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Titel
Begegnungen mit dem Yankee. Nordamerikanisierung und soziokultureller Wandel in Chile (1898-1990)


Autor(en)
Rinke, Stefan
Reihe
Lateinamerikanische Forschungen 32
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
633 S.
Preis
€ 68,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Hensel, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Geschichte der Beziehungen zwischen Lateinamerika und den Vereinigten Staaten wurde lange als ein Verhältnis von Unterordnung und Dominanz dargestellt. Der „Koloss im Norden“ schien nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern als Funktion dieser beiden Ebenen auch im kulturellen Bereich das Verhältnis vollkommen zu dominieren. Demzufolge unterlag Lateinamerika im 20. Jahrhundert einer zunehmenden Nordamerikanisierung. Als Akteur in diesem Prozess galten die USA bzw. US-Amerikaner, Lateinamerikaner hingegen bildeten eine passive Masse, die lediglich US-amerikanische kulturelle Produkte und damit zusammen auch Kulturtechniken übernahmen. Diese Sichtweise erfährt in jüngster Zeit von verschiedenen Seiten Kritik. Konzepte wie Hybridisierung, Kontaktzonen oder auch Kulturtransfer bieten alternative Deutungen internationaler Beziehungen an.1 Ihnen ist gemeinsam, dass sie den möglichen Einfluss eines Landes auf ein anderes und damit zusammenhängende Fragen der kollektiven Identität als komplexen Prozess betrachten, in dem Akteure auf beiden Seiten handeln.

Einflüsse von außen müssen aufgegriffen werden, um überhaupt Wirkungsmacht zu entfalten. In diesem Prozess werden sie aber gleichzeitig umgeformt und in den eigenen Bedeutungszusammenhang eingepasst. Außerdem, und dies ist gerade für die Internationale Geschichte zentral, verweisen die neuen Konzepte auf zwei weitere wesentliche Aspekte: Erstens können internationale Beziehungen nicht allein auf der politischen oder wirtschaftlichen Ebene erklärt werden. Der jeweilige Kontakt ist immer auch durch eine kulturelle Dimension geprägt. Und zweitens wird deutlich, dass verschiedene Akteure auf unterschiedlichen Ebenen Teil der internationalen Beziehungen sind.2 Nicht mehr „die USA“ stehen „Lateinamerika“ gegenüber, sondern das Spektrum der Akteure reicht von Regierungen und Diplomaten über Unternehmer, Arbeiter und Konsumenten zu Reisenden, Intellektuellen, Wissenschaftlern, Lesern sowie Touristen oder Migranten. Der Abschied von einer dichotomischen Sichtweise der Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika soll jedoch nicht das Bild einer machtfreien oder gleichberechtigten Beziehung vermitteln. Vielmehr geht es um die Konstruktion von Hegemonie und die Erkenntnis, dass Machtkonstellationen ständigen Aushandlungsprozessen unterworfen sind.

Diesen Ansätzen ist die Studie des frisch von der Katholischen Universität Eichstätt an die Berliner FU berufenen Historikers Stefan Rinke über die „Nordamerikanisierung“ Chiles verpflichtet. Rinke konzentriert sich auf die chilenische Seite des US-amerikanischen kulturellen Einflusses. Er fragt danach, wie Chilenen die USA sahen, welche Bedeutung sie ihnen beimaßen und inwieweit dies Einfluss auf chilenische Entwicklungen nahm. „Nordamerikanisierung“ wird hier vor allem bezogen auf die Wahrnehmung und Deutung von Entwicklungen sowie Eigenschaften, die Chilenen als US-amerikanisch ansahen und inwieweit diese Sichtweisen handlungsleitend wirkten. Innerhalb des 20. Jahrhunderts legt Rinke den Schwerpunkt auf die ersten drei Jahrzehnte, die er als transnationale Phase bezeichnet sowie auf die Jahre von 1970-1989, die als Phase der neuen Globalisierung figurieren.

Die transnationale Phase war gekennzeichnet durch eine zunehmende Präsenz der USA im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben Chiles. Einen Einschnitt stellte besonders der Erste Weltkrieg dar, in dessen Folge die europäischen Investitionen in Chile stark zurück gingen und die USA zum größten Investor aufstiegen. Diese wachsende Bedeutung auf ökonomischem Gebiet war flankiert durch einen zunehmenden politischen Einfluss der USA. Diese Rahmenbedingungen trugen dazu bei, dass die USA den Chilenen verstärkt als Inbegriff der Moderne galten. Rinke untersucht Kanäle sowie Formen direkter und indirekter Begegnungen von Chilenen und US-Amerikanern. Reisen gehören ebenso zu den unmittelbaren Kontakten wie die Bergbauenklaven US-amerikanischer Unternehmen im Norden Chiles, in denen die Manager mit der Arbeiterschaft direkt in Kontakt kamen. Wichtiger sind Rinke jedoch die Wahrnehmungen und Deutungen von Chilenen in Bezug auf die zunehmend im Land erhältlichen US-amerikanischen Produkte, US-amerikanische kulturelle Ausdrucksformen wie Musik und Tanz, Film, Werbung, moderne Architektur oder auch Sport. Die Frage, wie Chilenen die USA und US-Amerikaner sahen, untersucht er vor allem anhand von Zeitungsberichten und -kommentaren. Aus der Analyse wird deutlich, dass die Vereinigten Staaten zwar zunehmend als Land der Zukunft wahrgenommen wurden, die Beurteilung dieser Entwicklung allerdings keineswegs einheitlich war. Während es begeisterte Anhänger der als durchgehend modern empfundenen US-Gesellschaft mit ihren technischen Neuerungen, ihrer Produktivität, ihrer Vitalität und auch ihrem Pragmatismus gab, erhoben andere eher warnend ihre Stimmen, befürchteten einen Verfall der Moral und kritisierten die Arroganz der „Yankees“. Zumindest die positiven Bilder wirkten handlungsleitend, indem sie Nachahmungen auf chilenischer Seite etwa in der städtischen Architektur generierten. Die negative Sichtweise der Vereinigten Staaten sollte während der Weltwirtschaftskrise an Gewicht erlangen. Jetzt wurde der US-amerikanische Weg in die Moderne vor allem als Irrweg gesehen, und es galt, für Chile eine Alternative zu suchen.

In der Phase der Globalisierung wirkten viele der zu Beginn des Jahrhunderts ausgeprägten Vorstellungen und Stereotype über die USA und den „Yankee“ weiter, zum Teil jedoch in abgewandelter Form. Es gab allerdings auch einige Unterschiede gegenüber der transnationalen Phase. Zunächst kam es zu einer Verdichtung der Kontakte und Begegnungen zwischen den USA und Chile. Dazu trugen politische und wirtschaftliche Prozesse bei, wie z.B. Wirtschaftshilfen oder auch die Entsendung von Entwicklungshelfern. Wichtig waren darüber hinaus vor allem der Aufstieg neuer Massenkommunikationsmittel sowie die Verkürzung und Verbilligung des Reisens. Rinke sieht in dem Aufstieg der Populärkultur eine Auflösung nationaler Grenzen. Auf diesen Prozess reagierten sowohl die sozialistische Regierung unter Salvador Allende als auch das Militärregime während der Diktatur Augusto Pinochets mit einer Betonung der nationalen Identität. Den Antiimperialismus, der seit den 1920er-Jahren in Chile ein wichtiges Element der US-kritischer Einstellungen bildete, nutzten Linke wie Rechte, wenn auch mit unterschiedlicher Stoßrichtung. Diese Übereinstimmungen über diametral entgegen gesetzte Gesellschaftskonzepte hinweg führt Rinke nicht nur auf die Wirkungsmacht der tradierten Bilder über die USA zurück, er führt darüber hinaus das Kulturverständnis an, dass in Chile in jenen Jahren vorherrschte. Demzufolge gab es eine authentische chilenische Kultur als festes Ensemble von Eigenschaften und Verhaltensweisen, in das die fremde Massenkultur eindrang.

Rinke hat eine umfassende Studie vorgelegt, die Standards für weitere Untersuchungen setzt. Die zeitliche Ausdehnung und der Versuch, möglichst viele Ebenen der Begegnung in den Blick zu nehmen haben allerdings auch einen Preis. Sie zwingt Rinke einerseits, sich vor allem auf Zeitungen und Zeitschriften als Quellenkorpus zu stützen. Damit bleibt die Darstellung von Wahrnehmung und Deutung der USA weitgehend auf die Mittel- und Oberschicht beschränkt. Andererseits kann er in seiner Analyse der einzelnen Kontaktzonen nicht der Frage nachgehen, inwieweit es zu einem kulturellen Transfer oder zu Hybridisierungen kam, inwieweit also beispielsweise US-amerikanische Produkte in Chile in einem anderen Kontext standen und dadurch eine neue Bedeutung erhielten. In Bezug auf nationale chilenische Identitätskonstruktionen wäre es zudem interessant, der Frage nachzugehen, ob Importe aus den USA in einen als genuin chilenisch angesehenen Kontext inkorporiert wurden, wie dies beispielsweise mit Baseball auf Kuba in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschah. Angesichts der wenigen kulturgeschichtlichen Studien zur Nordamerikanisierung Chiles ist es jedoch ein Verdienst Rinkes, hier Schneisen geschlagen zu haben, die es nachfolgenden HistorikerInnen erlauben, neue Fragen zu formulieren. Der exzellente und gut geschriebene Überblick ist als Einstieg in die Geschichte internationaler Beziehungen zwischen Chile und den USA ebenso lesenswert wie für Spezialistinnen.

Anmerkungen:
1 Pratt, Mary Louise, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992; Canclini, Nestor García, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, Mexiko 1990; Burke, Peter, Kultureller Austausch, Frankfurt am Main 2000; vgl. auch einige der Beiträge in: Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini (Hgg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002.
2 Vgl. Joseph, Gilbert M., Close Encounters. Towards a New Cultural History of U.S.-Latin American Relations, in: Ders.; LeGrand, Catherine C.; Salvatore, Ricardo (Hgg.), Close Encounters of Empire. Writing the Cultural History of U.S.-Latin American Relations, Durham 1998, S. 3-46.

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