizisten mit dem Judenmord ‚im Osten’ konfrontiert wurden, zeigt z.B. das Dokument 557 des Buches. In einem „Reisebericht“ des OKW Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts über einen Besuch im Abschnitt der Heeresgruppe Mitte vom 21. Juli 1941 heißt es: „Nach Meldung von Major Franz wurden in Bialystok kürzlich 2.600 Juden erschossen. Er fuhr durch eine Straße, die von der Polizei abgesperrt war und fragte einen der deutschen Schutzpolizisten: ‚Werden hier Juden abgeschoben?’ ‚Nein’, sagte dieser, ‚aber abgeschossen.“ (S. 451)

In einem weiteren Bericht derselben OKW-Stelle vom 11. August 1941 (Dokument 563) wird – schon bevor das erste nationalsozialistische Vernichtungslager Chelmno eingerichtet war und auch die Gaswagen in der Sowjetunion zur Ermordung der Juden eingesetzt wurden - über Gerüchte von beabsichtigten „Vergasungen“ von „jüdischen Frauen“ berichtet. Es heißt hier: „Die Judenfrage wird in Riga noch kaum irgendwie angefasst. Die Juden tragen einen gelben Stern zur Kennzeichnung und werden zu Aufräumungs- und Straßenarbeiten u.s.w. eingesetzt. In Libau dagegen sind schon mehrere tausend Juden ‚liquidiert’ worden, teils durch die deutschen Behörden, zum großen Teil aber auch durch die Letten, von denen den Juden vorgeworfen wird, daß sie während der Russenzeit auf Kosten der Letten mit den Bolschewisten paktiert haben. Jüdische Frauen wurden bisher nicht erschossen. Man sprach davon, daß sie später durch Vergasung beseitigt werden sollen.“ (S. 454)

Zahlreiche Dokumente, insbesondere aus dem Jahr 1943, belegen, dass später, im Zuge der Verschlechterung der deutschen Siegesaussichten, die deutsche Bevölkerung in allen Regionen zunehmend von Angst vor Vergeltung für die Verbrechen erfasst wurde. Dies verweist darauf, wie sehr der Judenmord für die Deutschen – auch wenn die meisten nicht die genauen Umstände und das volle Ausmaß des Genozids kennen konnten – schon lange vor Kriegsende zu einer quälenden Tatsache geworden war. So heißt es z.B. im Stimmungsbericht des Regierungspräsidenten von Schwaben vom 10. Juni 1943 (Dok. 686, S. 522): „Der Schock von Stalingrad ist immer noch nicht ganz abgeklungen; es besteht in manchen Kreisen die Befürchtung, daß die dort von Russen gemachten Gefangenen in Vergeltung für angebliche Massenerschießungen von Juden durch Deutsche im Osten getötet werden könnten.“ Diese Angst der Deutschen vor Konsequenzen hat das NS-Regime durch eine Angstpropaganda für den totalen Krieg (besonders prägnant durch die Instrumentalisierung der NKWD-Morde von Katyn ab April 1943) für die Fortsetzung des Krieges, fatalerweise ziemlich erfolgreich, zu nutzen vermocht.

Die Quellenedition erfüllt in jeder Hinsicht wissenschaftliche Ansprüche (präzise Benennung der Provenienz der abgedruckten Quellen sowie der Editionskriterien; Erläuterung der Dokumente durch einen z.T. umfangreichen Anmerkungsapparat etc.). Es verdient erwähnt zu werden, dass die Bedeutung der Edition über die eines wissenschaftlichen Werkes hinausgeht. Die Breite der erfassten Quellen, die Erschließung derselben durch einen Namens-, Orts- und Sachindex und die Möglichkeit zur Volltextrecherche auf der dem Buch beigelegten CD-ROM-Gesamtausgabe bietet auch Lokal- und Regionalforschern, Schulen, Volkshochschulen und Geschichtswerkstätten hervorragende Möglichkeiten, die Lage der jüdischen Verfolgten und die Reaktionen der Bevölkerung auf die Verfolgungsmaßnahmen aus der Sicht der Überwachungsorgane zu studieren. Schon die oben zitierten drei der über dreitausend präsentierten Quellen zeigen exemplarisch, dass die Stimmungsberichte insgesamt – trotz aller Brechungen – den Weg in den Genozid in beklemmender Weise widerspiegeln. Die vorliegende Edition stellt den Leser dabei vor außerordentlich schwierige quellenkritische Probleme, was sich jedoch als produktiv erweisen wird. Denn das nun vorliegende Niveau der zugänglichen Quellen zwingt die Antisemitismus- und Holocaustforschung, noch besser zu analysieren, wie es zu dem Genozid kommen konnte.

Anmerkung:
1 Klemperer, Victor, LTI. Notizen eines Philologen, Leipzig 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension